Das Ostseeland Litauen ist geprägt von der bewegten Geschichte vieler Völker und Kulturen. Goethe und Herder studierten die Lieder der litauischen Fischer und Bauern, Thomas Mann rühmte in Nidden den "elementarischen Eindruck" der höchsten Dünen Europas. Die Sehnsucht der polnischen Dichter galt dem mythischen Land der von heidnischen Göttern bewohnten Urwälder, und als märchenhaftes "Nirgendwo" hielt es Einzug in die westeuropäische Literatur, in die Werke Stendhals, Mérimées und Jarrys. Vilnius, das in der Shoah ausgelöschte "Jerusalem des Nordens", war eines der bedeutendsten geistigen Zentren des Judentums. Für viele russische Intellektuelle bis zu Joseph Brodsky war Litauen Exil oder Reiseland.
Claudia Sinnig lädt zu einer Entdeckungsreise durch das größte der baltischen Länder ein, mit Texten berühmter Autorinnen und Autoren im Gepäck.
Claudia Sinnig lädt zu einer Entdeckungsreise durch das größte der baltischen Länder ein, mit Texten berühmter Autorinnen und Autoren im Gepäck.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.10.2002Land Nirgendwo
Wo, um Himmels willen,
liegt Litauen?
Gleich am Anfang von T.S. Eliots epischem Gedicht „The Waste Land” („Das wüste Land”), das von einem exilierten Litauer – Tomas Venclova – ins Litauische und von einem gleich zweifach exilierten „Litauer polnischer Nation” – Czeslaw Milosz – ins Polnische übertragen worden ist, steht der Vers: „Bin gar keine Russin, stamm’ aus Litauen, echt deutsch.” Er könnte um so viele Lesarten weitergehen, wie verschiedene Ethnien in dieser Region einst lebten oder heute noch leben: „echt jüdisch, polnisch, ruthenisch, ukrainisch, weißrussisch, lettisch ...”. Es muss ein riesiges Land gewesen sein, das sagenumwobene Märchenreich Litauen, dessen größte Städte weit entfernt von den tausend Seen, den hundert Flüssen und dem einen baltischen Meer liegen: Sie heißen New York und Chicago, wo mehr litauische Einwanderer und deren Nachfahren als im Stammland leben.
Mit allen Teufeln ausgestattet
Czeslaw Milosz schrieb einmal, das moderne Litauen sei eigentlich von der Philologie geschaffen worden. Vielleicht kennt es gerade deshalb nicht die starken Traditionen einer Nationalliteratur und dafür doch den Gewinn vieler Literaturen unter vielen Namen und in vielen Sprachen: ein erträumtes, ein unmögliches Land, das zwar – so wie „Das Tal der Issa” von Milosz’ Kindheitsroman – dem Paradies gleicht, daneben aber auch mit allen Teufeln und Teufelchen ausgestattet ist, über die sonst nur die Hölle und das Fegefeuer verfügen.
Wer dieses Land suchen möchte und sich dahin auf den Weg machen will, dem gibt Claudia Sinnig einen „literarischen Reisebegleiter” an die Hand. Er beginnt mit einem kurzen historischen Überblick, dessen Kernsatz der einzige verlässliche Wegweiser für die Reise ist: „Litauen scheint sich bei näherem Hinsehen in seine Bestandteile aufzulösen.” Und dann folgt eine Einführung, die konsequenterweise die „Ausreise” vor die „Einreise” und den „Abschied” vor die „Ankunft” setzt. Nach den Präliminarien kann man Reisenden, Schriftstellern und Dichtern vieler Nationen aus Vergangenheit und Gegenwart durch ein von der Geschichte mehrfach verwüstetes Land folgen. Vor allzu vertrauter Annäherung sei freilich gewarnt: Sogar „auf der Kurischen Nehrung”, dem kleinen Zipfelchen auf den Landkarten, an dem wir als Schulkinder so gerne herumspielten, ist – wie der Königsberger Reisende Ludwig Passarge schon vor mehr als hundert Jahren wusste – „die Zahl der Schiffbrüche sehr groß”.
Störend an dieser nützlichen Anthologie im Taschenbuchformat ist nur, dass Lektorat und Herstellung auf die Kennzeichnung der literarischen Textauszüge durch die gute alte Einrichtung der An- und Abführungszeichen glaubten verzichten zu können.
VOLKER BREIDECKER
CLAUDIA SINNIG: Litauen. Ein literarischer Reisebegleiter. Insel Verlag, Frankfurt am Main und Leipzig 2002. 318 Seiten. 12 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Wo, um Himmels willen,
liegt Litauen?
Gleich am Anfang von T.S. Eliots epischem Gedicht „The Waste Land” („Das wüste Land”), das von einem exilierten Litauer – Tomas Venclova – ins Litauische und von einem gleich zweifach exilierten „Litauer polnischer Nation” – Czeslaw Milosz – ins Polnische übertragen worden ist, steht der Vers: „Bin gar keine Russin, stamm’ aus Litauen, echt deutsch.” Er könnte um so viele Lesarten weitergehen, wie verschiedene Ethnien in dieser Region einst lebten oder heute noch leben: „echt jüdisch, polnisch, ruthenisch, ukrainisch, weißrussisch, lettisch ...”. Es muss ein riesiges Land gewesen sein, das sagenumwobene Märchenreich Litauen, dessen größte Städte weit entfernt von den tausend Seen, den hundert Flüssen und dem einen baltischen Meer liegen: Sie heißen New York und Chicago, wo mehr litauische Einwanderer und deren Nachfahren als im Stammland leben.
Mit allen Teufeln ausgestattet
Czeslaw Milosz schrieb einmal, das moderne Litauen sei eigentlich von der Philologie geschaffen worden. Vielleicht kennt es gerade deshalb nicht die starken Traditionen einer Nationalliteratur und dafür doch den Gewinn vieler Literaturen unter vielen Namen und in vielen Sprachen: ein erträumtes, ein unmögliches Land, das zwar – so wie „Das Tal der Issa” von Milosz’ Kindheitsroman – dem Paradies gleicht, daneben aber auch mit allen Teufeln und Teufelchen ausgestattet ist, über die sonst nur die Hölle und das Fegefeuer verfügen.
Wer dieses Land suchen möchte und sich dahin auf den Weg machen will, dem gibt Claudia Sinnig einen „literarischen Reisebegleiter” an die Hand. Er beginnt mit einem kurzen historischen Überblick, dessen Kernsatz der einzige verlässliche Wegweiser für die Reise ist: „Litauen scheint sich bei näherem Hinsehen in seine Bestandteile aufzulösen.” Und dann folgt eine Einführung, die konsequenterweise die „Ausreise” vor die „Einreise” und den „Abschied” vor die „Ankunft” setzt. Nach den Präliminarien kann man Reisenden, Schriftstellern und Dichtern vieler Nationen aus Vergangenheit und Gegenwart durch ein von der Geschichte mehrfach verwüstetes Land folgen. Vor allzu vertrauter Annäherung sei freilich gewarnt: Sogar „auf der Kurischen Nehrung”, dem kleinen Zipfelchen auf den Landkarten, an dem wir als Schulkinder so gerne herumspielten, ist – wie der Königsberger Reisende Ludwig Passarge schon vor mehr als hundert Jahren wusste – „die Zahl der Schiffbrüche sehr groß”.
Störend an dieser nützlichen Anthologie im Taschenbuchformat ist nur, dass Lektorat und Herstellung auf die Kennzeichnung der literarischen Textauszüge durch die gute alte Einrichtung der An- und Abführungszeichen glaubten verzichten zu können.
VOLKER BREIDECKER
CLAUDIA SINNIG: Litauen. Ein literarischer Reisebegleiter. Insel Verlag, Frankfurt am Main und Leipzig 2002. 318 Seiten. 12 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Pünktlich zur Frankfurter Buchmesse, die in diesem Jahr Litauen als Gastland präsentiert, erscheint dieser literarischer Reisebegleiter, den Autorin Claudia Sinnig denen an die Hand gibt, die das "erträumte, unmögliche Land", wie Volker Breidecker es ausdrückt, näher kennen lernen möchten. Dabei bedient sich Sinnig nach Einschub eines historischen Überblicks einer Reihe von Textauszügen, die Reisende, Schriftsteller und Dichter über Litauen verfasst haben. Breidecker nennt das Buch eine "nützliche Anthologie", zeigt sich jedoch irritiert, dass auf Anführungszeichen für die zitierten Texte verzichtet wurde.
© Perlentaucher Medien GmbH
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