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Wochenlang reiste Roger Willemsen mit dem Zug durch Deutschland, von Konstanz nach Kap Arkona, von Bonn nach Berlin. Aus seinen Begegnungen mit Menschen unterschiedlicher Art entsteht das facettenreiche Bild eines Landes. Mit wachem Blick entdeckt er das Wesentliche im Alltäglichen und das Typische im Zufälligen - das Glück und Unglück des ganz normalen Lebens.

Produktbeschreibung
Wochenlang reiste Roger Willemsen mit dem Zug durch Deutschland, von Konstanz nach Kap Arkona, von Bonn nach Berlin. Aus seinen Begegnungen mit Menschen unterschiedlicher Art entsteht das facettenreiche Bild eines Landes. Mit wachem Blick entdeckt er das Wesentliche im Alltäglichen und das Typische im Zufälligen - das Glück und Unglück des ganz normalen Lebens.
Autorenporträt
Roger Willemsen, geboren 1955 in Bonn, gestorben 2016 in Wentorf bei Hamburg, arbeitete zunächst als Dozent, Übersetzer und Korrespondent aus London, ab 1991 auch als Moderator, Regisseur und Produzent fürs Fernsehen. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Bayerischen Fernsehpreis und den Adolf-Grimme-Preis in Gold, den Rinke- und den Julius-Campe-Preis, den Prix Pantheon-Sonderpreis, den Deutschen Hörbuchpreis und die Ehrengabe der Heinrich-Heine-Gesellschaft. Willemsen war Honorarprofessor für Literaturwissenschaft an der Humboldt-Universität in Berlin, Schirmherr des Afghanischen Frauenvereins und stand mit zahlreichen Soloprogrammen auf der Bühne. Zuletzt erschienen im S. Fischer Verlag seine Bestseller »Der Knacks«, »Die Enden der Welt«, »Momentum«, »Das Hohe Haus« und »Wer wir waren«. Über Roger Willemsens umfangreiches Werk informiert der Band »Der leidenschaftliche Zeitgenosse«, herausgegeben von Insa Wilke. Willemsens künstlerischer Nachlass befindet sich im Archiv der Akademie der Künste, Berlin.  Literaturpreise: Rinke-Preis 2009 Julius-Campe-Preis 2011 Prix Pantheon-Sonderpreis 2012
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.05.2006

Deutsche Grenzgänger
Reise als hybrides Genre

In Rückbesinnung auf Heinrich Heines "Harzreise" und das "Wintermärchen" hat sich mittlerweile eine neue Gattung von Deutschlandbüchern etabliert, die fröhlich an der Grenze zwischen Belletristik und Sachbuch entlangwandern, um die persönlichen, politischen und poetischen Zustände der deutschen Gegenwart zu ermessen.

Den Anfang machte im Jahre 2002 Roger Willemsens überaus erfolgreiche "Deutschlandreise" (Eichborn-Verlag), auf welcher der Autor nach seinem freiwilligen Abschied vom Status der Fernsehprominenz erkunden wollte, wie das Land aussieht, auf das er jahrelang sein Bild projiziert hatte. Er nahm den Zug und hörte den Leuten zu. Dabei fielen ihm Dinge auf, die wenig mit den großen nationalen Klischees zu tun hatten, aber mit großer Präzision Veränderungen der deutschen Lebenswelt beschreiben, etwa der Umstand, daß alle permanent irgendwas essen, die Leute so dicke Füße haben und daß sich manche Innenstädte mit Shopping-Malls von der Außenwelt abschneiden. Es wundert einen dann nicht mehr, wenn Jahre später der Berliner Hauptbahnhof im wesentlichen als eine von der Stadt isolierte Shopping-Mall mit lauter "Schlürfereien" gebaut wird und sogar die Kanzlerin vor allem die Dönerbuden lobend erwähnt. "Kein Geschmack im Essen, kein Sinn im Leben, keine Zeit, keine Zeit", faßte Willemsen seinen Eindruck des Landes zusammen.

Auch Wolfgang Büschers "Deutschland, eine Reise" (S. Fischer) etablierte in diesem Zusammenhang ein völlig neues Genre. Büscher lief einmal im Uhrzeigersinn um Deutschland herum und besichtigte mit Vorliebe jene Orte, die er als linker Student nicht zur Kenntnis nehmen wollte, seien es die Orte der deutschen Opfer im alliierten Bombenkrieg, seien es mythische Orte wie der Harz oder der Obersalzberg. Doch am nachhaltigsten sind seine Schilderungen von intakten Bräuchen, etwa der Gesangsabende in ländlichen Gaststätten, die er effektvoll mit den Verheerungen des Lebens rund um eine westdeutsche Fußgängerzone kontrastiert. Büscher kann bestens vermitteln, wie und in welcher Form die NS- und Kriegsvergangenheit in den Narben der Städte und dem Leben auch der heutigen Deutschen weiterwirkt.

Matthias Matusseks "Wir Deutschen" (S. Fischer) ist entgegen seinem Titel in seinen besten Teilen ein Reisebuch. Die Interviews mit den Herren von Dohnanyi und Harald Schmidt mögen sich in die Länge ziehen - denn man hatte ja, wenn man nicht wie der Autor die letzten Jahre im Ausland verbracht hat, weiß Gott die Gelegenheit, deren Meinung zu fast allem immerzu ausgiebig zu hören. Der historisch reflektierende Teil mag arg knapp geraten sein, doch die tagebuchartigen Passagen, in denen der Autor bissig seine Beobachtungen auf allerlei Abendessen, in Talkshows und bei Empfängen notiert, sind als Sittenbild des neuen Berlins durchaus lesenswert. Auch hier sind die grenzüberschreitenden Reflexionen über die persönliche Geschichte, die Familie am anrührendsten.

mink

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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 06.11.2002

Durch das Eroscenter geht ein Ruck
Vieles ist unerquicklich auf Roger Willemsens „Deutschlandreise”, aber nicht an allem ist Deutschland schuld
„Deutschlandreise”, so hieß das Brettspiel, bei dem es darum ging, dass jeder Spieler mit seiner Spielfigur alle Städte in Deutschland erreichen und von ihnen wieder nach Hause zurückkehren sollte. Etwas Ähnliches hat sich Roger Willemsen vorgenommen: einen Sommer und einen Frühling lang ist er mit dem Zug kreuz und quer durchs Land gefahren. Touristisch Lohnendes hat er dabei nicht entdeckt. Seinen Feldforschungen könnte viel mehr der Vers als Motto dienen, den Robert Gernhardt einst über Metzingen schrieb: „Dich will ich loben: Hässliches / Du hast so was Verlässliches”. Der Unterschied ist, dass Willemsen das Hässliche nicht loben mag. Eher macht es ihn, in der Nachfolge Adornos, traurig: „Über die Hügel und in die Wälder, über die Dörfer und in die Kleinstadt. Jeder Ort hat noch seine ,gemütliche Altstadtkneipe‘ namens ‚Funzel‘ oder ‚Peters Klause‘, der Ramschladen heißt noch ‚Knüllers Kiste‘, der Trödelladen ‚Sammelsurium‘, die Änderungsschneiderei ‚Nähkorb‘.”
So wahr, so wahr, möchte man seufzen, und noch das Wörtchen ‚noch‘ verrät nichts Gutes. Tatsächlich ist es egal, wie die Orte heißen. Unter Willemsens strengem Blick sehen sie doch allesamt wie Unorte aus. Unweit von Stralsund „eine Art Landschaft. Wo man zwischen ‚Tamoil‘-Tankstellen, ‚Skoda‘- Autovertretung, Metallaufbereitung und Windkraft-Gewinnung den Star unter den Schauräumen trifft, das ‚Autohaus Boris Becker‘. Die ‚Aloha Sommeraktion‘ ist dort gerade annonciert. Aloha”. In Frankfurt/Oder stehen „bei ‚King Kebab dem Ersten ... die Melancholischen und Bitteren, Männer mit Dosenbier und wenigen, aber tiefschwarz gefärbten Haaren, Frauen in Jogging-Anzügen oder Kittelschürzen, George-Grosz’sche Kleinbürger-Karikaturen”. Trier mutet zwar im Innern ganz passabel an, aber dann: „Aus der Stadt raus. Erst das ‚Tiefkühlparadies‘, drei Häuser weiter die Matratzenfabrik, dann ein Plakat mit dem Schädel Roman Herzogs und dem Slogan ‚Durch Deutschland muss ein Ruck gehen‘. Der geht durch Deutschland genau gegenüber. ‚Zum Hühnerstall‘ heißt das Eroscenter”. Der Gag mit dem Ruck sagt ebenso wie der Hinweis auf Grosz etwas über Willemsens erhöhten Standort. In solchen Erzählmomenten zwinkert er hinüber zu den Gleichgesinnten, zu Leuten, die Sonny Rollins hören und „Willemsens Woche” sahen, als es sie noch gab.
Überall Blumfeld
Damals, bei Jazz und Prominenten, war die Welt gewiss aufregender, jedenfalls nicht so hässlich. Ein Dünkel macht sich in Willemsens Erkundungen bemerkbar, ein Hochmut des Welt- und Bildungsbürgers gegenüber den Massen. Vielleicht hat es mit den Erfahrungen des Autors als Aktiver in einem Massenmedium zu tun. Selbst ist er vom Fernsehen genesen, hat den Dienst im Frühjahr 2002 quittiert, um sich, wie es der Klappentext getragen formuliert, „vor allem dem Schreiben wieder zuzuwenden”. Nun mag er keine Gnade mehr walten lassen für die „15 Millionen Menschen”, die sich „eine sterbenslangweilige Wetten, dass-Sendung ansehen.” Diese Leute verzichteten, meint er, „auf Erfahrungen mit der Wirklichkeit aus Hunger nach Gemeinschaft”. Seine Deutschlandreise kann man auch als Versuch verstehen, sich nach langen Jahren im Schoß von Sendeanstalten wieder der Wirklichkeit auszusetzen, mit nichts als einem Stift und einem Mikrophon durch Gegenden zu ziehen, wo die Leute keine Prominenten sind und überdies den falschen Musikgeschmack haben. Kathrin, die Reisebegleiterin nach Rügen, will statt John Coltrane lieber Blumfeld hören, Musik, die Willemsen nach eigenem Bekunden nicht versteht. Aber dafür kann Deutschland ausnahmsweise nichts.
Dass es Willemsen zurück zum Schreiben drängte, kann man verstehen, denn er ist ein glänzender ... Schriftsteller? Schreiber? So leicht ist das in diesem Fall nicht zu entscheiden. Vielleicht dürfte ein Schriftsteller ein Wort wie „Freizeituniformen” einfach nicht benutzen, aber was bliebe dann noch von der deutschen Gegenwartsliteratur? Fest steht, dass Willemsen über eine verführerische und selbstverführerische Gewandtheit des Ausdrucks verfügt, über eine leichtfüßige Intelligenz, wie sie in der Literaturwelt selten anzutreffen sind. Aber gehört Willemsen überhaupt zur Literaturwelt? Ist er dafür nicht zu wendig, zu verliebt in die eigene Brillanz, jederzeit bereit, für eine gute Pointe die Nächstenliebe zu vernachlässigen ? Das stimmt wohl, muss aber nicht zu Willemsens Lasten gehen. Es wäre kein Schaden für die Literatur, wenn es mehr Bücher wie dieses gäbe, flüssig geschrieben, scharf beobachtend, reich an Erfahrungen.
Natürlich will es Willemsen nicht mit dem Beobachten bewenden lassen. Er ist auf eigene Einsichten aus und auf eine Art der aphoristischen Zuspitzung, die von ferne an Karl Kraus erinnert: „Nicht in das Gemeinschaftsleben ist man eingetreten, sondern man hat das Wachkoma geteilt”, heißt es einmal über das Volk der Fernseher. Man spürt in solchen Sätzen neben der Freude am urteilsscharfen Formulieren eine Bitterkeit, fast eine Trauer, die man romantisch nennen könnte. Das „Gemeinschaftsleben”, wie kann es sein, dass ausgerechnet ein ehemaliger Fernsehschaffender so etwas einklagt? Klingt es nicht fast nach Pastor Fliege, wenn Willemsen von einer Spezies von Geschäftsmännern sagt, sie habe im Laufe ihres Lebens „öfter auf die Uhr gesehen als ins Gesicht ihrer Frau”? Ab und zu wird es Willemsen beim Reisen momentlang warm ums Herz. „Ein Weiler unter der Hügellinie, drei rote Dächer und eine Birke, ein Windstoß in den Sträuchern und eine Frau, die zum Wäscheaufhängen unter die Bäume tritt.”
Freakshow
Warum eigentlich muss das Schöne ein „Versprechen” bleiben, während das Verlässlich-Hässliche in jeder Fußgängerzone aufs Neue sein Haupt erheben darf? Der Ausgangsthese zum Trotz, Deutschland sei „alles, was zwischen neun Landesgrenzen die Netzhaut belichtet”, hält Willemsens Auge vorwiegend Ausschau nach dem Krassen und Absonderlichen. Das führt zu manchem Aha- Erlebnis beim Lesen, aber so ganz begreift man nicht, warum Willemsen sein Schreibtalent unbedingt an eine Freakshow verschwenden will.
In Bonn ist dem Reisenden in einem Fahrkartenverkaufshäuschen ein typischer Freak wiederbegegnet. Schlottke heißt er und war einmal sein Mitschüler, ein unglückliches Muskelpaket auf der Suche nach etwas Wirklicherem als der Schule, nach Drogen, Sex und Suizid. Mit jenem Schlottke hat der Reisende einmal das Bordell zu Bonn aufgesucht, oder richtiger: er ging allein hinein, weil Schlottke im letzten Moment der Mut verließ. Was ist es, das ein gutes Vierteljahrhundert später seine Schritte erneut in diese Richtung lenkt? Bestimmt nicht die Hoffnung auf „libidinöse Erlösung”, wie sie einst Schlottke beseelte, sondern ein Interesse, in dem sich alle Wege dieses Buches bündeln, ein Interesse am Käuflichen und Entfremdeten, an der Waren- und Dienstleistungsform aller menschlichen Gesten. Weil Willemsen hinter diesen Verkehrsformen die traurige Wahrheit des ganzen Landes zu erblicken glaubt, schildert er sie mit einer Hingabe, die vom Voyeurismus nur das Ausbleiben des Vergnügens trennt.
„Mein Prostitut heißt Nadine, ihre Wäsche erinnert an das braune Transparentpapier von Pralinen-Verpackungen.” Das „Prostitut”, stellt der Kunde fest, ist vom Fernsehen verdorben. „Unwillkürlich kopiert sie, was man ihr dort als Lust, als Erregung vorgespielt hat.” Das Fernsehen zerstört alles und irgendwann auch die Lust. Das ist die Quintessenz dieses Buches und der Grund für seine Verzweiflung. Wer anders müsste seine Wut auf die „Markwortisten” und all die Geld- und Medienmenschen mit „Bürstchenbart und Flughafenkrawatte unter der bösartigen, gewaltbereiten Erfolgsfresse” so laut bekunden wie einer, der ihnen einmal gefährlich nahe gekommen ist. Vielleicht ist Roger Willemsens „Deutschlandreise” auch eine Abbitte für die Schäden, die nicht er persönlich, wohl aber das Medium, dem er diente, im Seelenleben der Nation verursacht hat.
CHRISTOPH BARTMANN
ROGER WILLEMSEN: Deutschlandreise. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2002. 208 Seiten, 17, 90 Euro.
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