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Die politische Karriere Joschka Fischers ist ein gesellschaftliches Crossover, wie dieses Land kaum ein zweites kennt: vom sozialen Außenseiter zum Außenminister der Bundesrepublik Deutschland.
Dieser Werdegang in eine Spitzenfunktion des Staates ist mindestens so erklärungsbedürftig wie die Existenz von Fotos, die mit dem Bild eines Ministers nicht in Einklang zu bringen sind.
Fischer personifiziert zwei ganz unterschiedliche Seiten der bundesdeutschen Geschichte: auf der einen Seite den Bruch mit der NS-Generation, den Angriff auf den Staat und die Ablehnung des Parlamentarismus, auf
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Produktbeschreibung
Die politische Karriere Joschka Fischers ist ein gesellschaftliches Crossover, wie dieses Land kaum ein zweites kennt: vom sozialen Außenseiter zum Außenminister der Bundesrepublik Deutschland.

Dieser Werdegang in eine Spitzenfunktion des Staates ist mindestens so erklärungsbedürftig wie die Existenz von Fotos, die mit dem Bild eines Ministers nicht in Einklang zu bringen sind.

Fischer personifiziert zwei ganz unterschiedliche Seiten der bundesdeutschen Geschichte: auf der einen Seite den Bruch mit der NS-Generation, den Angriff auf den Staat und die Ablehnung des Parlamentarismus, auf der anderen Seite die Vitalität des parlamentarischen Systems, die Integrationsfähigkeit des Parteien- und die Relegitimierung des Verfassungsstaates. Dazwischen liegen rund dreißig Jahre, Jahre der Abrechnungen, Kämpfe und Konflikte, aber auch solche der Veränderung, Entspannung und Aussöhnung.
Autorenporträt
Wolfgang Kraushaar, Dr. phil., Politikwissenschaftler, Wissenschaftler an der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur; assoziiert am Hamburger Institut für Sozialforschung. Er war bis 2015 Wissenschaftler im Hamburger Institut für Sozialforschung.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.11.2001

Pflasterstrand am Main
Joschka Fischer in der Straßenkämpfer-Zeit

Wolfgang Kraushaar: Fischer in Frankfurt. Karriere eines Außenseiters. Hamburger Edition, Hamburg 2001. 256 Seiten, 36,- Mark.

Die Aufregung um Joschka Fischers Werdegang vom Straßenkämpfer zum Vizekanzler ist längst wieder abgeflaut, die deutsche Politik befaßt sich wieder mit wichtigeren Themen: keine schlechte Voraussetzung für eine ruhige und sachliche Analyse dessen, was diese "Karriere eines Außenseiters" bestimmt haben mochte. Nach Gerd Koenen, der die siebziger Jahre als "rotes Jahrzehnt" porträtiert hat (F.A.Z. vom 2. Juli 2001), nimmt sich nun Wolfgang Kraushaar jener verworrenen Zeit an.

Kraushaar, als Kenner von "1968" und der Folgen bestens ausgewiesen, erzählt die Geschichte einer politischen Konversion, in deren Verlauf der Frankfurter Sponti seine Lederjacke an den Haken hängte und gegen den Dreiteiler des Staatsmannes eintauschte. Begonnen hat Fischer seine Karriere als gesellschaftlicher Außenseiter, wie manche andere Köpfe der Revolte auch, besonders aber wie Daniel Cohn-Bendit, der als deutscher Jude die Studenten im Pariser Mai auf die Barrikaden führte. Aus "Dany le rouge" wurde - auch dies eine Konversion - "Dany le vert", der seinem Freund Fischer stets einen Schritt voraus war und ohne den, so Kraushaar, Fischers Weg anders verlaufen wäre.

Nachdem die kommunistisch inspirierten Projekte der Agitationsarbeit in Betrieben und der im Zeichen des Antikapitalismus stehenden Häuserkämpfe im Frankfurter Westend - ihre Darstellung zählt zu den gelungensten Passagen des Buches - an ihre Grenzen gestoßen waren, stürzte dies die Linke in eine Sinnkrise, die auch Fischer erlebte. Als einer der ersten formulierte schließlich Cohn-Bendit ein neues politisches Selbstbewußtsein. Er wurde zum "Urvater der Spontis", indem er das neue Leitbild einer hedonistischen, das Sinnliche betonenden Linken entwarf, die mit dem asketischen Arbeitsethos, wie es die K-Gruppen programmatisch akzentuierten, nichts mehr zu tun hatte. In der von Cohn-Bendit gegründeten Zeitschrift "Pflasterstrand" fanden die Diskussionen über alternative Lebensformen ein Forum, und sie war das Sprachrohr der linken "Realos", zu deren Kopf Joschka Fischer wurde. Nicht nur die Erfahrung des Scheiterns großer Pläne bewirkte seine und anderer Abkehr von den ideologischen Verstocktheiten, welche bei aller Differenz sämtliche K-Gruppen bis zu ihrem Ende prägten, sondern vor allem die übersteigerte Gewaltsamkeit der politischen Auseinandersetzungen während der zweiten Hälfte der siebziger Jahre.

Wie man aus der Not des Scheiterns die Tugend neuer politischer Entwürfe, besonders der Realpolitik, macht, hatte ein Jahrhundert zuvor ein anderer bereits vorexerziert: Ludwig August von Rochau. Nachdem er sich als Burschenschafter im Frühjahr 1833 am Sturm der Frankfurter Hauptwache beteiligt hatte und dafür zu lebenslanger Haftstrafe verurteilt worden war, konnte er nach Frankreich fliehen. Mit seinem Traktat über die "Grundsätze der Realpolitik" von 1853 wurde er zum Stichwortgeber eines neuen politischen Denkens.

In dieser Schrift spiegelte sich die tiefe Enttäuschung über das Versagen des liberalen Bürgertums in der Revolution von 1848/49 wider, das es nicht vermocht hatte, Einheit und Freiheit zu erlangen. Rochau und mit ihm viele andere seiner Generation gaben, als der Erfolg der preußischen Politik unter Bismarcks entschlossener Führung erkennbar wurde, der "Einheit" vor der "Freiheit" den Vorzug. Was aber hat der Burschenschafter mit dem Sponti zu tun, außer daß sie beide in Frankfurt auf die Straße gingen? Kraushaar entwirft in seinem Vergleich von Rochau, dem "enttäuschten Achtundvierziger", und Fischer, dem "enttäuschten Achtundsechziger", vitae parallelae. Am Ende muß er aber eingestehen, daß mehr als ein "Kranz von Analogien" nicht herauszupräparieren ist. Nein, Kraushaar war nicht gut beraten, diesen bereits 1988 veröffentlichten Beitrag nochmals abzudrucken, ohne die methodische und theoretische Problematik des Vergleichs zu diskutieren. Denn jede Analogie, mag sie auch noch so bestechend sein, birgt ein hohes Maß an Zufall und Beliebigkeit. Ein historischer Vergleich, der Erkenntnisgewinn verspräche, ist aus ihr noch lange nicht zu ziehen. Obendrein wäre zu thematisieren, wie sich der semantische Gehalt des Begriffs im Laufe der Zeit gewandelt hat, kurz: Nicht überall, wo "Realpolitik" draufsteht, ist auch Rochaus "Realpolitik" drin.

Was aber kennzeichnet die linke Realpolitik, als deren Protagonisten Fischer und Cohn-Bendit präsentiert werden? Da ist zum einen die Absage an Gewalt als Mittel der politischen Auseinandersetzung, was durchaus keine Selbstverständlichkeit bei westdeutschen Linken in den siebziger Jahren war. Statt Straßenkampf der "Marsch durch die Institutionen", der beinahe schon als soziologischen Topos den alternativen Studienrat hervorgebracht hat. Aber der Wechsel des Handlungsparadigmas bedeutete doch mehr als das: In ihm manifestierte sich die Anerkennung der parlamentarischen Demokratie durch die Linke, auch wenn dies durchaus noch ironisch gebrochen sein mochte, wie Fischers Amtsantritt als hessischer Minister in Turnschuhen zeigte. Zum anderen bezog die realpolitische Wende auch die Inhalte ein, das Machbare bestimmte zunehmend den politischen Horizont und verdrängte ideologiegetränkte Postulate.

In diesem Zusammenhang treten die Schwächen von Kraushaars Buch besonders deutlich hervor. Denn seine Befunde, die er in der Zusammenstellung neuer und (vieler) älterer Texte erhebt, wirken oftmals impressionistisch, ja pointillistisch. Ein erkennbares, geschlossenes oder gar neues Bild ergibt sich daraus kaum. Vor allem erfährt man wenig darüber, ob der Weg Joschka Fischers von Frankfurt nach Berlin allein biographische Relevanz besitzt oder ob nicht die politische Geschichte der späten Bundesrepublik von solchen Karrieren - der Name Fischer steht für viele andere - mit geprägt wurde. Zu denken wäre, Kraushaar deutet dies an, an die Abkehr vom Antizionismus, ja vom Antisemitismus, wie ihn die Linke von 1968 durchaus in sich trug; zu denken wäre aber auch an das besondere Verhältnis dieses Teils der Linken zu Nation und Staat. Dem verlieh Daniel Cohn-Bendit, der Grenzgänger zwischen Deutschland und Frankreich, in seiner "Rede über das eigene Land" Ausdruck, indem er über sein Verhältnis zu Frankreich sagte: "Ich habe die Möglichkeit gewählt, keinem Land treu zu sein, meine Identität nicht in einem geographischen Zusammenhang zu suchen . . . Ich lebe da, wo ich verliebt bin."

GABRIELE METZLER

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Überaus positiv beurteilt Barbara Sichtermann dieses Buch von Wolfgang Kraushaar, das, anders als man denken könnte, keine Biografie ist. Es beschäftige sich aus äußerst angenehmer Distanz mit "der Rolle der Gewalt in der Politik", wobei sich Kraushaar einer sehr interessanten Analogie bediene, nämlich der zwischen dem deutschen Außenminister und einer sehr ähnlich gelagerten Biografie aus dem 19. Jahrhundert, nämlich die von Ludwig August von Rochau, der den Ausdruck "Realpolitiker" erfunden haben soll. Da man die eine Lebensgeschichte als Leser durchaus wohlwollend begleite, werde man somit dahin geleitet, auch der Biografie Fischers mit mehr Gelassenheit gegenüberzustehen als es leider sonst häufig der Fall sei. Die Rezensentin freut sich über ein Buch, das endlich zu mehr Objektivität und weniger vorgefassten Meinungen zurückkehre.

© Perlentaucher Medien GmbH