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Die chronische Sehnsucht nach der Apokalypse_Wir Deutsche malen am liebsten schwarz. Wenn uns im Augenblick keine Katastrophe heimsucht, dann sehen wir eine kommen. Wir können, so scheint es, ohne die apokalyptischen Ängste nicht existieren. Niemand durchschaute die dunklen Süchte unserer Seele genauer als der große Zeitkritiker Friedrich Sieburg, einer der brillantesten Stilisten seiner Epoche. Seine Bücher wurden zu Hunderttausenden verkauft. Doch in Deutschland steht sein Werk - anders als in Frankreich - unbeachtet im Schrank. Er war kein Mann der politischen Eindeutigkeit und schon gar…mehr

Produktbeschreibung
Die chronische Sehnsucht nach der Apokalypse_Wir Deutsche malen am liebsten schwarz. Wenn uns im Augenblick keine Katastrophe heimsucht, dann sehen wir eine kommen. Wir können, so scheint es, ohne die apokalyptischen Ängste nicht existieren. Niemand durchschaute die dunklen Süchte unserer Seele genauer als der große Zeitkritiker Friedrich Sieburg, einer der brillantesten Stilisten seiner Epoche. Seine Bücher wurden zu Hunderttausenden verkauft. Doch in Deutschland steht sein Werk - anders als in Frankreich - unbeachtet im Schrank. Er war kein Mann der politischen Eindeutigkeit und schon gar nicht des Widerstandes gegen den Nazismus. Und dennoch - oder darum - ist er einer der wichtigsten Zeitgenossen jener Epoche, die er in seiner grandiosen Polemik von 1954 Revue passieren lässt.
Autorenporträt
Friedrich Sieburg, 1893 in Altena (Westfalen) geboren, 1964 bei Stuttgart gestorben, Korrespondent der »Frankfurter Zeitung« in Kopenhagen, London und Paris, Autor der Studie Gott in Frankreich, Vorgänger von Marcel Reich-Ranicki in der Literaturredaktion der FAZ.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.06.2010

Gegen den Absatzterror, für Tournedos Rossini
Zeitkritik mit spitzer Feder, wenig Empirie und einem famosen Untertitel: Friedrich Sieburgs „Die Lust am Untergang. Selbstgespräche auf Bundesebene“
„Wenn der Mensch sich vor dem Staatsexamen, vor der Hochzeitsnacht oder vor der Atombombe fürchtet, fühlt er sich an den Spezialisten verwiesen, der für Neurosen zuständig ist. Die schnell herbeigerufene Neurose kann nur noch den eingetretenen Arzt feststellen. Die Person hört auf, die Krankheit fängt an.“ Hier schreibt Friedrich Sieburg über die Neigung seiner Zeitgenossen, ihr Seelenleben in die Hand des Fachmanns zu geben. Ein Grundgedanke des Autors ist ausgesprochen: das Wegsterben des Individuums in seinem Stolz und seiner Verantwortung, das Aufblühen eines gewaltigen uniformierenden Betreuungsapparats. Das ist so flink formuliert wie thesenstark, und es trifft ein wirkliches Problem. Aber der Unwille, die andere Seite zu sehen, also anzuerkennen, dass es Nöte gibt, aus denen man auch mit durchgedrücktem Kreuz nicht allein herausfindet, wirkt dann doch etwas simpel.
Sieburgs Anhänger werden vielleicht einwenden, der Autor spitze zu, das sei das Recht, ja die Pflicht des Essayisten. Und ein berühmter Essayist war er, eine Zelebrität. Der Sohn eines Bahnbeamten, 1893 im Sauerland geboren, war 1926 Paris-Korrespondent der Frankfurter Zeitung geworden, Nachfolger des großen Joseph Roth. Paris war sein Platz und sein Glück, hier schrieb er das berühmt gewordene Buch „Gott in Frankreich?“ und später, 1932, „Es werde Deutschland“. Nach 1933 arbeitete er weiter für die Frankfurter Zeitung , mit Ausbruch des Kriegs wandte er sich vom Journalismus ab und trat in den Auswärtigen Dienst ein. Ein Held im „Dritten Reich“ war er nicht, aber auch kein Verbrecher, seine Anpassungsbereitschaft war nicht schön, hielt sich aber im Rahmen. Seine nicht weniger bedeutende Nachkriegskarriere führte ihn in die Leitung des Literaturteils der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und machte ihn bei den jungen Autoren zu einem der bestgehassten Männer der Bundesrepublik.
Das Buch „Die Lust am Untergang. Selbstgespräche auf Bundesebene“, sein bekanntester Auftritt als Zeitkritiker, verschaffte Sieburg 1954 Aufsehen weit über die literarische Öffentlichkeit hinaus. Dass dieses Buch in der um einen gewissen Glanz bemühten „Anderen Bibliothek“ wiederaufgelegt wurde, das hätte dem Autor sicherlich gefallen. Dem Publikum aber kann eine Zeitkritik gefallen, die mal als ein Höhepunkt der Publizistik angesehen wurde, zum Beispiel von Thomas Mann: „äußerst gescheite und stilistisch hochstehende Dinge“. Zeitkritik ist so interessant, weil wir alle Zeitkritiker sind, unvermeidlicherweise. Ein gewisses Maß an Historismus ist unhintergehbar, wir können unsere Lebensumstände nicht anders als vor dem Hintergrund anderer Zeiten beurteilen. Was kann man da von einem berühmten früheren Kritiker lernen?
Vielleicht nicht lernen, aber schätzen kann man die sprachliche Eleganz. Sieburg hat einen nahezu unfehlbaren Sinn für Rhythmus und Wechsel. Er ist eine polemische Natur, gerät dabei aber nicht ins Schäumen, das gibt dem Buch etwas Ziviles. Unzweifelhaft ist es ihm um eine Festigung der Demokratie zu tun, die verbreitete Redensart etwa, schöne Worte habe man genug gehört, man wolle Taten sehen, qualifiziert er als das, was sie ist, als „nackte Aufforderung, das Maul zu halten“. Bemerkenswert auch die Beobachtung, es wachse in Deutschland die Neigung, öffentliche Entscheidungen „von der politisch-moralischen Ebene auf die der Justiz zu schieben“. Die Furcht, Verantwortung für einen politischen Entschluss zu tragen, entspreche dem Zögern, den Grundsatz „so etwas tut man nicht“ im Alltag gelten zu lassen. Beide Verhaltensweisen beruhten auf dem Mangel an selbstverständlichen Überzeugungen das Gute und das Böse betreffend. Ein politischer Dunkelmann war Sieburg nicht.
Und dennoch liest man sein Buch mit einem tiefen Unbehagen. So vieles wirkt, jedenfalls von heute aus, platt. In Deutschland gebe es kaum noch Intellektuelle, sie seien von „Kulturschaffenden“ verdrängt worden, vollauf damit beschäftigt, sich gegenseitig mit Verachtung oder Neid zu überziehen, „der nachgerade zu einem entscheidenden Zug unseres Wesens geworden“ sei. Geworden? Wann denn? Welche Zeiten sollen das gewesen sein, in denen Neid und Verachtung keine Rolle spielten? Sieburg selbst weiß es besser. 300 Seiten später wird er Zola zitieren, kein „neidischeres Geschlecht“ gebe es als Schriftsteller unter sich. Aber erst einmal wird die Gegenwart für ihre spezielle Nichtswürdigkeit attackiert.
Natürlich haben die Literatur und mehr noch die literarische Tradition im Nachkriegsdeutschland kein Publikum mehr. Hatten sie es je? Als Friedrich Ebert 1919 die Nationalversammlung in Weimar eröffnete, sprach er vom oberflächlichen Glanz der Kaiserzeit, über das „die klassischen deutschen Dichter und Denker nur im Kranichzug hinweggezogen seien“. Auch damals also. Und noch schnell eine andere, bekannte, aber stets neu begeisternde Bemerkung: „Ich habe immer versucht, in einem Elfenbeinturm zu leben; aber ein Meer von Scheiße schlägt an seine Mauern, genug um ihn zum Einsturz zu bringen.“ Flaubert schreibt das an Turgenjew über die Lage in Frankreich 1872, Sehnsuchtsland, Sehnsuchtszeit Friedrich Sieburgs.
Kontinuitäten in die Vergangenheit, in die Zukunft. Da ist die Lust an der Unfreiheit, das Versorgungsdenken der Deutschen. Das alte Joch der nationalsozialistischen Dikatur ist gefallen, das neue wird von niemandem recht bemerkt. „Was unser schwach gewordenen Hand entsunken ist, das hat der Staat aufgegriffen und hantiert nun damit.“
Der Bürger räumt das Feld, der Staat rückt nach. Klingt es nicht, als sprächen Westerwelle, Henkel und die Initiative Soziale Marktwirtschaft? Aber es spricht Sieburg aus dem Jahre 1953/54, der Hochzeit von Wiederaufbau und Sozialer Marktwirtschaft; die dynamische Altersrente ist noch nicht eingeführt. Wir müssten zurück zu Ludwig Erhard? Wenn das Sieburg hörte! Hatte er recht, nun, dann kann die Ludwig-Erhard-Stiftung schon die Feierlichkeiten vorbereiten „60 Jahre Unfreiheit“.
Aber auch die kapitalismuskritische Kulturkritik findet sich bei Sieburg gut gepflegt. Was später Konsumterror heißen sollte, nennt er „Absatzterror“, sonst ist aber schon alles da einschließlich der Kritik an der Veräußerlichung des Weihnachtsfestes. Immer das gleiche Gemäre.
Wie kommt das? Bei Sieburg liegt es daran, dass er zwar gern das „Leben“ verteidigt gegen die Abstraktion (eine speziell deutsche Untugend), am Leben aber wenig Freude hat. „Die Lust am Untergang“ ist ganz unanschaulich. (Fast) keine Namen, keine Begebenheiten, keine Anekdoten, Details oder Zahlen, keine Buchtitel oder Kunstwerke. Ein Bild der Epoche, mit der er ins Gericht geht, bekommt man nicht. Es wird nicht Beweis erhoben, es wird gleich verurteilt. Als Literaturkritiker war Sieburg genau; in seinem kulturkritischen Hauptwerk lässt er seine leichtgängige Rhetorik vor sich hin arbeiten.
Seine Urteile haben Schwung – wer die frühe Bundesrepublik verachtete, konnte sich mitreißen lassen –, aber die empirische Substanz ist schwach. Sieburgs Sorge ist der Untergang des Einzelnen in der Masse, ein Beispiel ist ihm, dass Luxus und Verfeinerung verschwinden, weil die um sich greifende soziale Gesinnung alles unterdrücke, was nicht jedem zugänglich sei, zum Beispiel das Tournedos Rossini. Aber nichts hat sich als so stabil erwiesen wie Angebot und Nachfrage der Distinktionsmöglichkeiten.
Zweifellos war Sieburg eine eminente Erscheinung. Doch seine beste Gabe, die sprachliche Fingerfertigkeit, war zugleich auch seine Gefährdung. Immerzu im Stande, etwas hübsch auszudrücken, prüfte sich der Autor offenbar nicht mehr. So werden die Gedanken gern auch in kürzesten Abständen wiederholt, es steht ja immer eine neue Formulierung parat. Beobachtungen spielen keine Rolle. Wenn man aus der „Lust am Untergang“ etwas lernen kann, dann ist es die Vorsicht bei der Gegenwartsbeschimpfung. Wer seine Gegenwart verachtet, sollte sich prüfen, ob er nicht in jeder anderen Epoche zu gleicher Nöckerei Anlass gefunden hätte. STEPHAN SPEICHER
FRIEDRICH SIEBURG: Die Lust am Untergang. Selbstgespräche auf Bundesebene. Mit einem Vorwort und einem Nachwort von Thea Dorn. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2010. 418 Seiten, 32 Euro.
Thomas Mann befand, Sieburg
schriebe „äußerst gescheite und
stilistisch hochstehende Dinge“
Der Blick des Zeitkritikers auf die Außenwelt: Friedrich Sieburg (1893-1964), im Sauerland geboren, wurde 1926 Korrespondent der „Frankfurter Zeitung in Paris und zählte in der Nachkriegszeit zu den führenden Feuilletonisten der noch jungen Bundesrepublik. Die hier gezeigte Aufnahme entstand 1960.
Foto: bpk / Wilhelm Pabst
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.07.2010

Ein Zeitalter wird verachtet

Von der Kunst, ein Deutscher zu sein: Friedrich Sieburgs Essays verknüpfen die Analyse der jungen Bundesrepublik mit dem Psychogramm der unheimlichen Nation.

Von Hubert Spiegel

Einige Wochen nachdem Friedrich Sieburg am 19. Juli 1964 gestorben war, hatten sich so viele Leser nach den Schriften des Verstorbenen erkundigt, dass die Redaktion dieser Zeitung sich entschloss, einen Werkkatalog ihres langjährigen Literaturchefs zu veröffentlichen. Er begann im Jahr 1920, mit dem Gedichtband "Die Erlösung der Straße", und endete nach mehr als dreißig Titeln mit den im Todesjahr unter der Überschrift "Gemischte Gefühle" erschienenen "Notizen zum Lauf der Zeit". Der nur ein Jahrzehnt zuvor bei Rowohlt veröffentlichte Essayband "Die Lust am Untergang. Selbstgespräche auf Bundesebene", war im Todesjahr bereits vergriffen, aber immerhin noch für 2,20 Mark als Taschenbuch lieferbar. Wenige Jahre später waren Sieburgs Bücher, deren Gesamtauflage Hunderttausende betragen hatte, allenfalls noch antiquarisch erhältlich. So sollte es bleiben. Offenbar war die Zeit erbarmungslos über einen der brillantesten Köpfe seiner Generation hinweggegangen.

Aber wie klingt eine angestaubte Größe von gestern? Etwa so: "Die seelischen Reserven, die beim Ausbruch einer Wirtschaftskrise herangezogen werden könnten, sind noch geringer als die Kapitalreserven unserer Industrien." Oder so: "Wir erklären, dass unser Leben wieder normal geworden sei, aber wir kennen die Norm nicht und glauben auch nicht, dass es eine gibt." Oder, voller Sarkasmus, so: "Man muss auch eine Sache, von der man nichts weiß, zu Ende denken können. Niemand soll uns vorwerfen, dass wir dessen nicht fähig seien."

Das klingt wie tagesaktuelle Kommentare zur gegenwärtigen Krise, ist aber mehr als ein halbes Jahrhundert alt und stammt aus einem Buch, dessen Autor nahezu vergessen, dessen Titel indes geradezu sprichwörtlich ist. Das liest sich über weite Strecken wie eine scharfsinnige Analyse deutscher Befindlichkeiten und schnurrt doch an entscheidenden Wegmarken immer wieder zusammen zur gravitätisch dahinflitzenden Retourkutsche eines zutiefst verletzten Mannes gegen alles und jeden: Ein Zeitalter wird verachtet.

Sieburg reibt sich an einer Gegenwart, die er umso mehr verabscheuen muss, je mehr sie ihn zu isolieren droht. Weil ihm die Gesellschaft die ersehnte Rolle der intellektuellen Galionsfigur verwehrt, entschließt er sich zur melancholischen Verkörperung geistesaristokratischen Außenseitertums. Sieburgs Trachten richtet sich auf Repräsentation und Stil. Weil ihm das eine verweigert wird, bleibt ihm nur die Flucht ins andere. Aber neben den Stil tritt zunehmend die Selbststilisierung: zum Opfer und zum Gegengeist seiner Zeit, die er nicht anders betrachten kann denn als abgelebte Gegenwart. Ihr schleudert er seine "rationalisierten Seufzer" (Joachim Fest) entgegen, als handle es sich um Blitze, die vom Olymp herniederfahren.

Es ist verblüffend zu sehen, wie viele Themen Sieburg aufgreift, die uns bis heute begleiten. Das reicht von der wachsenden Neigung, Entscheidungen von der "politisch-moralischen Ebene auf die der Justiz zu schieben", also dem Bundesgerichtshof zu überlassen, bis zum Essverhalten, das heftigen Irritationen ausgesetzt sei: "Das ist das Ende unbekümmerten Löffelns." Ein Satz, bei dessen Lektüre manchem noch im Ohr geklungen haben mag, wie unbekümmert der erklärte Genussmensch Sieburg selbst zu löffeln verstand, etwa unmittelbar vor Kriegsausbruch, als der damalige Mitarbeiter in Ribbentrops Auswärtigem Amt im Pariser "Ritz" frische Feigen in Rahmsauce verspeiste. Sieburg beschrieb die Szene in dem ersten Buch, mit dem er sich dem deutschen Nachkriegspublikum wieder ins Gedächtnis rufen wollte. Schon der Titel war 1950 eine Provokation: "Unsere schönsten Jahre". Nicht ohne Grund hatten die Alliierten den ehemaligen Korrespondenten der "Frankfurter Zeitung" in Paris bis 1948 mit einem Publikationsverbot belegt. Sieburgs Verhalten gegenüber dem Hitler-Regime ist schillernd und blieb stets uneindeutig, aber dass er sich "wenigstens partiell vor den braunen Karren" hatte spannen lassen, wie Thea Dorn in ihrem klugen und kenntnisreichen Vorwort schreibt, muss unbestritten bleiben. Es hatte sich zweifellos nie die ganze Person den Nazis verschrieben, aber es konnte sich auch nie wieder die ganze Person aus dem braunen Geschirr befreien. Das blieb sein Kummer und Elend bis zuletzt.

Denn in den literaturpolitischen Debatten und Kämpfen der fünfziger Jahre war Sieburgs relativ oberflächliche, aber unleugbare Verstrickung in den Nationalsozialismus die gefährlichste Waffe, die oft und gerne gegen ihn gezückt wurde, besonders von den Mitgliedern der Gruppe 47, die der Kritiker seinerseits ebenfalls mit Vehemenz bekämpfte. Martin Walsers lebenslang übergroße Empfindlichkeit aller Kritik gegenüber dürfte hier einen entscheidenden Anfang genommen haben: Man lese nur einmal Sieburgs Rezension von Walsers 1960 erschienenem Roman "Halbzeit" mit der Überschrift "Toter Elefant auf einem Handkarren".

Was Sieburg am Ende dieses nicht ohne Grausamkeit geschriebenen Verrisses von dem jungen Autor und dessen Generation verlangte, verlangte er nicht minder im Ganzen von der jungen Bundesrepublik: Takt, Sitte und Anstand. Dies waren ihm unentbehrliche Hilfsmittel bei der "Kunst, ein Deutscher zu sein", wie der Eingangsessay des vorliegenden Bandes überschrieben ist. Er ist, mehr noch als die titelgebende "Lust am Untergang", das aus heutiger Sicht spannendste Stück der Neuausgabe.

Nur neun Jahre nach dem Zusammenbruch des "Dritten Reiches" geht Sieburg daran, das deutsche Problem einer genauen Untersuchung zu unterziehen. Das deutsche Problem? Das hätte damals, nach Lage der Dinge, Fragen der Wiederbewaffnung, der Westbindung oder der Teilung des Landes betreffen müssen. Aber wenn Sieburg das Problem der Teilung anspricht, hat er Größeres im Sinn als das Territorium der ehemaligen sowjetischen Besatzungszone: "Das deutsche Wesen ist unteilbar."

Hier verschmilzt auf mitunter verstörende Weise die Analyse der jungen Bundesrepublik mit dem Psychogramm der unheimlichen Nation, die den "Schlaf der Völker stört" und ihnen Rätsel aufgibt, etwa mit dem Bekenntnis, das Leben sei der Güter höchstes nicht. Es verschlägt einem den Atem, wenn man liest, wie Sieburg 1954 den ewigen Deutschen beschreibt, als gäbe es einen blonden Ahasver, und sich vorstellt, die Deutschen seien in "der Diaspora, über die Welt versprengt, wie Sauerteig in fremden Gemeinschaften". Aber der Vergleich, der uns kühn, geschmacklos, unverfroren scheinen muss, stammt von Goethe, den Sieburg erst nachträglich als Gewährsmann anführt: "Deutschland ist nichts, aber jeder Deutsche ist viel, und doch bilden sie sich gerade das Umgekehrte ein. Verpflanzt und zerstreut wie die Juden in alle Welt müssen die Deutschen werden, um die Masse des Guten ganz und zum Heile aller Nationen zu entwickeln, die in ihnen liegt."

In diesen Sätzen Goethes ist beinahe schon alles beisammen, die verspätete Nation, die Feier des Individuums und seine Sehnsucht nach höherer Gemeinschaft, die unselige Überzeugung, dass am deutschen Wesen die Welt genesen könne, und das deutsch-jüdische Verhältnis als Schicksalsgemeinschaft zweier je auf ihre Weise auserwählter Völker. Sieburg zwingt hier Dinge zusammen, die man vielleicht nicht zusammenzwingen darf, aber so leicht auch nicht wieder voneinander scheiden kann. Darin liegt der Reiz der Sache ebenso wie in dem faszinierenden Stil und Tonfall dieses Buches. Es ist der Ton der Vorkriegszeit, des achtzehnten und des neunzehnten Jahrhunderts, es ist der idealistisch-nationalistische, liberal-konservative Geist eines Intellektuellen, der sich nur im Gegensatz zu seiner Zeit zu behaupten wusste und den Unwillen zur Anpassung als Akt des verspäteten, weil an anderer Stelle versäumten Widerstandes ausgab.

Sieburgs Buch ist wiederaufgetaucht wie ein altes Möbelstück, das vor Jahrzehnten sorgsam in weiße Tücher gehüllt und dann in abgedunkelten Räumen vergessen wurde. Nun zieht diese Neuausgabe der "Lust am Untergang" die alten Laken herunter, und wenn der aufgewirbelte Staub sich gelegt hat, steht man da und wundert sich. Bequem sieht das nicht aus, und es passt weiß Gott nicht zu jeder Einrichtung. Aber man ahnt, man wird sich so rasch nicht wieder davon trennen können.

Friedrich Sieburg: "Die Lust am Untergang". Selbstgespräche auf Bundesebene. Mit einem Vor- und einem Nachwort von Thea Dorn. Die Andere Bibliothek im Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2010. 420 S., geb., 32,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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" ... schön gestaltetes Buch, dem Thea Dorn schwungvolle, dazu blitzgescheite Erläuterungen beigegeben hat ... "(Tilman Krause, Die Welt, 26. Juni 2010)

" ... ein zu Unrecht fast vergessenes Buch. Eine Wiederentdeckung."(Passauer Neue Presse, 3. Juli 2010)

"Sieburgs Buch ist wiederaufgetaucht wie ein altes Möbelstück, das vor Jahrzehnten sorgsam in weiße Tücher gehüllt und dann in abgedunkelten Räumen vergessen wurde. Nun zieht diese Neuausgabe der Lust am Untergang die alten Laken herunter, und wenn der aufgewirbelte Staub sich gelegt hat, steht man da und wundert sich. Bequem sieht das nicht aus, und es passt weiß Gott nicht zu jeder Einrichtung. Aber man ahnt, man wird sich so rasch nicht wieder davon trennen können."(Hubert Spiegel, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3. Juli 2010)

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Nicht ohne leises Staunen steht Rezensent Hubert Spiegel vor diesem Band, der Aufsätze und Artikel des einst viel gelesenen und durchaus gefürchteten FAZ-Feuilletonisten Friedrich Sieburg versammelt.  Teils nämlich, stellt Spiegel fest, klingen die Gegenstände und Probleme, die Sieburg verhandelt - etwa Gedanken zur Krisenwirtschaft, recht modern. Der Blick, den der Autor darauf werfe, sei das jedoch nie. Als einsamer Rufer und erklärter Konservativer in einer Gesellschaft, die seiner nicht achtete, habe sich Sieburg doch sehr in die Position einer alles Gegenwärtige ablehnenden Gekränktheit verrannt. Dass man ihm immer wieder mit seiner in der Tat unerfreulichen Haltung im Dritten Reich kam, habe da durchaus mit hereingespielt. Als Symptomatik der Probleme der deutschen Nation und ihres Verhältnisses zu den Juden findet Spiegel dann aber doch manches interessant, obwohl oder auch weil hoch problematisch. Und dass ihn "Stil und Tonfall" des Bandes "faszinieren", das will der Rezensent schon gar nicht leugnen.

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