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Rund einen Monat, bevor die Wehrmacht Leningrad einkesselt, um die Zivilbevölkerung mit beispielloser Grausamkeit auszuhungern, beginnt Lena Muchina ihr Tagebuch. Sie interessiert sich für das, was alle jungen Mädchen beschäftigt: Wie kann sie das Herz von Wowka, dem Jungen aus ihrer Klasse, gewinnen? Wie schummelt man sich durch die Geometrie-Prüfung? Aber bald gibt es nur noch den einzigen, alles beherrschenden Gedanken: etwas in den Magen zu bekommen, und sei es die Katze der Nachbarn ... Das berührende, dabei unsentimentale Tagebuch eines sechzehn jährigen Mädchens, das die Belagerung von…mehr

Produktbeschreibung
Rund einen Monat, bevor die Wehrmacht Leningrad einkesselt, um die Zivilbevölkerung mit beispielloser Grausamkeit auszuhungern, beginnt Lena Muchina ihr Tagebuch. Sie interessiert sich für das, was alle jungen Mädchen beschäftigt: Wie kann sie das Herz von Wowka, dem Jungen aus ihrer Klasse, gewinnen? Wie schummelt man sich durch die Geometrie-Prüfung? Aber bald gibt es nur noch den einzigen, alles beherrschenden Gedanken: etwas in den Magen zu bekommen, und sei es die Katze der Nachbarn ... Das berührende, dabei unsentimentale Tagebuch eines sechzehn jährigen Mädchens, das die Belagerung von Leningrad überlebte. Aus dem Russischen von Lena Gorelik und Gero Fedtke.

Autorenporträt
Muchina, LenaLena Muchina, geboren 1924, war knapp sechzehn Jahre alt, als sie ihr Tagebuch begann. Im Juni 1942, noch vor Beendigung der Blockade, wurde sie evakuiert; die Veröffentlichung ihres Tagebuchs erlebte sie jedoch nicht mehr, denn sie starb 1991 im Alter von 66 Jahren in Moskau. Über ihr Leben ist bisher wenig bekannt.

Gorelik, LenaLena Gorelik, geboren 1981 in St. Petersburg, kam 1992 mit ihrer russisch-jüdischen Familie nach Baden Württemberg. Sie veröffentlichte bisher die Romane Meine weißen Nächte und Hochzeit in Jerusalem (nominiert für den deutschen Buchpreis 2007) sowie Verliebt in Sankt Petersburg, ein witzig-persönliches Reisebuch über ihre Geburtsstadt Sankt Petersburg. Lena Gorelik lebt mit Familie und Hund in München.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.12.2013

Zeugnis der Hungerblockade
1941 bis 1944 wurde Leningrad von der Heeresgruppe Nord belagert. Damals schrieb ein Mädchen Tagebuch. Vor wenigen Jahren erst haben russische
Wissenschaftler Lena Muchinas Aufzeichnungen entdeckt und ediert: Das anrührende Buch erinnert an die Beobachtungen der Anne Frank
VON DORION WEICKMANN
Am 22. Mai 1941, einen Monat bevor Hitlers Wehrmacht die Sowjetunion überfällt, beginnt die sechzehnjährige Lena Muchina in Leningrad Tagebuch zu schreiben. Ziemlich genau ein Jahr lang wird das Mädchen diese Aufzeichnungen führen – und sich zwischen der ersten und letzten Eintragung in eine vom Schicksal Gezeichnete verwandeln. Am Ende ist sie keine Schülerin mehr, die sich mit Jungsgeschichten, Deutschunterricht und schlechten Noten plagt, sondern eine von Hunger, Tod und Angst getriebene, vom Terror der Belagerung traumatisierte Frau.
  Im September 1941 haben die Deutschen die Stadt an der Newa umzingelt und damit begonnen, ihre knapp drei Millionen Bewohner auszuhungern. Lena Muchina nehmen sie im Februar 1942 das Liebste auf der Welt, ihren Daseinsanker: „Ich stellte ihre Füße auf den Boden, allein sie zu berühren war furchtbar. Da begriff ich, dass Mama nicht mehr lange zu leben hatte.“ Obwohl „Mamulja“ nur ihre Ziehmutter ist, hängt Lena mit zärtlicher Liebe an dieser Frau, und dass sie deren Tod nicht als ihren eigenen begreift, grenzt an ein Wunder. Denn weiterleben heißt: sich mit vor Hunger schmerzendem Magen von einem Tag zum nächsten schleppen, eisigen Frost und Luftalarm aushalten, Schlitten mit Abertausenden Toten durch die Straßen ziehen sehen, und warten, warten, warten – auf den Abtransport „aus diesem verfluchten Leningrad“.
  Anfang Juni 1942 ist es so weit, Lena Muchina wird evakuiert. Sie kehrt freilich schon drei Jahre später zurück. Dem Schatten der Katastrophe kann sie zeitlebens nicht entrinnen. Das Tagebuch, das jetzt in vorzüglich edierter Übersetzung erschienen ist, dokumentiert den Wendepunkt dieses Daseins, das nie mehr heil wurde.
  Nicht von ungefähr fällt im Epilog, den der Historiker Gero Fedtke zum Exkurs über die Blockade ausweitet, der Name Anne Franks. Genau wie die junge Jüdin in Amsterdam Zeugnis ablegte von den Vorstufen des Genozids, tut es Muchina für ihresgleichen, für die Menschen Leningrads, denen die Heeresgruppe Nord neunhundert Tage lang alle Lebensadern abschnitt. Beide Schreiberinnen verbindet nicht nur das jugendliche Alter, sondern ein tiefes Gefühl der Einsamkeit. Genau das ist das Ziel des Terrors: Das Opfer soll ausweglos auf sich selbst zurückgeworfen werden. Für Anne Frank gab es keine Rettung, Lena Muchina entkam im allerletzten Moment, an der Schwelle zur Apathie: „Ich fühle gar nichts mehr“, heißt es am 25. Mai. Ein paar Tage später brachte sie sich bei Verwandten in Nischni Nowgorod in Sicherheit. Über die Kriegserlebnisse bewahrte sie Schweigen, wie so viele. Dass ihr Tagebuch auf verschlungenen Wegen ins Leningrader Staatsarchiv gelangte, wo russische Wissenschaftler es fanden, ist ein Glücksfall. Denn dieses gedruckte Denkmal besitzt die Kraft einer unzensierten Stimme, die zu den Nachgeborenen spricht.
Lena Muchina : Lenas Tagebuch. Leningrad 1941-1942. Aus dem Russischen übersetzt und kommentiert von Lena Gorelik und Gero Fedtke. Graf Verlag, 2013. 375 S., 18 Euro.
Dorion Weickmann ist freie Journalistin.
Der Terror war erfolgreich. Im
Mai 1942 schrieb Lena Muchina:
„Ich fühle gar nichts mehr.“
Ein Plakat der sowjetischen Rüstung von 1944: „Wir geben der Roten Armee mehr Kampftechnik für die endgültige Zerschlagung des Feindes.“
Foto: Picture Alliance / AKG
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"Ein eindrucksvolles Zeugnis dieser menschlichen Katastrophe." Marc von Lüpke-Schwarz Deutsche Welle 20130430

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.06.2013

Wie unbemerkt so ein Schreckenstag vergeht

Vor mehr als fünfzig Jahren kam ein Tagebuch in ein russisches Archiv: Aufzeichnungen der jungen Lena Muchina aus Leningrad zur Zeit der Belagerung durch die Deutschen. Jetzt ist es übersetzt worden.

Als der Zweite Weltkrieg ausbricht und Leningrad erreicht, ist Lena Muchina sechzehn Jahre alt. Sie schwärmt gerade für einen Jungen namens Wowa, liest Lermontow und sucht eine allerbeste Freundin, mit der sie alles teilen kann. "Mir fehlt immer irgendetwas. Ich spüre eine Leere", notiert sie in ihr Tagebuch. Würde die Liebe helfen? Wie fühlt sich der erste Kuss an? Das sind drängende Fragen der Schülerin, die sich zum Lernen für Prüfungen disziplinieren muss. Sie schreibt, wie man in dem Alter so schreibt, mit ein bisschen Pathos, verärgert, fröhlich, tratschend. Dazwischen ein lebenskluger, verdunkelter Satz: "Und wie unbemerkt so ein Tag vergeht."

Dass der Krieg ein ganz normales Leben zerschneidet, das weiß man, das ahnt man. In Lenas Tagebuch teilt sich der Bruch als brutale Erschütterung in Stil und Inhalt mit, und zwar exakt am 22. Juni 1941, als deutsche Truppen die Grenze überschreiten. Lena altert über Nacht. Sie ist eine andere danach. War sie vorher böse mit Wowa, der sie nicht bemerkt, oder traurig wegen des abgesagten Sommerurlaubs, ist sie jetzt sachliche Protokollantin. Sie informiert, wo "der Feind" steht. Sie repetiert mutmachende Phrasen, die das Radio bringt, als würde das genaue Notieren Sicherheit geben in einer haltlos gewordenen Lebenswelt.

Dieser Wechsel im Ton ist eklatant spürbar, ein schmerzhafter Ruck geht durch Lenas Persönlichkeit. Das Mädchen klebt Schulfenster ab, füllt Papiersäckchen mit Sand und häuft sie an Türschlitzen gegen Explosionen. So, schreibt sie, wurde es im Kino erklärt. Sie wird auf eine lange Wanderung in die Dörfer geschickt, zum Arbeitsdienst in Nachtschichten. Manchmal denkt sie noch an Wowa. Dann reglementiert sie sich: "Flugzeuglärm unterbricht meine Grübeleien. Ich kehre zur Wirklichkeit zurück."

"Lenas Tagebuch", spät entdeckt - die russische Originalausgabe erschien 2011 -, ist nicht nur in seiner Vollständigkeit eine Sensation. Lena Muchina macht die Zeit der Leningrader Blockade 1941/42 - die Belagerung dauerte bis Januar 1944 - exemplarisch für viele sichtbar und spürbar. Sie protokolliert, was sie tut, was sie denkt, was sie nicht isst, aber herbeiphantasiert; wie sie Hunger, Frost, Schwäche während der von den Nationalsozialisten angewiesenen Aushungerung eines Volkes überlebt. Und was das heißt: so etwas zu überleben. Ihr Tagebuch ist wie das der Anne Frank ein Dokument, das dieses unmenschliche Kapitel der Geschichte von innen her ausleuchtet.

Dass man es jetzt lesen kann und sogar weiß, was aus Lena Muchina später wurde, ist ein Glücksfall. 1962 gelangten die Seiten ins Leningrader Parteiarchiv. Die Suche nach der unbekannten Autorin aber erwies sich als schwierig und langwierig. Eine Randnotiz führte zu Verwandten, da war Lena Muchina schon tot, aber sie hatten noch Briefe und Fotoalben von ihr, und man erfuhr, dass sie es geschafft hatte, im Juni 1942, kurz nach Abbruch des Tagebuchs, aus Leningrad evakuiert zu werden. Sie starb 1991. Dass sie während der Blockade Tagebuch geführt hatte, wussten die Verwandten nicht. Dabei sollte das Tagebuch Lenas "traurige Geschichte" nicht zuletzt für die Familie aufbewahren.

Man liest es mit wachsender Beklemmung, kann es kaum aus der Hand legen. Zunächst, weil darin die Wirklichkeit wie ein grausames Abenteuer erscheint, mit einer großen, tapferen, wortgewandten Heldin darin. So funktioniert ja Literatur. Aber das hier ist ein Tagebuch, in knapper, klarer Sprache mit gutem Blick für verstörende Details. "Es ist erst elf Uhr, doch es gab schon drei Fliegeralarme. Ich gehe nun jedes Mal in den Luftschutzkeller. Ich ziehe meine Winterklamotten und Gummigaloschen an und nehme mein kleines Köfferchen mit. Ich werde mich nun bis zum Kriegsende nicht mehr von ihm trennen, ich habe darin ein leeres Heft, Wowas Foto, Geld, zwei Taschentücher, eine Flasche mit Tee, Brot und ebendieses Tagebuch." Lenas gepflegte Melancholie aus Schultagen weicht einer fürs Überleben wichtigen Emsigkeit, und man bemerkt, wie sie schlagartig ihre Haltung ändert, ändern muss. Leningrad wird zur Festung, und Lena bildet die neue Wirklichkeit haarklein ab: die Schutzunterstände, die überall gebaut werden; die ersten Trümmer, die sie mit der neuen Freundin Tamara besichtigen geht; die Menschentrauben, die nicht hineinpassen und am Eingang verschüttet werden, "wahnsinnig geworden". Als Sanitäterin sieht sie bald den ersten Toten, "so ein Junger, Sympathischer", der kurz vor der Operation noch rauchte. Die Essensrationen werden kleiner.

Leningrad, durch Lenas Augen betrachtet, wirkt immer tonloser, menschenloser. Wie sie das in Momentaufnahmen beschreibt, ist gespenstisch. Keine Musik. Nur "der Hornist", der durch die Lautsprecher Entwarnung gibt. Beide Mütter sterben, erst die leibliche, dann die Ziehmutter, deren Leichnam sie mit einem Schlitten zum Massengrab zieht, und Lena ist allein in dieser Stadt. "Wer lehrt mich jetzt das Leben? Ringsum fremde Leute, denen bin ich egal." Zum Schreiben ist sie in Decken eingehüllt. Einige Zeit gibt es noch Schule und dort portionsweise Gelee, einmal Katzenfleisch. Kino und Theater sind noch in Betrieb, aber für den Rückweg ist sie fast zu schwach. Dann gibt es im kältesten Winter weder Wasser noch Strom, manchmal nicht mal Brot. Straßenbahnen fahren lange nicht. Man hört mit Lena das beständige Ticken der Radios, die aus Lautsprechern Alarm melden - das "Leningrader Metronom". Später in dieser langen Zeit steht sie dafür nicht mal mehr auf. Die Keller aufzusuchen kostet Kraft, und sie schreibt: "Sollen sie mich doch umbringen."

Der Graf Verlag hat diesen Bericht sorgfältig ausgestattet mit Anmerkungen, Hintergrundinformationen sowie einem sehr persönlichen Vorwort der Schriftstellerin Lena Gorelik, die 1981 in Leningrad geboren wurde. Zusammen mit Gero Fedtke hat sie das Tagebuch aus dem Russischen übersetzt. Sie erzählt, wie die Blockade für sie als Nachgeborene eine Legende war, die den Kindern "Stolz" wie "Schauder" über den Rücken trieb. Die Blockade "war immer da" und das Brot vor den Augen der Großmutter nicht wegzuwerfen. Aber die Erinnerung an das, was ihre Familie durchlebte, drohte vergessen zu werden.

Jetzt gibt es zu der bestehenden Literatur eine neue, eine wichtige und beklemmend nachhaltige, weil unverstellte Stimme aus diesen 872 Tagen. Muss man noch damit werben, dass "Lenas Tagebuch" auch Befreiendes, Leichtes enthält? Lenas Zeilen über die Freude beim Kauf seltener, alter Ansichtskarten; das Grün im Mai, das sie wahrnimmt. Da wechselt sie einige Tage lang, durchaus literarisch ambitioniert, in die dritte Person und erzählt von sich selbst als Lena. Sie wohnt inzwischen bei Freunden und wartet auf die Ausreise. "Sie war fröhlich und fühlte sich gut." Dieser Perspektivwechsel ist irritierend, fast so, als probierte Lena Muchina ein neues Leben noch im alten aus. Da fühlt sie schon nichts mehr, nicht mal mehr Hunger, notiert sie. Eine Schriftstellerin mit Werk wurde aus Lena Muchina nicht. Auch keine Zoologin, ihr "Herzenswunsch". Sie arbeitete als Müllerin, als Mosaiklegerin und in der Industrie und blieb unverheiratet. Aber vielleicht hatte sie Tiere und Pflanzen, wie sie es sich im März 1941 ausmalte, in bildhafter Sprache, so dass man alles vor sich sieht. Das macht die Lektüre dieses Tagebuchs, dieses erstaunlichen Zeitdokuments berührend und eindrucksvoll.

ANJA HIRSCH

Lena Muchina: "Lenas Tagebuch". Leningrad 1941-1942.

Aus dem Russischen übersetzt und mit Vor- und Nachwort sowie Anmerkungen von Lena Gorelik und Gero Fedtke. Graf Verlag, München 2013. 375 S., geb., 18,- [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Sehr berührt ist Dorion Weickmann von diesem Tagebuch der jungen Leningraderin Lena Muchina, das sie nur mit dem der Anne Frank vergleichen kann. Von Mai 1941 bis Juni 1942 harrte das junge Mädchen in der Stadt aus, die drei Jahre lang von der Wehrmacht mit dem Ziel belagert wurde, die darin lebenden Menschen auszuhungern. Die Rezensentin liest vom Tod der Mutter, von Hunger, Verzweiflung und Einsamkeit. An der Authentizität der Aufzeichnungen lässt sie ebenso wenig Zweifel aufkommen wie an der Bedeutung des Dokuments, das Wissenschaftler, wie Weickmann informiert, erst jetzt im Petersburger Staatsarchiv fanden.

© Perlentaucher Medien GmbH
"Denn dieses gedruckte Denkmal besitzt die Kraft einer unzensierten Stimme, die zu den Nachgeborenen spricht.", Süddeutsche Zeitung, Dorion Weickmann, 10.12.2013