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Fünfundzwanzig Jahre nach dem Fall der Mauer und dem Ende der DDR erscheint Hanns-Josef Ortheils literarisches Tagebuch aus jener Zeit in einer neuen, erweiterten Ausgabe. In hochgenauen Bildern, Skizzen und Erzählungen führt uns dieser intensive Zeitroman an der Seite eines Autors, der die rasanten Umbrüche sensibel und mit hellwachem Geist beobachtet, zurück in eine der spannendsten Perioden der deutschen Nachkriegsgeschichte.

Produktbeschreibung
Fünfundzwanzig Jahre nach dem Fall der Mauer und dem Ende der DDR erscheint Hanns-Josef Ortheils literarisches Tagebuch aus jener Zeit in einer neuen, erweiterten Ausgabe. In hochgenauen Bildern, Skizzen und Erzählungen führt uns dieser intensive Zeitroman an der Seite eines Autors, der die rasanten Umbrüche sensibel und mit hellwachem Geist beobachtet, zurück in eine der spannendsten Perioden der deutschen Nachkriegsgeschichte.
Autorenporträt
Hanns-Josef Ortheil wurde 1951 in Köln geboren. Er ist Schriftsteller, Pianist und Professor für Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus an der Universität Hildesheim. Seit vielen Jahren gehört er zu den beliebtesten und meistgelesenen deutschen Autoren der Gegenwart. Sein Werk wurde mit vielen Preisen ausgezeichnet, darunter dem Thomas-Mann-Preis, dem Nicolas-Born-Preis, dem Stefan-Andres-Preis und dem Hannelore-Greve-Literaturpreis. Seine Romane wurden in über zwanzig Sprachen übersetzt.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.04.1996

Hier ein Pflöckchen, dort ein Fesselchen
Hanns-Josef Ortheil lauscht Europa / Von Hermann Kurzke

Alle warten auf den Deutschland-Roman. Hanns-Josef Ortheil nicht. "Im Grunde will niemand diesen Roman, kein Mensch will so etwas lesen. In Italien käme keine Seele auf den Gedanken, den neuen Berlusconi-Roman zu fordern . . . In Deutschland ist jedoch die Begriffsverwirrung so groß, daß man für jedes Thema den passenden Roman verlangt." Er habe längst keine Lust mehr auf Fiktion, sagt Ortheil. Schon mit seiner bemerkenswerten Autobiographie "Das Element des Elefanten" hatte er die Schwelle zum Ich-Sagen klopfenden Herzens überschritten. Spielerisch wechselnd zwischen "ich" und "er" und "O.", beehrt uns Ortheil nunmehr mit einem kunstvoll gearbeiteten Tagebuch.

Europa ist eine Frau, in der Mythologie jedenfalls. Wir wollen sie uns vorstellen als eine unruhig schlafende Riesin, hingebreitet auf den Kontinent, das Gesicht gen Osten - ex oriente lux -, die Gliedmaßen nach verschiedenen Richtungen ausgestreckt, manche entspannt, manche verrenkt. Ihre Lider zucken, sie murmelt im Schlaf. Hanns-Josef Ortheil belauscht ihr Murmeln, übersetzt es in sein gepflegtes Deutsch, murmelt manchmal mit. Von seiner Vertrautheit mit dem Urmurmeln des Kindes an der Weltbrust hatte er Kunde schon in seiner Autobiographie gegeben. Nun er nicht mehr Kind ist, aber ein Kind hat, redet er mit diesem in der Nacht, "unverständliches, nur uns beiden vertrautes, altes Reden, wie Ammenreden". Dann gibt der Schriftsteller dem Kind das Mitternachtsfläschchen und schämt sich dessen nicht.

Das geschieht in einem Stuttgarter Gartenhaus. Es atmet den Dichter aus, nach Prag, nach Rom, nach Wien und Berlin, nach Sofia und Leipzig, und es atmet ihn immer wieder ein. Zu ihm führt ein verborgener, paradiesischer Weg. Es liegt an Schienensträngen, den blanken Nerven, die O. als behutsamer Neurologe tastend befährt. Paris und London kehren der Dame Europa den Rücken zu. Ortheil ist ein westlicher Schriftsteller, groß geworden am Rhein, kein Nostalgiker mit masurischer Kindheit. Um so erstaunlicher ist seine Neugier auf den Osten. Er ekelt sich nicht, als die Eiterpusteln Europas aufbrechen, sondern fährt hin und schreibt mit. Er ist im Sommer 1989 bei den Botschaftsflüchtlingen in Prag. Er ist am Brandenburger Tor kurz nach seiner Öffnung. Er macht bei einer Lichterkette mit, stellvertretend peinlich berührt. Die Geschichte der letzten sieben Jahre zieht an uns vorüber, die Novemberdemonstrationen, der Golfkrieg, der Putsch in Moskau, die Stasi-Affären, die verbogenen Reste der Grenzanlagen, Solingen.

Im Vordergrund spielt ein Dichterleben mit seiner kuriosen Abgehobenheit vom Leben der meisten, mit Lese-Auftritten, Prominenz privat und der Villa Massimo. Alles wird von nahem gesehen, nicht posaunenhaft journalistisch, sondern in gestochen scharfer Wahrnehmung, der das Kleine gleich wichtig ist wie das Große, die das Licht erzählt und die Geräusche und den Geruch und nur ganz nebenbei die Lippen kräuselt über die Gruppe 47, die dem Dichter gleichgültig ist, oder den Aufwand an Mitleidseinsammlung der Dame Lupus, wie Christa Wolf hier genannt wird.

O. ist überzeugt davon, daß er Großes erlebt. Ihm ist, als hätte der Olymp getagt, um den Irdischen endlich ein paar Wunder zu gönnen. Den Fall der Mauer empfindet er als Vorgang von naiver Erhabenheit, der die Intellektuellen beschämt. Sie hatten begeistert die Thesen über Feuerbach gelesen und geglaubt, sie könnten die Welt verändern. Nun hat sich Frau Europa im Schlaf gerekelt wie Gulliver, die lächerlichen Pflöckchen und Fesselchen fielen von ihr ab, und zusammen mit einer Schar von Funktionären purzelten auch eine Menge Schriftsteller herab, die sich auf ihr zu schaffen gemacht hatten. Zu diesen möchte Ortheil nicht gehören. "Meine Freunde" nennt er sie, um sie ironisch vorzuführen, die Westler mit der DDR-Nostalgie. Wie konnten sie es so verklären, "dieses bleiche Land", wie O. es nennt, gebleicht und verödet durch den Totenacker, auf dem es errichtet wurde.

Geschichte: sie ist Musik. Die Meißel der Mauerspechte zirpen gen Himmel, und Hans-Dietrich Genscher kommt zu den Botschaftsflüchtlingen wie der königliche Sendbote, der in Beethovens "Fidelio" Florestan die Freiheit bringt. Es gibt Pathos im "Blauen Weg", weil es Größe gibt und noch mehr so altmodische Sachen. Es gibt die Geschichte als handelnde Macht, es gibt eine Art Hegelschen Weltgeist, und es gibt Helmut Kohl, "den guten Onkel des Weltgeistes", dem O. eine kaum verhohlene Bewunderung zollt. Bei einer wachtraumartigen Begegnung lädt ihn der Kanzler zu zwei Gläsern Sekt ein, "und die trinken sie dann, auf Mainz, auf Paul Gerhardt, auf die tiefsten, fernsten Meerestiefen!".

Was beide ergreift: Paul Gerhardts Lied "Nun danket all", besonders das "Er gebe uns ein fröhlich Herz, / erfrische Geist und Sinn, / und werf all Angst, Furcht, Sorg und Schmerz / in Meerestiefen hin!". Ein wenig geniert O. sich noch ob seiner Rührung. "Herr, hilf! Warum mußtest Du einen auch mit diesem Uraltlied überraschen." Regression! rufen spätestens hier die Wächter des Progressiven. Ja, es läßt sich nicht bestreiten, die Kindheit kehrt wieder mit ihrem Beten und Singen. In Rom, in Santa Croce, gerät er in einen Gottesdienst, ist mit dem Priester zu dritt und bemerkt, daß man auch von ihm eine Stimme erwartet, die das schöne Gotteshaus füllt. "Ob willentlich oder nicht - in solchen Momenten beginnt er zu singen . . ."

Ortheils "Langsam wird er wieder katholisch" erinnert entfernt an Botho Strauß, als er entschlossen verkündete, Rechtsdenken müsse sein. Den Anschwellenden Bocksgesang liest der Betrachter im Gartenhaus kopfschüttelnd, nicht hämisch: "Schade, daß gerade dieser Text so mißlang." Was ihn stört, ist das Brimborisieren, das Denkerposenhafte, der weihevolle Rilkeverschnitt. "Wer das Unbewegte, Mythische, Tiefe und Heilige propagiert, der hat es längst schon verloren. Wer es darstellen will, muß es zeigen, das ist sein Wagnis, aber nicht das Geschwätz, nicht das Darüberreden."

Ortheil zeigt es. Er zeigt den Bamberger Reiter, das Meßgewand des heiligen Willigis, das altdeutsche Märchen Goslar, die Kaiserdome zu Aachen und Magdeburg, im heiligen Köln Stefan Lochners Mutter Gottes in der Rosenlaube, schließlich den Papst in Rom höchstpersönlich ("zusammengesunken und totenbleich in einem hell aufschimmernden Mercedes"). In Hildesheim bewundert er ottonische Reliquien. In Fulda zitiert er das fränkische Taufgelöbnis: "Forsahhistu unholdun? Ich fursahu." (Widersagst du dem Teufel? Ich widersage.)

Er zeigt uns Papst und Kaiser und Reich, aber er macht kein Programm daraus. Er verlangt keine konservative Revolution. Ein mythischer Takt, der den Göttern nicht vorlaut die Bahn vorschreiben will, läßt ihn zögern. Er will Bescheidenheit, ja Demut vom Schriftsteller, obgleich sein hoher Stilanspruch ihm dabei manchmal im Wege steht. Er will bei den Erscheinungen bleiben und hält beinahe ostentativ immer dann inne, wenn sich Gelegenheit zu weltanschaulichen Bekenntnissen böte. Er kannegießert nicht, er beobachtet, horcht, teilt mit. Er hört Papst Gregors Schreiber murmeln, aber er behauptet nicht, das untergründig Grummelnde sei ein apokalypseschwangerer Bocksgesang. Der Grundton seines Buches ist gelassene Zustimmung zum Leben, nicht Aggression. Tragödie und Lustspiel sind in jeder Zeit vermischt. Es gibt nicht nur die Richtung auf den Untergang, sondern auch in unseren Tagen noch das große Glück, die Maueröffnung, das Kind, ein Lied, ein Gartenhaus.

Hanns-Josef Ortheil: "Blauer Weg". Piper Verlag, München und Zürich 1996. 488 S., geb., 48,- DM.

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