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Berlin, 5. Februar 1966: Der Student Martin gerät in die erste Demonstration gegen den Vietnamkrieg. Hin und her gerissen zwischen Angst und Auflehnung, der Verachtung für die Bürger, die satt und zufrieden aus dem Café Kranzler glotzen, sowie seiner unerwiderten Liebe zu zwei Mädchen, sucht der stotternde und unerfahrene Pfarrerssohn aus der Provinz seinen Weg.

Produktbeschreibung
Berlin, 5. Februar 1966: Der Student Martin gerät in die erste Demonstration gegen den Vietnamkrieg. Hin und her gerissen zwischen Angst und Auflehnung, der Verachtung für die Bürger, die satt und zufrieden aus dem Café Kranzler glotzen, sowie seiner unerwiderten Liebe zu zwei Mädchen, sucht der stotternde und unerfahrene Pfarrerssohn aus der Provinz seinen Weg.
Autorenporträt
Delius, Friedrich ChristianFriedrich Christian Delius, geboren 1943 in Rom, in Hessen aufgewachsen, lebt seit 1963 in Berlin. Zuletzt erschienen der Roman «Wenn die Chinesen Rügen kaufen, dann denkt an mich» (2019) und der Erzählungsband «Die sieben Sprachen des Schweigens» (2021). Delius wurde unter anderem mit dem Fontane-Preis, dem Joseph-Breitbach-Preis und dem Georg-Büchner-Preis geehrt. Seine Werkausgabe im Rowohlt Taschenbuch Verlag umfasst derzeit achtzehn Bände.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.09.1997

Krawall, Rahel, Krawall
Die neuen deutschen Liebesromane

Wenn Politik groß, bedeutsam und erlebnissatt wird, sind die Helden der deutschen Literatur verliebt. Verliebt ist der stotternde Germanist, den Friedrich Christian Delius im Februar 1966 auf die Berliner Hardenbergstraße schickt, damit er vom Beginn der Studentenrevolte erzählen kann. Verliebt ist auch der Stadtindianer, den Michael Wildenhain durch den deutschen Herbst 1977 hetzt, weil nun das Ende der revolutionären Hoffnungen dokumentiert werden muß. So verliebt sind die beiden und so unglücklich mit ihren vielen Gefühlen, daß sie gar nicht mitbekommen, was auf der Straße passiert.

Die beiden Autoren erzählen von sich. Der eine hatte im April 1966, als er mit der "Gruppe 47" in Princeton war, ein Gedicht gegen den Krieg der Vereinigten Staaten in Vietnam in der Tasche. Er wagte nicht, es vorzulesen. Später veröffentlichte er dokumentarische Werke, mit denen er die Firmen Siemens oder Horten entlarvte. Der andere besetzte in den frühen achtziger Jahren ein leerstehendes Kreuzberger Mietshaus und bekam Literaturpreise für die Schilderungen seines Milieus. Und doch scheinen die Helden ihrer Bücher nicht zu wissen, was sie an die Fronten einer gewalttätigen Auseinandersetzung mit dem Staat verschlagen hat.

Der Berliner Student der sechziger Jahre zieht vor das Amerikahaus, träumt von der Frau, die neben ihm geht, und sieht die ersten Eier fliegen. Er erschrickt ein bißchen, denn er möchte gern unschuldig sein, aber wenn man zu weit hinten steht, sieht man nicht genug. Der andere kommt bis kurz vor das Atomkraftwerk von Kalkar und weiß nicht, was tun: "Man drückte mir eine Flasche, die nach Benzin roch, in die Hand . . . Man half mir, den Stoffetzen, der aus der Flaschenöffnung ragte, anzuzünden." Wir waren dabei, sagen beide ihren Lesern, und wir wußten nicht, wie uns dort geschah. Das aber ist ihnen genug, um ein Buch daraus zu machen.

"Amerikahaus" heißt die gerade erschienene Erzählung von Friedrich Christian Delius, und der Name ist ein politisches Signal. Aber dann geht der Titel weiter: ". . . und der Tanz um die Frauen" (Rowohlt Verlag, Reinbek 1997). Tatsächlich ist der Beginn der Studentenrevolte nur ein lose übergeworfenes historisches Gewand, unter dem eine gewöhnliche "éducation sentimentale" hervorlugt: die Geschichte von einem stotternden jungen Mann, der ebenso heftig wie hoffnungslos zwei junge, stolze Frauen liebt und dann einer dritten um den Hals fällt. Natürlich versagt er hier wie dort. Am frühen Morgen geht er schließlich nach Hause, und auf der Bundesallee tanzen ihm "nur noch zwei Wörter durch den Kopf, Krawall, Rahel, Krawall, Rahel, beide Wörter betonte er auf der zweiten Silbe und paßte den Rhythmus des Sprechens dem Rhythmus des Laufens an, Krawall, Rahel, Krawall, Rahel". Das Öffentliche und das Private sind durch nichts mehr getrennt, und alle Gründe für und wider einen politischen Konflikt verschwinden im Angesicht einer psychologischen Selbstentblößung: Man war doch nur auf der Suche nach einer Frau. Oder nach mehreren Frauen.

Seit zwanzig, vielleicht sogar seit dreißig Jahren vermißt man die Romane der Bundesrepublik. Die Lektüre der jüngsten Romane von Friedrich Christian Delius und Michael Wildenhain lehrt, warum sie nicht geschrieben werden: Wann immer die Welt am Schopf ergriffen werden müßte, faßt einer sich selbst an Kopf und Herz, wann immer ein Bild wahrhaftig zu sein hätte, beruft sich einer auf Stimmung und Ausdruck. "Rot roch die Nacht, nach Farbe. Schwarz roch die Nacht, und golden stand an der Tür des Schulgebäudes ein Kürzel: R - A - F . . . Ach, Barbara, die stille Wut", schreibt Michael Wildenhain, als sei er Eugène Sue und verrate die Geheimnisse von Paris.

Und Friedrich Christian Delius läßt den Helden, "den unglücklichsten Liebhaber unter tausend Demonstranten", in seiner Einsamkeit dichten: "Der Funke in deinem Auge . . . Als deine Freunde an der Fahne rissen / als über den Bomben in Vietnam die Fahne flatterte." Die Szene ist peinlich, aber es ist keine Ironie darin, wenn die politische Geschichte durch das Nadelöhr der Liebe gefädelt wird, sondern allenfalls ein Bekenntnis zu mildernden Umständen. Delius erzählt bloß vom frühen Ungeschick, das einer Berufung zum Dichter vorausgeht.

Es ist der verständnisvolle Blick zurück auf das eigene Leben, der sich hier so unangenehm bemerkbar macht. Er muß, da mag der Held so dumm sein, wie er will, eine privilegierte Wahrnehmung beanspruchen. "Die Eier wirkten wie ein befreiender Theatereffekt", heißt es bei Delius. "Das Geschehen rückte vom Betrachter ab, es glitt aus der Wirklichkeit und entschwand auf eine Bühne . . . Als sei eine Hundertschaft von Schauspielern und Statisten aus dem Theater entwichen und führe nun ein Stück vor . . ., egal ob Weiss oder Grass oder Beckett." So redet ein abgeklärter Phantast, einer, der dem Scheitern einen adretten Sinn abgewinnen will, ein Fünfundfünfzigjähriger, der 1997 eine Theorie hat, auf die der Zwanzigjährige 1966 nie gekommen wäre. Und dennoch tut er so, als nehme sein Held, als dieser zum ersten Mal sieht, wie ein Ei fliegt und ein Polizeiknüppel geschwungen wird, die ganze Scheinhaftigkeit des Hühnereis und des Knüppels schon wahr. Man kann das auch pathetisch ausdrücken: Hier verrät einer seine Generation.

Michael Wildenhain ist fünfzehn Jahre jünger als Friedrich Christian Delius, und während dieser dem hölzernen Seminarton der dokumentarischen Literatur nie entkommen ist, hat jener den fetten Stil vergangener Epochen für sich entdeckt. Aber das ist Fassade. Auch in seinem Buch kehrt die Parallelität von politischem Ereignis und Weibergeschichte wieder, bis hin zum Titel des Werkes. "Erste Liebe, deutscher Herbst" (Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1997) heißt der Roman des Jüngeren. Damit enden die Parallelen nicht. Auch Wildenhain erzählt vom Erwachsenwerden, auch hier steht ein junger Mann zwischen zwei allegorischen Frauengestalten - zwischen Barbara, dem radikalen Leben, das auf nichts Rücksicht nimmt, am wenigsten auf sich selbst, und Manon, der überlegenen Denkerin, die lauter Entschuldigungen kennt, und die besten gelten dem eigenen Wohlergehen.

Auch hier ist die Politik nur die Szene, auf der ganz andere Stücke aufgeführt werden. Da gibt es zwar ein Ereignis der Zeitgeschichte, eines, das große Schlagzeilen gemacht hat, eine Stunde der historischen Entscheidung. Aber mitten in den Staubwolken des Gerangels mit der Polizei macht der Held sein Verhalten nicht von politischen Urteilen abhängig. Er lebt in der Torheit des Herzens. Und vielleicht ist daran in diesem Fall etwas Wahres: Die Studentenrevolte endete im Spontaneismus der Basisgruppen und Hausbesetzer, mit jungen Leuten, die den Widerstand als Lebensform entdeckt zu haben glaubten und den Protest für eine Bereicherung ihrer Subjektivität hielten. Offenbar hat dieser Spontaneismus in der Literatur einen Hort gefunden, von dem aus er doppelte Rache nehmen kann: am politischen Denken wie an der Literatur.

Die politische Geschichte fällt dieser Eitelkeit zum Opfer. Dort, wo das einzelne Erleben für ihre Beschreibung nicht mehr ausreicht, wo man genauer hinzuschauen hätte, wo viele Stimmen zu Wort kommen müßten, um auch nur annähernd ein Bild der Wirklichkeit zu geben, tritt die Öffentlichkeit nur mit Phrasen auf. Die Schlagzeile aus der Zeitung ersetzt die Darstellung des Politischen. "Martin hatte das Kranzler nie betreten", erzählt Friedrich Christian Delius, "es genügte die Assoziation Kranzler-Kanzler-Erhard-Zufriedenheit-vollgefressen-Maßhalten, ihm genügten gelegentliche Blicke durch die Fenster. Man müßte ihnen die fettigen Torten an die Köpfe werfen." Michael Wildenhain zitiert gleich aus der Zeitung, aus dem Brief der RAF: "Herr Schmidt, der in seinem Machtkalkül von Anfang an mit Schleyers Tod spekulierte, kann ihn in Mühlhausen in einem grünen Audi abholen." Und der Erzähler fährt fort: "Hätte ich Barbara und vor allem Manon nie kennengelernt, wäre mir der Satz bedeutungslos erschienen. Ein Toter mehr oder weniger. Wen könnte das interessieren. Aber so kam es mir vor, als bestünde zwischen mir und den Mördern eine heimliche Verbindung. Das erfüllte mich mit Stolz." Es ist der Stolz einer dünnen Biographie, die sich nicht von der "klammheimlichen Freude" befreien mag, einmal Teil der "Bewegung" gewesen zu sein, einmal "wir" haben sagen zu können.

Tatsächlich kann man eine "éducation sentimentale" auch ohne Revolte haben. Robert Musils junger Törleß blieb schließlich im Internat, er mußte nicht in den Krieg. Aber wer will schon etwas wissen von der Biographie einer Jugend, wie es Tausende gegeben haben mag, ohne daß eine davon prägnant geworden wäre? "Erste Liebe, deutscher Herbst" - zwei Möglichkeiten, einen Lebenslauf mit Bedeutung aufzupumpen: bei etwas Großem dabeigewesen zu sein und die bedingungslose Wertschätzung eines anderen Menschen genossen zu haben. Die eine Möglichkeit bringt eine journalistisch operierende Halbkunst hervor: zwanzig Jahre deutscher Herbst, dreißig Jahre Studentenrevolte, vierzig Jahre Fußballweltmeister, fünfzig Jahre Bundesrepublik. Die andere ist das Mittel der Trivialliteratur schlechthin. Ein sentimentales Schlachtengemälde kommt dabei heraus. Das ist zuviel - und nicht genug. THOMAS STEINFELD

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Ein neuer Prosa-Bilderbogen zur deutschen Nachkriegsgeschichte. taz