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Karl Philipp Moritz' "psychologischer Roman" Anton Reiser, 1785-90 in vier Teilen erschienen, ist eines der interessantesten menschlichen Dokumente aus dem 18. Jahrhundert - Autobiographie und Roman, kulturgeschichtliches Zeugnis und psychologische Studie, persönlichstes Bekenntnis und lehrhafter Traktat zugleich, in seiner geistes- und sozialgeschichtlichen Bedeutung vergleichbar nur den Rousseauschen Confessions .

Produktbeschreibung
Karl Philipp Moritz' "psychologischer Roman" Anton Reiser, 1785-90 in vier Teilen erschienen, ist eines der interessantesten menschlichen Dokumente aus dem 18. Jahrhundert - Autobiographie und Roman, kulturgeschichtliches Zeugnis und psychologische Studie, persönlichstes Bekenntnis und lehrhafter Traktat zugleich, in seiner geistes- und sozialgeschichtlichen Bedeutung vergleichbar nur den Rousseauschen Confessions.
Autorenporträt
Moritz, Karl PhKarl Philipp Moritz (15.9.1756 Hameln - 26.6.1793 Berlin) wuchs in einem religiös-restriktiven Elternhaus auf. Seit 1778 unterrichtete er am renommierten Gymnasium zum Grauen Kloster in Berlin. Mit Goethe hielt er sich 1786-88 in Italien auf, wo er seine Ideen zur Eigengesetzlichkeit (Autonomie) der Kunst entwickelte, die auf Goethe und die Weimarer Klassik großen Einfluss ausübten. 1789 wurde er Professor an der Berliner Akademie der Künste. In seiner Zeitschrift für »Erfahrungsseelenkunde« widmete er sich psychologischen Fragen, die Eingang in seinen bedeutenden »psychologischen Roman« Anton Reiser fanden, der seine eigene, von hoher Begabung, aber tiefem persönlichen Unglück geprägte Bildungsgeschichte negativ beschreibt.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.02.1998

1788
Karl Philipp Moritz "Anton Reiser"

Wir sind ihm schon begegnet, er war der Entdecker Jean Pauls (er wird es sein: wir gehn hier ja diesen Krebsgang, rückwärts); jetzt hat er, ein bißchen vergleichbar fast dem armen Manne aus dem Tockenburg, drei Bände lang schon die immer noch unabgeschlossene Lebensgeschichte eines sehr armen jungen Mannes aus dem Niedersächsischen geschrieben, auch sie, wie Bräkers Geschichte, ganz autobiographisch, aber mit einem genaueren, gebildeterem Drang zur Literatur, sichtbar schon am Untertitel: "Ein psychologischer Roman". Karl Philipp Moritz, Sohn eines armen Militärmusikers, hatte eine Hutmacherlehre gemacht, dann Theologie studiert, dann war er Lehrer geworden - ein lausiges Dasein das alles seinerzeit und doch ein beinahe gewöhnlicher, aber eben entsetzlich mühseliger Weg ans Licht (und selbst den kennen wir ja nur von denen, die ihn endlich geschafft haben). Alle die Jahre hindurch, gut zu wissen für uns hier, war er, wie sein Held Anton, ein fast exaltiert begeisterter Romanleser gewesen - Fluchten vielleicht aus einer schlechten Realität, sicher sogar Fluchten: Aber was sagt das schon? Was soll so einer denn tun außer fliehn? Und muß man nicht unter den Fluchten auch unterscheiden, wohin? Ab 1783 gab er die erste große Zeitschrift einer aufgeklärten, ideologielosen Psychologie heraus, das "Magazin zur Erfahrungsseelenkunde" - noch heute lesenswert, denn die meisten wollen immer noch glauben, was nicht ist. Dann kamen die ersten Bände der großen, nur wenig verschlüsselten Autobiographie. Jetzt, 1788, etabliert sozusagen, ein bekannter Mann, ist er eben noch in Italien, in Rom, seit 1786, wie Goethe auch, die beiden verkehren miteinander, sie kennen sich gut, sind befreundet, eng beinahe, seit Moritz, als sie einmal einen Ausritt machen wollten (müssen aber auch die Armen aus dem Niedersächsischen Ausritte machen wollen?), vom Pferd fiel und Goethe ihn rührend betuttelte und betüterte - wahrscheinlich war dies der Grund, warum jener vom Pferde gefallen war, denn wer kennt schon die Seele, nämlich die eigne? Anfang Oktober 1788 verließ er Rom. Goethe war Ende April abgereist, und blieb dann noch zwei Monate bei diesem in Weimar. 1789 wurde er Professor in Berlin, später auch Hofrat und schrieb den vierten Teil des Anton Reiser, worin dieser schließlich zu Fuß von Erfurt nach Leipzig läuft, er will Schauspieler werden. (Karl Philipp Moritz: "Anton Reiser. Ein psychologischer Roman". Mit einem Nachwort von Benedikt Erenz und - sehr gründlichen - Anmerkungen von Kirsten Erwentraut. Artemis und Winkler, Düsseldorf und Zürich 1996. Mit den beiden Andreas-Hartknopf-Romanen. 1024 S., geb., 88,- DM.) R.V.

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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 02.02.2002

Schwärmer in dunkler Glaubenswüste
Die Briefe von Johann Friedrich von Fleischmann, dem Lehrherrn Karl Philipp Moritz’, gefunden und zum ersten Mal veröffentlicht
Wer im Jahre 1765 durch das Fenster eines großen Gutshauses bei Pyrmont spähte, erschrak vor einer skurrilen Gesellschaft: ein Greis und etliche Domestiken hatten die Köpfe auf den Tisch gelegt. Stumm warteten sie mit geschlossenen Augen auf die Stimme Gottes im eigenen Inneren. Man wollte alle Individualität von sich abstreifen und in das Nichts eingehen. Der Greis hieß Johann Friedrich von Fleischbein (1700 bis 1774) und war das Haupt einer Schar von Quietisten, einer religiösen Gruppierung, die sich auf die französische Mystikerin Madame Guyon (1648 bis 1717) berief. Am Fenster stand Karl Philipp Moritz (1756 bis 1793), der mit dieser Beobachtung seinen berühmten autobiographischen Roman „Anton Reiser” (1785 bis 1790) einleitete. Aus dem öden Haus der Quietisten ist bis heute kaum Neues bekannt geworden; die geheimbündlerische Verschwiegenheit der Schwärmer sorgte für die fehlende Öffentlichkeit. Moritz’ Roman blieb die wichtigste Quelle für das Leben einer schon für die Zeitgenossen seltsamen Sekte.
Nun erlaubt ein bisher unbeachtet gebliebener Nachlass neue Einblicke in das Leben der Quietisten. Die Kantonal- und Universitätsbibliothek Lausanne bewahrt einen riesigen Fundus der Korrespondenzen Fleischbeins auf. Die Briefe machen das Beziehungsnetz dieser kirchenhistorisch unerforschten Gruppierung sichtbar. In Wuppertal hat man den Bestand für eine Edition zur Geschichte des Radikalpietismus im Sieger- und Wittgensteiner Land 1734 bis 1742 ausgewertet. Für die Kritische Moritz-Gesamtausgabe in Berlin war der Nachlass eine Fundgrube für den nun abgeschlossenen Kommentar des „Anton Reiser”. Er verdeutlicht das traumatische Umfeld, in das der spätere Berliner Aufklärer durch seinen Vater, der Fleischbein als „Seelenführer” verehrte, geriet.
Am aufregendsten für alle Moritz-Leser sind die Nachrichten über die Lehrzeit des Kindes. 1768 gab der Vater den zwölf Jahre alten Jungen zu dem gleichgesinnten Hutmacher Lobenstein nach Braunschweig in die Lehre. Moritz hat ihn im „Anton Reiser” als eine der unsympathischsten Figuren der Literatur beschrieben: ein fanatischer Frömmler, von Höllenängsten geplagt, ein erbarmungsloser Menschenfeind, der seine Gesellen rücksichtslos ausbeutete. Anton Reiser verübte in seiner Verzweiflung einen Selbstmordversuch. Zwei neuentdeckte Briefe des Lehrherrn fügen sich mit diesem Bild wie ein Mosaik zusammen. Deutlicher als die distanzierte Autobiographie offenbaren sie, wie unduldsam und lieblos Lobenstein den jungen Moritz behandelte. Der Hutmacher zieht in sehr eigenwilliger Orthographie empört über den Jungen her: „ich Muste imer in furicht Leben Das er ins waser wirde Springen aus Bosheit / er Sagte imer von Todt machen Er wolte Sich ein Leid anthun / Überhaubt ein Kind von Teuflischer gesinung / und wen ich mich aus liebe hette Vor ihn zur Erden gelegt wie ich auch öffters mit Der allerzertlichsten liebe ihn begegnet habe / aber alles Vergebens / ohne Die Mündeste rührung und bewegung ganz verstokt / ich war ihm Nur ein Spot / Ein unerzognes garsteriches Kind weliches nicht ein mahl Die Menschlichkeit aus zu üben sucht / und wen ich Seine groben Fehler worzu ich ihn lange genug mit gütte Ermahnet habe / straffen wolte / so wurde er so Vol grim und bosheit / Das er recht hölische reden über mich aus gestosen hat.”
Im Maul des Hundes
Das Kind als erschröckliches Beispiel für eine sündhafte „Eigenheit”: mit dieser Klage handelt Lobenstein als Sprachrohr seines Lehrmeisters Fleischbein. Die Frommen verstießen mit der Verteufelung des Kinds gegen ihr eigenes Lebensprogramm. Es sah vor, demütig und sanft als „Michelein” zu leben und sich in sogenannter kindlicher Einfalt wie ein „Lumpen im Maul des Hunds” zerzausen zu lassen. Der Lumpen im Hundemaul: das ist ein altes Bild für die vertrauensvolle Übergabe des Menschen an Gott.
Der Quietismus war eine religionsgeschichtliche Strömung, die Ende des 17. Jahrhunderts in den romanischen Ländern aufkam. Er pries die passive Kontemplation der Mystik als Königsweg zu Gott. Die Lehre geriet unter den Kirchenbann; der Jesuit Molinos, der einen quietistischen Führer in das innere Leben verfasste, starb in Inquisitionshaft. Madame Guyon griff die neue Lehre auf und verbreitete sie in vielen Werken weiter; mehr noch als ihre Schriften sorgten ihr exzentrisches Gebaren und ihre Prophezeihungen für Aufsehen in der von einer neuen Laienfrömmigkeit aufgerüttelten Zeit. Nach kurzer Karriere am französischen Hof geriet die Schwärmerin in ein noch heute schwer zu durchschauendes Gewirr von Kirchenpolitik und wurde eingekerkert. Der sogenannte Quietismusstreit, den sie zwischen den Kirchenfürsten Bossuet und Fénelon auslöste, wurde mit der päpstlichen Kritik dieser Anschauungen abgeschlossen und beschäftigte zeitweise ganz Europa.
Der Quietismus erreichte Deutschland durch die Vermittlung des niederrheinischen Mystikers Gerhard Tersteegen, der Kommentatoren der Berleburger Bibel und den Hugenotten Marquis de Marsay. Marsay beeinflusste Fleischbein, der unermüdlich die Lehren der französischen Mystikerin durch steifleinene Übersetzungen weiterreichte. Lobenstein gehörte zum ersten Kreis des Braunschweiger Quietistenzirkels, zu dem sich eine fromme alte Jungfer, einige Witwen, eine reiche Bäckersfamilie gesellten. Bunte Gestalten streiften diese Gemeinschaft: so ein obskurer Arzt, der einen Gesellen Lobensteins zu Tode kurierte; ein desertierter französischer Soldat und Matratzenmacher, der vergeblich versuchte, bei Lobenstein unterzukommen. Zu Fleischbeins Klientel zählten Angehörige aller Schichten; besonders aber hatte er Zulauf von Kleinbauern aus der Grafschaft Ravensberg.
Die Lehre war nicht bequem. Weil der Eigenwille nach den Anschauungen der Madame Guyon gebrochen werden muss, ist jede Demütigung ein Segen für die Seele. Fleischbein fasste dies mit seinem Lieblingsmotto „Dévorez consumez” zusammen: „fresset und verzehret”. Nichts Besseres als Demütigungen konnte der Quietist erfahren. Die Idee eines „pur amour” hatte das 18. Jahrhundert in Lager gespalten: die Vorstellung einer uneigennützigen Liebe zu Gott, die in der äußersten Konsequenz auch die liebende Annahme der eigenen Verdammnis einschloss. Von diesen Spekulationen findet sich wenig in der ausufernden Korrespondenz Fleischbeins. Für die theologischen Positionen der Zeit bietet sie aber wertvolle Informationen.
Die Briefe enthalten Ratschläge für die mystische Praxis, geben Auskunft über seine seltsamen Sakramentspraktiken, vor allem aber diagnostizieren sie langatmig den Seelenzustand seiner Anhänger und paraphrasieren seitenlang Guyonsche Aussprüche. Auf den heutigen Leser wirken sie bedrückend. Kaum einer der Guyon-Anhänger scheint der Ruhe in Gott wesentlich nahegekommen zu sein. Es ist die Rede von anstrengenden Etappen der „Beraubung” und „Verlierung”, von jahrzehntelangem Herumirren in der „dunklen Glaubenswüste”, von Askese und Selbsthass. Eine frohe Botschaft des Evangeliums kannte Fleischbein nicht; das körperliche Leben war sündhaft, und in einer fanatischen Form der Kreuzestheologie betrachtete er den Einzelnen vor allem als „Schlachtopfer Gottes”. Der junge Moritz erfuhr in Braunschweig diese Anschauungen am eigenen Leib .
Noch bedrückender muss die Verstohlenheit gewesen sein, in der sich die Guyonisten bewegten. Fleischbein versuchte die Lektüre und das Verhalten seiner Anhänger zu kontrollieren. Besonders fürchtete man die Unterwanderung durch die missionierenden Herrnhuter. Jede fremde Person bildete zunächst eine Gefährdung. Zur Operette wird das Verhalten der Frommen, wenn der Hutmacher Lobenstein von seiner heiratslustigen Haushälterin umgarnt wird. Fleischbein war ein Eiferer, der im Umgang mit anderen Meinungen meist jede Demut vermissen ließ. Keine der zahlreichen konkurrierenden Schwärmergruppen blieb von seinen harten Kommentaren verschont.
In den zwanzig Pyrmonter Jahren hat Fleischbein keinen Fuß mehr aus dem Ort gesetzt. Er lebte im „Verborgenen”, spannte aber durch ausgedehnte Korrespondenzen seine weit verstreute Quietistengemeinde zusammen, als deren Oberhaupt er beträchtliche Zeit wirkte. Der Tagesablauf war angefüllt mit Gebeten, Meditationen, „Sacrificien”, die ihn körperlich überaus beanspruchten, der Übersetzung von Madame Guyons Schriften und der Pflege seines umfangreichen Briefwechsels.
Krankheit der Seele
In dieses Wirken für das Reich Gottes mischten sich Zutaten des Aberglaubens. Das Haupt der deutschen Guyon-Nachfolger glaubte felsenfest an Verhexung und fühlte sich von der „Liebesmagie” junger Frauen bedroht. Seine Briefe kolportieren haltlose Geschichten über Geister und „Vambire”. Er verstieg sich zu solch magischem Beziehungswahn, dass ihn selbst seine Hausgenossen nicht mehr ernst nehmen konnten. Fiel er beim Rasieren, schrieb er dies einem bösen Geist zu. Haarsträubende Geschichten dieser Art konnte Moritz auch bei Lobenstein hören. Ist das nur eine Eigentümlichkeit der deutschen Quietisten, deren ärmlicheres Milieu die Anhänger des inneren Lebens vor viel größere Anforderungen stellte als die aristokratische Luft, worin sich Madame Guyon ohne Sorge um den eigenen Lebensunterhalt bewegt hatte? Wohl kaum.
Fleischbein glaubte sich wie die Guyon ständig verfolgt von Leuten, die ihren Weg vereiteln wollten. Sie äußerte sich bei ihm in phobischen Ausbrüchen, in denen er magische Emissäre für den Tod zweier Anhängerinnen verantwortlich machte oder eine begeisterte junge Schweizerin als Hexe von seinem Grundstück werfen ließ. Liest man in der Korrespondenz des Guyon- Apostels dieses Gebräu aus theologischer Spekulation, Aberglauben und Alltagsklatsch, so geraten die legitimen Motive der Radikalpietisten leicht aus dem Blick. Die Sehnsucht nach einem neuen Himmel und einer neuen Erde, ist verdeckt von sehr irdischen Anliegen des Alltags.
Ist Karl Philipp Moritz tatsächlich vom Quietismus losgekommen? In der ersten deutschen psychologischen Zeitschrift, dem „Magazin zur Erfahrungsseelenkunde”, analysierte er die Guyonsche Mystik und kam zum Schluss, sie sei eine „Krankheit der Seele”. Damit war die frühe Prägung durch den Quietismus aber nicht erledigt. Durch die Hintertür kehrte die Mystik in den Opferphantasien seines ästhetischen Gedankengebäudes „Über die bildende Nachahmung des Schönen” wieder zurück.
CHRISTOF WINGERTSZAHN
Der Autor ist Mitarbeiter der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und gibt im Rahmen der historisch-kritischen Moritz-Ausgabe den „Anton Reiser” heraus.
Der orthografisch unsichere Hutmacher Lodenstein beschreibt seinen Lehrling Moritz: „er Sagte imer von Todt machen Er wolte Sich ein Leid anthun.” Karl Franz Schumann malte 1791 Karl Philipp Moritz
Quelle:
Gleim-Haus Halberstadt
Titelkupfer der Erstausgabe des „Anton Reiser” von 1785. Quelle: Insel Verlag
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