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Die Kybernetik war angetreten, die "zwei Kulturen" der Geistes- und Naturwissenschaften im Rahmen eines neuen Erklärungsversuchs miteinander zu versöhnen. Begriffe wie "Regelung" oder "Selbststeuerung" wurden auf den Menschen übertragen mit dem Ziel, eine "kybernetische Anthropologie" zu ermöglichen, mit deren Hilfe eine letzte einheitliche Bestimmung des Menschen gelingen sollte. Stefan Rieger entziffert in seiner materialreichen Studie diesen Entwurf einer Anthropologie als Episteme im Sinne Foucaults, in deren Zentrum der Begriff des "Bildes" alle Erklärungsanliegen bündeln soll: der Status…mehr

Produktbeschreibung
Die Kybernetik war angetreten, die "zwei Kulturen" der Geistes- und Naturwissenschaften im Rahmen eines neuen Erklärungsversuchs miteinander zu versöhnen. Begriffe wie "Regelung" oder "Selbststeuerung" wurden auf den Menschen übertragen mit dem Ziel, eine "kybernetische Anthropologie" zu ermöglichen, mit deren Hilfe eine letzte einheitliche Bestimmung des Menschen gelingen sollte. Stefan Rieger entziffert in seiner materialreichen Studie diesen Entwurf einer Anthropologie als Episteme im Sinne Foucaults, in deren Zentrum der Begriff des "Bildes" alle Erklärungsanliegen bündeln soll: der Status des Menschen, seine Stellung im Kosmos, seine Abgrenzung von Tier, Maschine und Umwelt. Der Mensch ist auf Bilder und Bildtypen angewiesen, und diese Struktur wird zum Definiens von Virtualität. Im Namen der Virtualität wird dem Menschen des 20. Jahrhunderts noch einmal der Versuch einer wesensmäßigen Bestimmung zuteil.
Autorenporträt
Rieger, StefanStefan Rieger ist Professor am Institut für Medienwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum. Im Suhrkamp Verlag bereits erschienen: Die Individualität der Medien. Eine Geschichte der Wissenschaften vom Menschen (stw 1520); Die Ästhetik des Menschen. Über das Technische in Leben und Kunst (stw 1600); Kybernetische Anthropologie. Eine Geschichte der Virtualität (stw 1680) und - zusammen mit Benjamin Bühler - Vom Übertier. Ein Bestiarium des Wissens (es 2459).
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.08.2004

Die Steuerbarkeit des Menschen
So viel Störrischkeit: Stefan Riegers „Kybernetische Anthropologie”
Ein Governor kommt nicht etwa nur in Westernfilmen vor, als mächtiger Mann, der von der fernen Stadt aus die Geschicke seines weiten Landes lenkt. Das Wort kann auch das winzige Teil einer Maschine zur Regelung von Fliehkraft meinen. Um Regulation geht es in beiden Fällen. Und die dazu gehörende Wissenschaft heißt Kybernetik. Ursprünglich behandelte sie regelungstechnische Probleme in Maschinen. Dann sickerte ihr Vokabular auch in andere Bereiche ein, und alles gerann zu einem regelungstechnischen Problem, die Politik, die Kindererziehung, selbst das Klavierspielen - alles schien regelbar.
Das war das Versprechen, das die Kybernetik nach dem Zweiten Weltkrieg mit sich brachte. Simple Schaltungen sollten das Gefälle zwischen Herrscher und Beherrschten ausgleichen. Doch erwiesen sich die Regulierten störrischer als geplant. Verkehrsstaus, Geburtenraten und Revolten - man schrieb Mai 1968, als die Kybernetik-Terminologie DIN-Standard wurde - verhielten sich nicht ganz so wie die Theorie von Feedback und Control es vorsah.
Als die Jugend aus den Schaltungen ihrer Verstärker dann auch noch einen ganz anderen Genuss zog, als Sozialingenieure sich hatten träumen lassen, ebbte die Begeisterung für die Regulierbarkeit des Menschen und seiner Umwelt wieder ab. Die DDR und andere Staaten des Plans hatten bereits die Konsequenz aus der allgemeinen Nichtplanbarkeit gezogen. Sie hatten die Kybernetik unter Generalverdacht der Subversion gestellt und folglich verboten. Zur Beschreibung unvorhersehbarer Phänomene empfahl sich von da an die Chaostheorie. Die Kybernetik geriet in Vergessenheit. Allenfalls in der Systemtheorie führte sie noch ein Schattendasein.
Inzwischen interessiert man sich wieder für die Steuerungskunde aus den sechziger Jahren wie für einen alten Onkel, den man nur von Fotos her kennt. Claus Pias gibt die Protokolle der Kybernetik-Konferenzen, die Macy-Conferences, die nach dem Krieg stattfanden, auf Englisch mit deutscher Übersetzung heraus. Jacques Lacans Rede „Kybernetik und Sprache” gilt als Lektüre-Muss unter Medienarchäologen, und in seinem jüngst erschienenen Buch „Gegenwartsvergessenheit” erinnert Wolfgang Hagen an verschiedene kybernetisch inspirierte Sozial- und Medientheorien. Der italienische Philosoph Giorgio Agamben schließlich sagt in einem Gespräch mit dieser Zeitung (siehe SZ vom 6. April), dass eine kybernetische Technologie der Menschenführung im Begriff sei, die rechtsstaatliche Gesetzesherrschaft abzulösen.
Governance nennen das die einen, Cyberlaw die anderen. Es ist üblich geworden, mit der von Cyber- oder Kybernetik erborgten Vorsilbe das zu belegen, was die Koordinaten von Raum und Zeit verlassen hat und in virtuelle Welten eingetreten ist. Doch was hat die modische Rede von der Virtualisierung mit der veralteten Kybernetik zu tun? Nach Stefan Rieger sehr viel:Virtualität ist das Ergebnis eines Zusammentreffens von Anthropologie und Kybernetik. Von der Konjunktion der Wissenschaft vom Menschen mit der Wissenschaft von Maschinen aus schreibt der Medienwissenschaftler seine Geschichte der Virtualität.
Zweitrangiger Kanon
Ihm ist darin zuzustimmen, dass diese Geschichte weiter zurückgeht als zu digitalen Computer- und Animationswelten, dass sie vielmehr bis zu den Bildern reicht, die noch analog verfertigt wurden. Rieger stellt eine eindrucksvolle Ahnenreihe aus Theoretikern unterschiedlicher Disziplinen des 20. Jahrhunderts zusammen. Sie alle betrachten Bilder als die Grundbedingung dafür, dass kybernetische Techniken der Selbst- und Fremdregulierung des Menschen funktionieren.
Das Spektrum dieser Bilder reicht von technischen über kinematographische hin zu Bildern der Phantasie. Unterschiedlichste Theorien zu diesen Bildwelten liest Rieger auf ihren gemeinsamen, anthropologisch-kybernetischen Kern hin. Es sind lauter zweitrangige Wissenschaftler, die aus dem Kanon von Kybernetik und Anthropologie verschwunden sind. Begraben liegen sie unter der Wucht großer Namen wie Wiener, Shannon, von Neumann, Gehlen, Plessner und Levi- Strauss, die ihrerseits oftmals bloß am Rand Erwähnung finden.
Man weiß nicht, ob man es dem Autor danken soll, dass er die Vergessenen aus der Versenkung hervorgeholt hat, verschwinden sie doch, kaum dass er sie angepriesen hat, schon wieder dorthin. Die hektischen Vor- und Rückverweise innerhalb seines Buchs lassen den wiederentdeckten Theoretikern oft gar keine Chance, ihre Bedeutung für eine kybernetische Anthropologie evident zu machen. „Universal argumentierende Denkweisen” sollen sie einen, wie die universal angelegte Studie beteuert. Eine partikular argumentierende Einordnung in die Diskursgeschichte hätte den disparaten Denkern aus Ingenieurs- und Geisteswissenschaften zweifellos besser getan.
Mitunter wird das neue Diskursfeld der kybernetischen Anthropologie planlos bestellt. Komplexitätsreduktion hieß eines der Zauberworte der Kybernetik. Doch bekanntlich stellt die sich nicht von selbst ein, nur weil das reiche, teilweise kuriose Material auf drei Bücher verteilt werden kann. Die „Kybernetische Anthropologie” gehört nämlich in eine Trilogie über den Menschen als Ermöglichungsgrund und als Gegenstand von Wissen und Künsten. Voraus gingen „Die Individualität der Medien. Eine Geschichte der Wissenschaften vom Menschen” und „Die Ästhetik des Menschen”. Den dritten Band beendet ein Hinweis auf das Barock mit seiner unendlichen Lust am unendlichen Kombinieren. Diese Unendlichkeit sollten erst die Rückkopplungsschleifen der Kybernetik zum Halten bringen. Zu erinnern ist hier an den Autor eines Buchs über genau diese barocke Kombinatorik: „Speichern/Merken” von Stefan Rieger.
CORNELIA VISMANN
STEFAN RIEGER: Kybernetische Anthropologie. Eine Geschichte der Virtualität. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003. 566 Seiten, 18 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Einst in Vergessenheit geraten, regt sich inzwischen wieder Interesse an der Kybernetik, berichtet Cornelia Vismann im Blick auf Stefan Riegers "Kybernetische Anthropologie. Eine Geschichte der Virtualität". Der Medienwissenschaftler verstehe Virtualität als das Ergebnis des Zusammentreffens von Anthropologie und Kybernetik. Auf Zustimmung stößt er bei der Rezensentin vor allem mit seiner These, dass die Geschichte der Virtualität weiter zurückgehe als zu digitalen Computer- und Animationswelten, und sie bis zu den Bildern reiche, die noch analog verfertigt wurden. Sie hebt hervor, dass Rieger eine "eindrucksvolle Ahnenreihe" aus Theoretikern unterschiedlicher Disziplinen des 20. Jahrhunderts zusammenstellt, die Bilder als die Grundbedingung dafür betrachteten, dass kybernetische Techniken der Selbst- und Fremdregulierung des Menschen funktionieren. Allerdings gebe der Autor den wiederentdeckten Theoretikern in seinen "hektischen Vor- und Rückverweisen" oft gar keine Chance, so die Kritik Vismanns, "ihre Bedeutung für eine kybernetische Anthropologie evident zu machen."

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