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Warum sind so viele muslimische und türkische Jungen Schulversager? Warum sitzen so viele Muslime in deutschen Gefängnissen? Sind nur soziale Benachteiligung und mangelnde Bildungschancen die Ursache dafür? Oder auch die türkisch-muslimische Erziehungund die archaischen Stammeskulturen einer sich ausbreitenden Parallelgesellschaft? Mit ihrem Buch "Die fremde Braut"- das lange auf der Bestsellerliste stand und von dem über 75.000 Exemplare verkauft wurden - hat Necla Kelek eine heftige Debatte über Zwangsheirat und die gescheiterte Integration der Türken in Deutschland entfacht. Jetzt wendet…mehr

Produktbeschreibung
Warum sind so viele muslimische und türkische Jungen Schulversager? Warum sitzen so viele Muslime in deutschen Gefängnissen? Sind nur soziale Benachteiligung und mangelnde Bildungschancen die Ursache dafür? Oder auch die türkisch-muslimische Erziehungund die archaischen Stammeskulturen einer sich ausbreitenden Parallelgesellschaft?
Mit ihrem Buch "Die fremde Braut"- das lange auf der Bestsellerliste stand und von dem über 75.000 Exemplare verkauft wurden - hat Necla Kelek eine heftige Debatte über Zwangsheirat und die gescheiterte Integration der Türken in Deutschland entfacht. Jetzt wendet sie sich der anderen Hälfte der türkisch-muslimischen Gesellschaft zu: den Vätern, die als Patriarchen das Leben der Familie bestimmen, den Söhnen, die sich von den Müttern vorschreiben lassen, wen sie zu heiraten haben, und den Brüdern, die ihre Schwestern kontrollieren und bestrafen - bis hin zum"Ehrenmord", dem die junge Türkin Hatan Sürücü zum Opfer fiel.
Necla Kelek untersucht anhand von Lebensgeschichten muslimischer Männer - vom Mörder bis zum Vorbeter einer Moschee - das auf Ehre, Schande und Respekt, tatsächlich aber auf Gehorsam und Gewalt aufgebaute System der türkisch-muslimischen Erziehung. Sie schildert die exemplarische Sozialisation türkischer Jungen - von der Wiege über die Beschneidung bis zu den Aufgaben als Vater.
Vehement kritisiert die Autorin den mangelnden Willen zur Integration bei vielen Muslimen, deren Vertreter den Dialog mit den Deutschen oft nur als Einladung zur Bekehrung zum Islam verstehen.
Autorenporträt
Necla Kelek, Dr. phil., geboren 1957 in Istanbul, hat in Deutschland Volkswirtschaft und Soziologie studiert und über das Thema »Islam im Alltag« promoviert. Sie forscht zum Thema Parallelgesellschaften und berät u. a. die Hamburger Justizbehörde zu Fragen der Behandlung türkisch-muslimischer Gefangener. Im November 2005 wurde sie für ihr Engagement mit dem Geschwister-Scholl-Preis der Stadt München und 2006 mit dem Corine Preis für Sachbücher ausgezeichnet.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.04.2006

Armer türkischer Mann
Häusliche Gewalt und ein rigider Ehrenkodex - die übermächtige Tradition in vielen Familien diktiert auch das Verhalten der Söhne
Necla Kelek ist derzeit eine Persona non grata bei muslimischen Verbänden, ihnen gilt sie als Nestbeschmutzerin. Ebenso wenig populär ist die deutsche Soziologin türkischer Abstammung bei vielen Integrationsforschern, die ihr eine unwissenschaftliche Vorgehensweise und Populismus verworfen. Warum? Kelek hat vor zwei Jahren einen Bestseller verfasst, in dem sie das Schicksal türkischer Importbräute beschreibt, die - ohne Deutschkenntnisse und in ihren neuen Familien weitgehend entrechtet - am Rande der deutschen Gesellschaft leben. Politiker und Leser reagierten mit Schaudern auf diesen Einblick in eine Parallelgesellschaft; Fachleute konterten, die tatsächlichen Fallzahlen seien viel niedriger, als Kelek glauben mache.
Die Autorin ist von der massiven Kritik nicht unbeeindruckt geblieben, was man ihrem neuen Buch „Die verlorenen Söhne” anmerkt. Nicht ihre Thesen variiert sie - sie hält daran fest, dass das Rollenbild türkisch-muslimischer Männer sie zur Einhaltung eines starren Regelwerks verdammt, in dem sie Täter und Opfer zugleich sind. Aber Kelek betont unaufhörlich, dass sie nicht verallgemeinern wolle, dass es auch aufgeschlossene, integrierte Türken gebe. Und doch bleibt sie dabei: Türkische Immigranten müssten sich öffnen für eine fremde Gesellschaft, und sie müssten die eigene Tradition in Frage stellen - eine Tradition, die Kelek mit dem gruseligen Terminus „schwarze Pädagogik” belegt.
Gehorsam und Unterwerfung
Für ihr Buch hat sie Interviews mit muslimischen Gesamtschülern in Hamburg sowie mit muslimischen Gefangenen geführt, die in deutschen Gefängnissen einsitzen - nicht selten, weil ein starres, patriarchalisch geprägtes Verständnis von Ehre sie zu Handlungen verleitet hat, die deutschen Gesetzen, nicht aber der Scharia, zuwiderlaufen. „Bei genauem Hinsehen”, schreibt Kelek, „stellt man fest, dass die für die islamische Community verpflichtenden Gebote wie Respekt, Ehre und Schande von Männern formuliert werden. Es sind Männer, die ihre Einhaltung kontrollieren, und es sind Männer, die die Strafe exekutieren, wenn die Frauen die ,Ehre‘ der Familie verletzen.”
Kelek erzählt die Lebensgeschichten junger Männer, und im Grunde gleichen sich alle. Immer geht es um den Gehorsam gegenüber dem Vater und gegenüber dem Clan, um eine archaische Kultur von Rache und Vergeltung. Das klingt melodramatisch, und tatsächlich tendiert Necla Kelek in ihren reportageartigen Kapiteln stark zur Emotionalisierung von Figuren und Ereignissen. Mit ihrer kleinen Sammlung von Interviews verstärkt sie eine Beobachtung, die derzeit in die Debatte um die Gewaltbereitschaft junger Ausländer einfließt: Staatliche Repressalien, Haftstrafen beeindrucken viele Jugendliche nicht. Sie verstehen ihren Gefängnisaufenthalt vielmehr als Beweis für die eigene Stärke, und sie bleiben dabei, dass Gewalt ein probates Mittel zur Durchsetzung ihrer Werte sei.
Wer Kelek folgt, betritt eine fürchterliche Welt. Misshandlungen durch den Vater, so die Autorin, sind traurige Normalität in türkischen Familien. Kaum ein Sohn stelle die väterliche Autorität deswegen in Frage. „Muslimische Jungen wachsen ohne Liebe auf. In ihrer Sozialisation geht es in erster Linie darum, Gott zu gehorchen und dafür zu sorgen, dass ihnen gehorcht wird.” Muslimischen Jungen, so Kelek, bleibe die Welt fremd, weil niemand sie ihnen erkläre; in einer Welt von Gehorsam und Unterwerfung seien Fragen nicht zugelassen. Selbstständigkeit sei kein Erziehungsziel, nur wer Respekt vor den Altvorderen zeige und demütig bleibe, werde anerkannt.
Aus diesem Teufelskreis von Macht und Ohnmacht gibt es, so die Soziologin, keinen Ausweg: Schläge bedeuten Macht, Schande ist die eigene Schwäche, weil man dem anderen nicht die Stirn bieten kann. Diese „schwarze Pädagogik” werde von den Vätern an die Söhne weitergegeben; und diese Tradition lasse alle Anstrengungen zur Integration in eine moderne, westliche Welt scheitern.
Kelek ist auch in diesem Buch, was sie war: apodiktisch, missionarisch. Sie trennt nicht zwischen „türkisch” und „muslimisch”. Bei ihr gibt es, trotz gegenteiliger Beteuerungen, keine Grautöne, was auch aus der Auswahl ihrer Gesprächspartner resultiert. Ihre Beobachtungen, in vielen Einzelfällen stimmig, wirken in ihrer Ballung wie ein Panoptikum aus einer Welt des Grauens; dem Alltag in türkischen Familien dürften sie nur partiell entsprechen.
Kelek bezieht sich in ihrer Monografie unter anderem auf „Das schwache Geschlecht - die türkischen Männer”, eine Abhandlung, die der promovierte Erziehungswissenschaftler und Spezialist für Gewaltprävention, Ahmet Toprak, bereits im vergangenen Jahr publiziert hat. Der Autor geht der Frage nach, wie junge Türken selbst zu Zwangsverheiratungen stehen, was sie über Gewalt in der Ehe, über die Rolle ihrer Eltern, über Sexualität und Erziehung denken. Toprak hat15 Männer befragt, auch er warnt vor Pauschalisierungen. Im Gegensatz zu Kelek indes referiert er seine Ergebnisse in einem starren, sprachlich reduzierten Raster, das seiner Botschaft gut tut, weil es sie nicht mit Schock und Ekel überfrachtet: Gewalt gegen Frauen und Kinder gilt als gerechtfertigt, auch sexualisierte Gewalt; Männer haben immer das letzte Wort, Frauen müssen sich unterordnen, und einzig für die Ehre lohnt es sich zu leben. So berichten es ihm alle Männer.
Toprak fügt der Auswertung seiner Interviews ein Kapitel mit Vorschlägen zur Gewaltprävention an: Auf Elternarbeit dürfe nicht verzichtet werden, weil gerade Jugendliche ohne Perspektive sich an die Traditionen ihrer Elternhäuser klammerten. Toprak schlägt soziale Trainingskurse für Männer vor sowie die Zusammenarbeit mit Kultur- und Moscheevereinen. Und er hält Deutschkurse im Herkunftsland vor der Übersiedelung für unabdingbar. Langfristig geht der Pädagoge davon aus, dass nur eine verbesserte Schul- und Berufsausbildung sowie die Chance auf einen Job anstelle der Lebensperspektive Hartz IV eine Veränderung der rigiden Vorstellungswelt türkischer Männer bewirken können.
Beichte und Thriller
Hülya Kalkans Buch gleicht einem Entwicklungsroman und steht damit an der Grenze zwischen Literatur und Sachbuch. Es ist die Autobiografie einer jungen Frau aus türkischer Familie, geschrieben wie eine Mischung aus Lebensbeichte und Thriller: Sie wächst in einem kleinen Ort in Baden-Württemberg auf, die Eltern arbeiten, der große Bruder wird verwöhnt, die Mädchen müssen den Haushalt führen - eine ganz normale türkische Familie also. Aber als Hülya beginnt sich zu emanzipieren, sich Freiheiten herauszunehmen, als ihre Lehrerin die Eltern bedrängt, das intelligente Mädchen lernen zu lassen, rastet die Mutter aus. Unter einem Vorwand lockt sie die Tochter in die Türkei und lässt sie bei einer Tante zurück. Sie soll verheiratet werden, um ihr die Flausen auszutreiben von Freiheit und Gleichheit, von einem selbstständigen Leben als erwachsene Frau. Hülya greift zu einem Trick: Sie sagt, sie sei nicht mehr Jungfrau - also nicht zu verheiraten. Die Lüge hilft.
Hülya kehrt zurück nach Deutschland und schafft es mit Hilfe der Behörden, sich in einer Zuflucht für muslimische Mädchen zu verstecken. Sie macht ihren Abschluss, arbeitet - und geht der Familie aus dem Weg. Dann aber soll die Schwester verheiratet werden. Mithilfe eines groß angelegten Täuschungsmanövers und nach einer abenteuerlichen Flucht kann Hülya Kalkan die kleine Schwester retten. Die Autorin und ihre Schwester kommen, wenn man so will, davon. Doch sie zahlen einen hohen Preis: Angst, Traumata, Einsamkeit begleiten ihr Leben noch lang, denn die Eltern wollen nicht verzeihen. Hülya Kalkan berichtet, dass allein in Stuttgart, wo sie zwischenzeitlich Zuflucht in einer Schutzwohnung findet, allmonatlich ein Dutzend Mädchen die Hilfe des Jugendamtes erbäten - zur Rettung vor einer Heirat mit einem Unbekannten, vor dem familiären Gefängnis.
Ein ganz anderes Bild von türkischen Einwanderern in Deutschland zeichnet die Autorin Hilal Sezgin. Sie hat 19 deutsch-türkische Frauen befragt über „Highlights, die seltener Schlagzeilen machen”, über Arbeit, Liebe, Familie, Lebensziele, Erfolge und unerfüllte Träume. Genau so vage, wie diese Aufzählung anmutet, ist auch ihr Buch ausgefallen. Dabei hat sie eigentlich alles richtig gemacht: In dem steten Bemühen, die „normale”, die emanzipierte Seite türkischen Frauenlebens zu schildern, erzählt sie unaufgeregt und mit der nötigen persönlichen Distanz vom Leben einer Kinderärztin, einer Werbeassistentin, der Inhaberin eines Geschäfts für Kinderschuhe. Aber genau so, wie eine Zeitung mit positiven Schlagzeilen sich auf Dauer nicht gut verkauft, wird auch die Schilderung all der positiven Entwicklungen bei ihren positiven Heldinnen schnell fade.
Zum Schluss fasst Hilal Sezgin, und das ist dann doch sehr spannend, das Phänomen der türkischen Parallelgesellschaft, der zunehmenden Segregation der türkischen von der deutschen Community, aus der Sicht jener zusammen, die sich integriert haben und in Deutschland angekommen sind: „Die anderen Türken, die rückschrittlichen, die peinlichen, die den sozialen Aufstieg nicht mitgemacht haben, die den Sprung von den Dörfern Anatoliens ins moderne Europa nicht geschafft haben, die stehen geblieben und damit zum lebenden Anachronismus geworden sind: Sie bilden gleichsam eine Insel von überlebtem Türkisch-Sein, wie es in der Türkei kaum mehr vorkommt. Auf diese Inselbevölkerung blicken die Modernen, die Gebildeten, mit einer Mischung aus Mitleid und Entsetzen.”
CATHRIN KAHLWEIT
NECLA KELEK: Die verlorenen Söhne. Plädoyer für die Befreiung des türkisch-muslimischen Mannes. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2006. 218 Seiten, 18,90 Euro.
AHMET TOPRAK: Das schwache Geschlecht - die türkischen Männer. Zwangsheirat, häusliche Gewalt, Doppelmoral der Ehre. Lambertus Verlag, Freiburg 2005. 180 Seiten, 18 Euro.
HÜLYA KALKAN: Ich wollte nur frei sein. Ullstein, Berlin 2005. 228 Seiten, 18 Euro.
HILAL SEZGIN: Typisch Türkin? Porträt einer neuen Generation. Herder, Freiburg 2006. 196 Seiten, 12,90 Euro.
Männer haben immer das letzte Wort. Ein Bild aus dem dokumentarischen ZDF-Film „Was lebst Du?”
ZDF/Bettina Braun
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Cathrin Kahlweit bespricht vier Bücher, die sich mit den spezifischen Problemen der Kinder türkischer Migranten in Deutschland befassen. Am ausführlichsten widmet sich die Rezensentin Necla Keleks "Die verlorenen Söhne", worin die Soziologin die Söhne türkischer Migranten als "Täter und Opfer zugleich" beschreibt. Nachdem man der Autorin für ihr Buch über "türkische Importbräute" vorgeworfen hat, allzu einseitig und unwissenschaftlich zu argumentieren, unterstreicht Kelek in ihrem jüngsten Werk beständig, "nicht verallgemeinern" zu wollen, stellt die Rezensentin fest. Kahlweit findet, dass Kelek sich wie gewohnt "apodiktisch, missionarisch" gibt. Besonders lastet ihr die Rezensentin an, dass sie nicht zwischen "muslimisch" und "türkisch" unterscheidet und ihrem Buch die "Grautöne" fehlen. So wirkt die Monografie trotz "stimmiger" Einzelbeobachtungen insgesamt wie ein "Panoptikum aus einer Welt des Grauens", in der Gewalt gegen Frauen und Kinder, Ehrenmord und Zwangsverheiratung an der Tagesordnung sind, von dem Kahlweit allerdings bezweifelt, das sich darin wirklich der "Alltag türkischer Familien" widerspiegelt.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.03.2006

Der türkische Mann
Necla Keleks Streitschrift gegen rechtsfreie Räume im Islam

Die Kinder türkischer Einwanderer: Sie sind überfordert, haben die schlechteren und sehr viele gar keine Schulabschlüsse. Ihre gewalttätigen Väter werden sie nie in Frage stellen, was immer diese Väter ihnen auch antun. Die Kinder verachten Frauen, die ihren eigenen Weg gehen. Es sind Kinder, die den Spagat zwischen traditionellen Regeln, die von ihnen Gehorsam und Unterwerfung verlangen, und der modernen Gesellschaft, unserem Alltag, nicht bewältigen. In dieser Weise beschreibt die Soziologin Necla Kelek türkische Einwanderer-Kinder in ihrem Buch "Verlorene Söhne". Dieses Buch wird denen nicht gefallen, die argwöhnen, Kelek skandalisiere die Lebenssituation von Einwanderern, um Vorurteile festzuschreiben.

Die Autorin urteilt hart, wirft der Politik, den politischen Stiftungen, den Kirchen und Wissenschaftlern vor, Migranten als Mündel zu behandeln, sie damit in ihrer Rückständigkeit gleichsam einzumauern. Jede Anpassungsleistung stehe unter dem Verdacht, die Zugewanderten zu überfordern, ja ihre Kultur zu mißachten. Vor allem aber habe die Unterschätzung der kulturellen Dimension ihres Muslim-Seins alle Hoffnungen begraben, die Moderne werde ihre Kraft entfalten können, und statt dessen, unübersehbar in unseren Städten, zum Aufblühen einer Gegenkultur geführt.

Die Anreize, sich in der neuen Heimat eine "eigene Geschichte" zu erwerben, schreibt Kelek in Anlehnung an den Kulturanthropologen Werner Schiffauer, seien zu gering bis nicht vorhanden. Der Sozialstaat versorgt auch die mit dem Nötigsten, die weder einen Schulabschluß noch einen Beruf, noch die Chance haben, eine legale Arbeit zu finden. Das führe zu Mißständen, die Kelek schonungslos benennt und mit dem, was Gesetze und Verfassung eigentlich jedem Bürger auferlegen, vergleicht.

Die Rechnung, die sie aufmacht, ist deprimierend, zumal Kelek sich weigert, bei Mißständen wie grausamen Kindesmißhandlungen oder der brutalen Verteidigung vermeintlicher Familienehre oder der gewalttätigen Unterwerfung der Söhne unter den Willen der Väter sich des Rituals zu bedienen, mit dem Autorinnen wie sie ungeschoren davonkämen: Sie relativiert ihre Berichte nicht unentwegt. Natürlich schließen einige Kapitel mit dem Hinweis, auch sie wisse, daß nicht alle so leben wie die Familien der von ihr skizzierten exemplarischen Beispiele. Nur würde auch niemand erwarten, in einem Bericht über Obdachlosigkeit zu lesen, wie gut es diejenigen getroffen haben, die ein Dach über dem Kopf haben.

Sie berichte, so Kelek, über die verlorenen Söhne der türkisch-muslimischen Gesellschaft, so wie sie sie angetroffen habe. Kelek erzählt nicht von den Gewinnern, sondern von den Verlierern der Bürger mit Migrantenhintergrund - von solchen auch, die in die Kriminalitätsstatistiken eingingen und sich zum Teil in den Gefängnissen wiederfinden. Die Autorin sucht nach den Ursachen für deren Scheitern und entdeckt dabei die ritualisierte Gewalt in den Familien, die archaischen Traditionen, welche diese Verhaltensmuster von Generation zu Generation weiterzugeben erlauben. Den Deutschen hält sie vor - nicht als Vorwurf, sondern als Weckruf -, sich für die anderen nicht zu interessieren und vor Intervention zurückzuschrecken; man wolle sich eben nicht in "Familienangelegenheiten" einmischen, und seien sie noch so gewalttätig und schädlich. Necla Kelek verlangt, körperliche Züchtigung, Kindesmißhandlung in Migrantenfamilien genauso zu ahnden, wie es das Gesetz vorschreibt. Sie fordert eine Aufklärungskampagne über die Gesundheitsrisiken von Ehen unter Verwandten. Sie ruft zur Ächtung der Polygamie auf und verlangt Sanktionen, um das Verbot der brutalen und riskanten Beschneidung türkischer Jungen durchzusetzen. Selbstverständlichkeiten, sollte man meinen, doch sind sie es nicht.

An die türkische Mittelschicht aber, die wegzieht, ja flieht aus den Vierteln, die wenig Glück verheißen - an diese Mittelschicht richtet sie den Appell, sich zu ihrer sozialen Verantwortung zu bekennen. Auch weil diese Türken, im Unterschied zu den Deutschen, keine Sprachbarriere von den Verlierern trennt, nur die Furcht, es könnte auch auf sie ein schlechtes Licht werfen, würden sie die schmerzhaften Wahrheiten bestätigen. Die massive Ablehnung, die Necla Kelek nicht nur von seiten einiger Migrationsforscher erfährt, sondern auch von deutschen Türken, die es besser getroffen haben als die fremden Bräute und die Jungen und Männer dieses Buches, erinnert zuweilen an die Ost-West-Debatten vergangener Jahre. Wer autoritäre, hier islamische, dort sozialistisch geprägte Kollektivstrukturen geißelt, wird angegriffen. Und sei es nur mit dem wenig überzeugenden Argument, daß "wir" so nicht sind. Und so wie jedesmal durch den Osten ein kollektiver Aufschrei ging, wenn auf offensichtliche Fehlentwicklungen dort hingewiesen wurde, so reagiert man gereizt, wenn türkische Dissidenten darauf bestehen, die europäische Demokratie mit all ihren Rechten und Pflichten gelte auch für sie und die Migrantengesellschaft, aus der sie kommen.

Wer die Gefängnisinterviews liest, die Kelek in Hamburger Haftanstalten geführt hat, wird sich fragen, wie derart tragische Biographien in einem Land wie unserem möglich sind. Es sind Schlaglichter, die eine Entwicklung etwas erhellen, von der wir im einzelnen wie im allgemeinen nur wenig Zuverlässiges wissen. Die Kriminalstatistiken sind nicht geeignet, zu beruhigen. Auch gibt es wenigstens einige qualitative und gelegentlich auch eine repräsentative Untersuchung, die belegen, daß traditionelle Religiosität und die Gewaltbereitschaft dieser Jungen und Männer, die alle unter ihren patriarchalischen Vätern zu leiden hatten, einander bedingen.

Das übliche "eigentlich" - eigentlich schaffen es doch viele, eigentlich ist der Islam doch ganz nett -, das wird man auch in diesem Buch von Necla Kelek vergeblich suchen. Der "europäische Islam", um den sich andere Gedanken machen, hat die Milieus, aus denen Keleks verlorene Söhne stammen, nicht einmal von ferne gestreift. Dort geben die Väter und die von der türkischen Regierung bezahlten Hodschas vor, was gut und schlecht, was tugendhaft und verwerflich ist. Und das läuft unserem common sense nicht selten zuwider. Kelek behauptet nicht, ihr Bericht sei repräsentativ. Sie hat eine Streitschrift verfaßt, wie sie lange überfällig war - was nicht nur Lehrer, Polizisten und Psychologen bestätigen können. Es lohnt, sich mit ihr auseinanderzusetzen. Auch, weil die, die sie als Verlorene beschreibt, diese Chance verdienen.

REGINA MÖNCH

Necla Kelek: "Die verlorenen Söhne". Plädoyer für die Befreiung des türkisch-muslimischen Mannes. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2006. 208 S., geb., 18,90 [Euro].

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»Es ist ein Buch, das uns Deutsche tief nachdenklich über unsere Integrationspolitik zurücklässt. [...] Es zu lesen, sei allen dringend empfohlen.« Deutschlandradio Kultur