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Viele gute Ideen haben wir der Reformpädagogik zu verdanken. Doch die Fähigkeit zur Selbstkritik scheint ihr bisweilen zu fehlen mit fatalen Folgen für die ihr anvertrauten Schützlinge. Die Odenwaldschule galt fast hundert Jahre lang als das reformpädagogische Vorzeigeinternat und war doch Schauplatz eines unheimlichen Lehrstücks. Während man den Schulleiter Gerold Becker als charismatischen Superlehrer feierte, ließ dieser alle Formen sexuellen Missbrauchs zu und beging sie selbst. Christian Füller, Journalist und ausgewiesener Kenner der Bildungslandschaft Deutschland, stellt in Sündenfall…mehr

Produktbeschreibung
Viele gute Ideen haben wir der Reformpädagogik zu verdanken. Doch die Fähigkeit zur Selbstkritik scheint ihr bisweilen zu fehlen mit fatalen Folgen für die ihr anvertrauten Schützlinge. Die Odenwaldschule galt fast hundert Jahre lang als das reformpädagogische Vorzeigeinternat und war doch Schauplatz eines unheimlichen Lehrstücks. Während man den Schulleiter Gerold Becker als charismatischen Superlehrer feierte, ließ dieser alle Formen sexuellen Missbrauchs zu und beging sie selbst. Christian Füller, Journalist und ausgewiesener Kenner der Bildungslandschaft Deutschland, stellt in Sündenfall die entscheidende Frage: ob nicht der Missbrauch die Achillesferse der Reformpädagogik ist. Nur wenn sich die Reformpädagogen mit der Nähe zwischen Lehrern und Schülern aufrichtig auseinandersetzen, können sie ihre Integrität zurückgewinnen und Schüler geschützt werden.
"Wodurch ließ sich die pädagogische Elite Deutschlands korrumpieren? Sie hat getan, was sie nie wieder tun wollte: wegsehen, nicht-wahrhaben-wollen, zum Komplizen werden. Der Fall Odenwaldschule ist der Sündenfall der liberalen Republik." Christian Füller
Autorenporträt
Christian Füller, geboren 1963, ist Politikredakteur bei der "taz" und schreibt regelmäßig für SPIEGEL ONLINE über Bildung und Schule.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 16.03.2011

Sündenfälle mit System
Moralischer Bankrott der Reformer: Christian Füller
berichtet über Missbrauch an der Odenwaldschule
Es kommt selten vor, dass ein Buch mit einer persönlichen Entschuldigung beginnt. Christian Füller, Journalist der taz und dort seit langem mit Bildungsthemen betraut, bittet in seinem Buch über die sexuellen Missbrauchsfälle an der Odenwaldschule um Verzeihung. Es sei ein „schwerer professioneller Fehler“ gewesen, dass er Ende der neunziger Jahre auf erste Medienberichte nicht reagiert habe. Füller ist als journalistisches Raubein bekannt, aber die verschleppte Geschichte der Odenwaldschule hat ihn getroffen und sehr bewegt.
Für Füller und die meisten Linksliberalen des Landes war das private Internat im hessischen Heppenheim lange Zeit ein leuchtendes Vorbild. Es war der Inbegriff einer kindgerechten und demokratischen Reformpädagogik. Vor einem Jahr ist dann Schritt für Schritt die grausame Wahrheit ans Licht gekommen. Mindestens 132 Schüler sind in den vergangenen Jahrzehnten Opfer sexueller Übergriffe geworden; so haben es zwei Juristinnen im Auftrag des Internats ermittelt. Der Fall Odenwaldschule sei „der Sündenfall der liberalen Republik“, schreibt Füller. „Und der moralische Bankrott beinahe der gesamten reformpädagogischen Elite.“
Einer der Haupttäter, den der Abschlussbericht der Schule benennt, war der Direktor Gerold Becker, der das Internat in den siebziger und Anfang der achtziger Jahre leitete. Becker stand unter dem Schutz seines Freundes Hartmut von Hentig, des einflussreichen Intellektuellen und Star-Pädagogen. Schonungslos beschreibt Füller das „System Becker“: wie sich der Pädagoge den Schülern näherte, wie er sie gefügig und sich selbst unangreifbar machte und immer wieder damit durchkam. Das Buch ist geschrieben als packender Report der Ereignisse, weniger als distanzierte Reflexion, auch wenn Füller immer wieder die Verbindungen zur reformpädagogischen Bewegung und ihren Akteuren herstellt.
Wie andere Reporter hat Füller in den vergangenen Monaten oft mit ehemaligen Schülern und Lehrern gesprochen, die Schule besucht, Akten und Dokumente studiert. Viele Aspekte, die das Buch zusammenfügt, sind bereits bekannt. Füller hat sich aber auch das Ziel gesetzt, Licht in das bisher wenig bekannte Vorleben Beckers zu bringen.
Bevor dieser als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Hartmut von Hentig kennenlernte und bevor er schließlich an die Odenwaldschule ging, hatte Gerold Becker Theologie studiert und kurze Zeit in Linz als Vikar gearbeitet. Füller ist es gelungen, Zeugen zu finden, denen Beckers Pädophilie bereits in dessen Studienzeit auffiel.
Als junger Mann soll er sich als Leiter einer Gruppe der evangelischen Jugend an Jungen herangemacht haben. Und auch in Linz habe es entsprechende Vorwürfe gegeben. Dennoch machte Gerold Becker rasch als Pädagoge Karriere; er war erst 36 Jahre alt, als er die Leitung der berühmten Odenwaldschule übernahm. Seine „psychischen Spannungen müssen riesig gewesen sein“, schreibt Füller. „Hier angesehener Gast prominenter Runden. Dort triebgesteuerter Teil einer Internatsfamilie mit Jugendlichen.“
Gestützt durch seinen Freund Hartmut von Hentig, wurde Becker zu einer kleinen Berühmtheit in der Pädagogen-Zunft. Seine Ausstrahlung beeindruckte und blendete damals viele. Füller spricht von dem Modell einer „aristokratischen Androkratie“ – einer Herrschaft, in der die Männer mit der größten Ausstrahlung das Sagen gehabt hätten.
Becker starb im vergangenen Sommer, zuvor hatte er sich in allgemeiner Form bei seinen ehemaligen Schülern entschuldigt. Für alle, die mit der Odenwaldschule unmittelbar zu tun hatten oder haben, sind Füllers Recherchen bedeutsam. Das breite Publikum erlangt dabei allerdings nicht unbedingt völlig neue Einsichten. Denn dass an der Odenwaldschule Pädokriminelle ihr Unwesen trieben, weiß es ja schon. Und die Details ihrer Taten wird wohl nicht jeder erfahren wollen.
Für viele Opfer ist es jedoch befreiend, dass ihre Leidensgeschichte gehört und ernst genommen wird. Das Buch beginnt deshalb mit den Schilderungen ehemaliger Schüler, die erzählen, was Lehrer ihnen antaten. Wie immer, wenn sexuelle Gewalt beschrieben wird, ist es ein schmaler Grat. Da ist einerseits der Aufklärungswille und das Gebot, endlich zu sagen, was war, wie es war und wer es war. Da ist andererseits die Gefahr, dass die Geschichten einen keineswegs mehr aufklärerischen Voyeurismus bedienen und dass sie die Betroffenen re-traumatisieren. Füllers Buch enthält ein paar drastische Szenen; allerdings gäbe es noch viele grausame Details, die er dem Leser und den Betroffenen zu Recht erspart.
Füllers Bericht ist nicht der einzige, der in dieser Spannung zwischen Diskretion und Aufklärung steht. Noch in diesem Jahr sollen Bücher der ehemaligen Odenwaldschüler Tilman Jens und Jürgen Dehmers erscheinen. Dehmers (ein Pseudonym) ist einer der Betroffenen; er war es, der die Missbrauchsfälle Ende der neunziger Jahre und dann im vergangenen Jahr publik machte.
Weil die Übergriffe strafrechtlich verjährt sind, fehlt eine juristische Aufarbeitung der Taten. Die Publizistik muss die Aufklärung allein bewältigen. Und sich dabei auch noch selbstkritisch mit eigenen Versäumnissen und Fehlern auseinandersetzen. Ohne lange drum herum zu reden oder zu beschwichtigen, beschreibt Füller die historische Verstrickung des alternativen Milieus und speziell der linken Tageszeitung taz mit der Pädophilen-Lobby.
Für Jüngere ist diese Verstrickung heute kaum noch zu begreifen. Doch in den siebziger und achtziger Jahren erschien sie vielen offenbar gar nicht anstößig. Anfang der siebziger Jahre unterrichtete ein Lehrer an dem Internat, der später zu den Gründern der taz gehörte. Auch er soll sich in der Odenwaldschule an Schülern vergangen haben. Man muss es Christian Füller hoch anrechnen, dass er in seiner Redaktion und in seinem Buch bei diesem Thema kein Blatt vor den Mund nimmt. TANJEV SCHULTZ
CHRISTIAN FÜLLER: Sündenfall. Wie die Reformschule ihre Ideale missbrauchte. Dumont Buchverlag, Köln 2011. 256 Seiten, 18,99 Euro.
Für viele Opfer ist es befreiend,
dass ihre Leidensgeschichte
gehört und ernst genommen wird
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"Man muss es Füller hoch anrechnen, dass er in seiner Redaktion und in seinem Buch bei diesem Thema kein Blatt vor den Mund nimmt." -- SÜDDEUTSCHE ZEITUNG

Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Warnschilder wie dieses Buch kann es laut Rezensent Jörg Schindler schon darum nicht genug geben, weil nicht jeder aus Schaden klug wird, wie er schreibt. Weil ihm die Versuche, etwa Hartmut von Hentigs, den Fall Odenwaldschule zu verharmlosen und die Reformpädagogik in Schutz zu nehmen, unheimlich erscheinen. Dass der taz-Journalist Christian Füller sich mit seiner Nachlese zum "System Odenwaldschule" dieser Warnung verschreibt, indem er bis heute unbeantwortete Fragen, so die nach einem etwaigen ursächlichen Zusammenhang von Reformpädagogik und Pädokriminalität, eindringlich stellt, hält Schindler für höchst anerkennenswert. Auch wenn Füller nicht jede Frage auch beantworten kann, meint Schindler, so biete das Buch doch genug neue Einsichten - beispielsweise darüber, wie Gerold Becker seinen Kopf immer wieder aus der Schlinge ziehen konnte - die den Skandal noch ungeheuerlicher machen. Dahinter steckt der Hang zum Selbstbetrug, zum Schweigen und Wegsehen, lernt der Rezensent, und der ist noch immer weit verbreitet.

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