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Benutzername: 
dorli
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Berlin
Buchflüsterer: 

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Insgesamt 873 Bewertungen
Bewertung vom 23.04.2024
Das Flüstern des Lebens
Fuchs, Katharina

Das Flüstern des Lebens


gut

Die 68-jährige Münchner Unternehmerin Corinna Waldeck ist auf ihrer Farm in Tansania ums Leben gekommen. Ihre in München lebende Zwillingsschwester Doris und deren Tochter Isabelle sind immer noch zutiefst geschockt, als eine überraschende Neuigkeit die beiden Frauen sprachlos macht: Corinna hatte eine Tochter! Die 14-jährige Hannah ist bereits auf dem Weg nach München und braucht eine Bleibe. Die Familienähnlichkeit des selbstbewussten Mädchens ist unverkennbar, dennoch wirft ihre Existenz natürlich einige Fragen auf, allen voran, warum Corinna niemandem von ihrer Tochter erzählt hat.

Die Testamentseröffnung sorgt für weitere Überraschungen. Hannah erbt den Großteil des Vermögens ihrer Mutter, allerdings unter der Voraussetzung, dass sie bis zu ihrem 21. Geburtstag in Deutschland bleibt. Die Bogenhausener Villa geht an Doris und die Farm mit der Kaffeeplantage in Tansania bekommt Isabelle. Corinnas Neffe Moritz wird mit einem vergleichsweise winzigen Betrag abgespeist. Er fühlt sich betrogen, reagiert entsprechend aufbrausend und zweifelt daran, dass das Testament rechtmäßig ist.

Für Isabelle kommt das Erbe völlig unerwartet. Sie reist kurze Zeit später nach Tansania und muss schon in den ersten Tagen ihres Aufenthalts erkennen, dass der Glanz, der die erfolgreiche Corinna stets umgeben hat, zahlreiche matte Stellen aufweist. Während Isabelle versucht, die Kaffeeplantage wieder in Schwung zu bringen, ahnt sie nicht, dass die baldige Ankunft des Piloten Frank Barnes ihr bisheriges Leben gänzlich umkrempeln wird…

Katharina Fuchs hat mich bisher mit ihren Romanen immer begeistert. Entsprechend vorfreudig war ich auf „Das Flüstern des Lebens“ - und bleibe nach dem Lesen des Buches recht zwiegespalten zurück.

Die Autorin hat einen tollen Schreibstil, es braucht immer nur wenige Seiten, bis mir die Akteure vertraut sind und die Handlung mich gefangen nimmt. Das war auch diesmal so - ich war schnell mittendrin im Geschehen und konnte den Ereignissen, die aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt werden, problemlos folgen.

Anders als der Klappentext es vermuten lässt, spielt das erste Drittel der Geschichte ausschließlich in München. Man lernt die einzelnen Familienmitglieder und ihre Eigenarten ausgiebig kennen, es geht viel um das unerwartete Auftauchen der 14-jährigen Hannah und natürlich um die Regelungen rund um Corinnas Nachlass. Insgesamt ein etwas in die Länge gezogener Part, den ich dennoch als ganz unterhaltsam empfunden habe.

Endlich in Tansania angekommen, leuchten die atemberaubenden Farben der afrikanischen Wildnis vor meinen Augen auf. Mit den Schilderungen von Land und Leuten kann Katharina Fuchs ganz besonders punkten. Ich bin begeistert von den lebendigen Beschreibungen der vielfältigen Natur und der Tierwelt. Spannend sind auch die Ausführungen zum Kaffeeanbau und die ganzen Probleme, die damit einhergehen. Die im Klappentext angepriesene Liebesgeschichte lässt allerdings auf sich warten. Doch als Frank Barnes dann endlich auf der Sandpiste der Plantage landet, geht alles holterdiepolter - er erscheint auf der Farm und ist nach wenigen Stunden Isabelles große Liebe. Eine Entwicklung der Beziehung, die mich erkennen lässt, woher diese tiefen Gefühle kommen, gibt es nicht. Ab hier wurde die gesamte Handlung für mich immer unglaubwürdiger, besonders Isabelle agiert nicht wie die gewissenhafte Mittvierzigerin, die ich zu Beginn des Buches kennengelernt habe. Während Isabelle ihr Leben und ihre Verpflichtungen in Deutschland anscheinend fast vergessen hat, darf ich weiter an den dortigen Ereignissen teilhaben - immer wieder schwenkt die Handlung nach München und ich erfahre, wie es Doris, Hannah und Moritz ergeht.

Katharina Fuchs wartet in diesem Roman mit einer Flut unterschiedlicher Themen auf, die zwar im Einzelnen alle interessant und wichtig sind, aber leider aufgrund der Vielzahl oft nur oberflächlich angerissen werden, so dass das tatsächliche Geschehen nicht bereichert wird, sondern durch die Fülle überfrachtet wirkt. Hinzu kommen Nebenhandlungen, die die Haupthandlung nicht stützen, sondern gefühlt eher verdrängen. Das Zuviel insgesamt hat ein Zuwenig bei der eigentlichen Handlung zur Folge: am Ende bleiben doch einige Fragen offen.

Ich habe die lebendigen Schilderungen über Tansania und die Kaffeeplantage genossen und fand die Erläuterungen zum Kaffeeanbau interessant, aber die Entwicklung der Handlung und die der Figuren besonders in der zweiten Hälfte des Buches haben mich nicht überzeugt. Dort, wo ich das Besondere erwartet habe, habe ich nur Durchschnitt bekommen und bin entsprechend ein wenig enttäuscht. 2,5/5

Bewertung vom 16.04.2024
The Hike
Clarke, Lucy

The Hike


gut

Liz, Helena, Maggie und Joni kennen sich von Kindesbeinen an. Einmal im Jahr treffen sich die mittlerweile Mittdreißigerinnen zu einem Kurzurlaub. Diesmal hat Liz das Urlaubsziel bestimmen dürfen und sich für eine mehrtägige Wandertour in der idyllischen Bergwelt Norwegens entschieden, statt wie sonst immer irgendwo in der Sonne zu faulenzen. Die Begeisterung ihrer Freundinnen hält sich in Grenzen, doch schließlich machen sie sich gemeinsam auf, um den Blafjell und seine Umgebung zu erkunden - nicht ahnend, dass in der traumhaft schönen Natur ein Albtraum auf sie wartet…

Lucy Clarke stellt ihre Protagonistinnen zunächst einmal ausgiebig vor. Ich lerne die Freundinnen gut kennen, erfahre einiges über ihrem Alltag und ihre jeweiligen Probleme. Schnell wird klar, dass alle vier dringend eine Auszeit nötig haben.

Schon im Vorfeld der Wanderung läuft mein Kopfkino auf Hochtouren. Es gefällt mir wahnsinnig gut, wie Lucy Clarke die Normalität rund um diesen Ausflug mit vielen kleinen Andeutungen gespickt hat, die durchaus für Konflikte sorgen könnten. Obwohl eigentlich noch nichts passiert, verfolge ich gebannt das Geschehen und habe dabei immer den Aufmacher des Klappentextes im Kopf: „Vier Freundinnen in der Wildnis Norwegens. Nur drei kommen zurück.“ Ich möchte unbedingt erfahren, welche der Frauen am Ende diejenige sein wird, die in dem kurzen Prolog tot auf dem Berghang liegt. Ich möchte wissen, was genau da draußen passiert ist, bin neugierig auf die Hintergründe. Dass bereits vor einem Jahr eine junge Frau in der Nähe des Blafjell spurlos verschwunden ist, befeuert die Spannung noch zusätzlich. Fast ungeduldig warte ich darauf, dass die Wanderung endlich losgeht, und auf Seite 108 ist es dann soweit, die Freundinnen haben ihre Rucksäcke geschultert und das eigentliche Abenteuer beginnt.

Lucy Clarke schont ihre Protagonistinnen nicht und lässt das unerfahrene Quartett in so ziemlich jede Gefahrensituation schliddern, die die norwegische Wildnis zu bieten hat. Neben einem mächtigen Unwetter und sinkenden Temperaturen, losem Geröll, verwitterten Pfaden und fehlenden Wegmarkierungen machen auch das unterschätze Gewicht der Ausrüstung, die fehlende Fitness und Blasen an den Füßen die Wanderung zu einer Tortur. Darüber hinaus sorgen mysteriöse Schatten, rätselhafte Verfolger sowie weitere Widrigkeiten und Bedrohungen für Angst und Schrecken. Aufgrund der zunehmenden Erschöpfung brechen persönliche Differenzen aus den Frauen heraus und lassen die Stimmung aggressiv werden. Es kommt zu schwerwiegenden Vorwürfen, die fast zu einer Eskalation führen, dann aber mit wenigen Worten aus der Welt geschafft werden, nur um nach kurzer Zeit wieder aufzulodern.

Die zahlreichen kleinen und großen Katastrophen sollen für Spannung sorgen und das gelingt auch zunächst, doch im letzten Drittel des Romans beginnt mir dieses dramatische Auf und Ab zuviel zu werden. Die Autorin zieht alle Register, die man ziehen kann, wenn sich Laien unvorbereitet und auf eine herausfordernde Bergwanderung begeben, doch mit der Aneinanderreihung von unwirtlichen Bedingungen, brenzligen Situationen, unvorhersehbaren Ereignissen und unheimlichen Begegnungen überspannt sie den Bogen ein wenig. Das macht nicht nur die Handlung zunehmend unglaubwürdiger, auch das Miteinander der Freundinnen wirkt irgendwann gekünstelt, so dass meine anfängliche Begeisterung sich am Ende verflüchtigt hat.

„The Hike“ konnte mich insgesamt nicht so begeistern, wie ich es nach dem Lesen von Kurzbeschreibung und Leseprobe erwartet hatte.

Bewertung vom 14.03.2024
Dreimal du und ich
Linden, Rachel

Dreimal du und ich


sehr gut

Magnolia, Seattle. Lolly ist seit dem frühen Tod ihrer Mutter damit beschäftigt, sich um ihre kleine Schwester zu kümmern und ihren Vater im familieneigenen Diner zu unterstützen. Ihre persönlichen Träume hat die fast 33-Jährige dabei komplett aus den Augen verloren. Eine Liste mit Lebenszielen in einem Tagebuch aus Teenagerzeiten erinnert sie daran, was sie alles erreichen wollte und lässt sie enttäuscht feststellen, dass sie nicht einen der Punkte in die Tat umgesetzt hat. Ganz unverhofft bietet ihre Großtante Gert Lolly die Möglichkeit, in die Leben reinzuschnuppern, die sie hätte haben können, wenn sie ihren eigenen Wünschen gefolgt wäre. Lolly erhält drei besondere Zitronenbonbons. Die Anwendung ist ganz einfach - ein Bonbon vor dem vor dem Schlafen lutschen und laut aussprechen, welche Entscheidung man ändern möchte. Schon entfaltet das Bonbon seine Wirkung und katapultiert Lolly für einen Tag in ein alternatives Leben.

„Dreimal du und ich“ ist nicht nur die romantische Liebesgeschichte, die ich aufgrund von Titel und Cover erwartet hatte, der Roman enthält bei aller Leichtigkeit auch viele tiefgründige Gedanken. Es geht darum, das eigene Leben lebenswert zu gestalten und sich nicht von Pflichtbewusstsein und Verantwortungsgefühl in die Knie zwingen zu lassen. Und es geht um die Erkenntnis, dass es das perfekte Leben nicht gibt, dass jeder Lebensweg neben Glück und Freude eben auch seine Schattenseiten hat, wo Stolpersteine lauern, die es zu überwinden gilt.

Rachel Linden stellt die Situation ihrer Protagonistin sehr glaubwürdig dar - ich lerne Lolly als beflissen und gewissenhaft kennen und kann verstehen, warum das Familienrestaurant für sie absolute Priorität hat. Auch im weiteren Verlauf bleibt die Handlung authentisch, ich kann Lollys langsam einsetzendes Umdenken, die Einsicht, dass die Glanzzeiten des Diners vorbei sind, ihren Wunsch nach Glück und Zufriedenheit und auch die Wege, die sie schließlich einschlägt, gut nachvollziehen.

Nachdem Großtante Gert erklärt hat, wie die Zitronenbonbons funktionieren - „…diese Bonbons erweitern unsere begrenzte Wahrnehmung von Zeit und Raum…“ (S.118) - da dachte ich zunächst an irgendwelche Visionen unter Drogeneinfluss, doch Lollys Erlebnisse während dieser Lebensalternativen wirken nicht wie irgendwelche Halluzinationen, sondern werden als greifbare Ereignisse beschrieben. Also wird hier wohl doch eine Prise Magie im Spiel sein :-)

Sehr gut gefallen hat mir die Darstellung von Lollys Ausflügen in die alternativen Lebenswege. Zum einen war es spannend zu beobachten, wie sie die plötzlichen Anforderungen bewältigt und welche Emotionen diese Kostproben eines anderen Lebens in ihr auslösen. Und zum anderen war es sehr amüsant, sie zu begleiten, weil sie von den Dingen überrumpelt wird und sich in der fremden Umgebung nicht so leicht zurechtfindet.

„Dreimal du und ich“ hat mir sehr gut gefallen - eine Liebesgeschichte, die zwar zum Ende hin ein wenig ins Kitschige abdriftet, aber durch die tiefgründigen Momente insgesamt durchaus zu überzeugen weiß.

Bewertung vom 04.03.2024
Zeit der Schuldigen
Thiele, Markus

Zeit der Schuldigen


ausgezeichnet

Hambühren im August 1981. Nina Markowski ist ein fröhliches 17-jähriges Mädchen, das mit ihren Freundinnen den Sommer genießt. Auf dem jährlichen Schützenfest trifft sie den fast doppelt so alten Volker März. Ein netter Kerl, der Nina aus einer brenzligen Situation befreit. Die beiden freunden sich an, gehen Eisessen, hören gemeinsam Musik. Als Volker sich eine intensivere Beziehung wünscht, macht Nina ihm klar, dass sie nichts für ihn empfindet. Sie hat sich in einen Mitschüler verliebt und bittet Volker, das zu akzeptieren.

Einige Monate später, am 4. November 1981, wird Nina auf dem Nachhauseweg von der Chorprobe vergewaltigt und bestialisch ermordet - 22 Messerstiche, die Kehle bis auf die Halswirbelsäule durchgeschnitten. Dringend tatverdächtig: Volker März. Doch die Beweise reichen nicht aus, Volker wird rechtskräftig freigesprochen. Erst im Jahr 2012 lässt sich mittels DNA-Analyse einwandfrei seine Schuld beweisen. Doch für ein neues Verfahren ist es zu spät, denn laut Gesetz darf niemand nach einem Freispruch ein weiteres Mal für dieselbe Tat angeklagt werden - Volker März bleibt ein freier Mann…

Ninas Vater Hans kann und will sich nicht damit abfinden, dass niemand für die Ermordung seiner Tochter zur Rechenschaft gezogen wird. Über mehrere Jahrzehnte hinweg kämpft er für Gerechtigkeit. Dabei wird er allerdings weder von Hass getrieben, noch trachtet er nach Vergeltung. Ganz anders Hauptkommissarin Anne Paulsen. Anne will März aus einem ganz persönlichen Grund drankriegen und setzt dafür alles aufs Spiel. Nach akribischer Vorbereitung ist es im November 2022 soweit, ein sorgfältig ausgeklügelter Plan soll den mittlerweile 72-jährigen Mann endlich dingfest machen.

In seinem von einem wahren Verbrechen inspirierten Roman „Zeit der Schuldigen“ nimmt Markus Thiele den Leser mit auf eine fesselnde Zeitreise in die 1980er Jahre und erzählt die Geschichte der Schülerin Frederike von Möhlmann nach, die 1981 brutal ermordet wurde und deren Mörder trotz aller Anstrengungen der Opferfamilie auch über 40 Jahre nach der Tat ganz rechtmäßig sein Leben als freier Mann lebt.

Markus Thiele hat die realen Ereignisse und die Prozesshistorie rund um diesen Mordfall mit einer spannenden, für mich äußerst glaubwürdigen fiktiven Handlung verwoben. Er beschreibt seine Akteure vielschichtig und lebensnah und schildert deren Beziehungen zueinander überzeugend. Der Fall wird aus unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchtet, so dass ich mir ein umfassendes Bild von der Zeit vor und nach dem Mord machen kann.

Der Autor gewährt mir zunächst einmal tiefe Einblicke in das Leben der 17-Jährigen. Nina ist ein ganz normaler Teenager. Sie wirkt emotional sehr verunsichert, was in ihrem Alter kein Wunder ist. Ich lerne sie gut kennen, begleite sie bis zu dem verhängnisvollen regnerischen Abend im November ’81. Anschaulich und eindringlich schildert Markus Thiele dann, was ihr Vater Hans über viele Jahre hinweg durchstehen muss. Seine Trauer und seine Verzweiflung sind für mich greifbar. Ich leide mit ihm, kann sein Hoffen und Bangen sehr gut nachvollziehen und spüre, wie die Rückschläge an seinen Kräften zehren. Mitgerissen haben mich auch die Ereignisse, die in dem Part rund um Anne Paulsen spielen. Der Autor lässt mich anfangs nur erahnen, was Anne antreibt und schickt mich auf eine emotionale Achterbahnfahrt - obwohl ich Annes tatsächliches Motiv erst ganz zum Schluss erfahre, obwohl ich weiß, dass Selbstjustiz niemals eine Option sein darf, fiebere ich intensiv mit ihr mit und ertappe mich immer wieder dabei, dass ich mir wünsche, dass ihr Plan am Ende erfolgreich sein möge. Warum nicht die Dinge selbst in die Hand nehmen, wenn man derart von Recht und Gesetz im Stich gelassen wird?

Markus Thiele versteht es ganz ausgezeichnet, in seinen Romanen die juristische Sichtweise auf gesellschaftlich gewichtige Themen auch für den Laien leicht verständlich darzustellen und lädt seine Leser damit ein, über diese Dinge nachzudenken und sich ein eigenes Bild zu machen.

Der Fall Frederike Möhlmann und auch die jahrzehntelangen Bemühungen ihres Vaters, für Gerechtigkeit zu sorgen, waren mir durch die Berichterstattung in der Medien schon bekannt. „Zeit der Schuldigen“ hat mir jetzt zusätzlich einen interessanten Einblick in den Ablauf der Ermittlungen und der Gerichtsverhandlungen geboten. Ich bleibe nach dem Lesen des Romans emotional aufgewühlt zurück. Ich kann es einfach nicht fassen, wie weit Recht und Gerechtigkeit hier auseinanderklaffen. Es fühlt sich für mich völlig falsch an, dass ein Mörder, dessen Schuld nachgewiesen ist, straffrei bleibt. Es will mir einfach nicht in den Kopf, dass jemand, der ohne Zweifel der Täter ist, rechtmäßig geschützt wird.

„Zeit der Schuldigen“ hat mich von der ersten bis zur letzten Seite fest im Griff gehabt - eine mitreißend erzählte Geschichte, die den Leser intensiv an der Prozesshistorie eines wahren Verbrechens teilhaben lässt. Absolute Leseempfehlung!

Bewertung vom 25.02.2024
Demon Copperhead
Kingsolver, Barbara

Demon Copperhead


ausgezeichnet

Damon Fields wird in einem Trailer in den Wäldern West Virginias geboren. Im Lee County, das zu den ärmsten Provinzen der USA gehört. Schon der Start ins Leben war für den Jungen nicht einfach, seine drogensüchtige Teenie-Mutter war - wie er selbst es nennt - „nicht ganz da“, sein Vater schon einige Zeit tot. Eine aufmerksame Nachbarin ist zum Glück zur rechten Zeit am rechten Ort.

Der Lebensweg, den Barbara Kingsolver für ihren Protagonisten vorgesehen hat, besteht eigentlich nur aus Hindernissen und ist von Schicksalsschlägen geprägt. Der Junge, der wegen seiner kupferroten Haare Demon Copperhead genannt wird, erlebt all das, was ein Heranwachsender eigentlich nicht erleben sollte: Armut, eine Odyssee durch Pflegefamilien, Drogen, Ausbeutung, Vernachlässigung und Gewalt. Man sollte meinen, dass jemand, der wie Damon eigentlich keine Perspektive hat, an seinem Schicksal zerbricht, doch Damon ist ein Stehaufmännchen. Kraft dafür schöpft er sowohl aus der tiefen Verbundenheit mit seiner Heimat, seinen Leuten und der Natur wie auch aus seinem Talent als Comiczeichner, so dass es egal scheint, wie tief und finster das Tal ist, das er gerade durchschreiten muss, da ist immer ein Hoffnungsschimmer, dass es irgendwie weitergeht…

Barbara Kingsolver lässt Damon seine Geschichte selbst erzählen. Mit Worten, die oft sehr direkt und auch derb sind, aber eben auch zu ihm passen. Worte, die mich trotz aller Tragik gut unterhalten haben. Ich habe mich beim Lesen immer wieder gefragt, wie man eine so traurige, herzzerreißende Geschichte mit so viel Witz in der Stimme erzählen kann. Ich habe diesem klugen Jungen gerne zugehört. Man spürt, dass er die raue Welt, in die er hineingeboren wurde, verstanden hat.

Barbara Kingsolver wollte eine Geschichte über ihre Heimat schreiben und damit die appalachische Lebenswelt verständlich machen. Sie wollte sowohl die positiven wie die negativen Seiten der Gemeinschaft in Appalachia aufzeigen, vor allen Dingen aber auf die zahlreichen Missstände aufmerksam machen und damit denen Gehör verschaffen, die selbst nicht dazu in der Lage sind. Das ist ihr in beeindruckender Weise gelungen. Damons Geschichte zu lesen hat sich für mich angefühlt, als hätte er mich an die Hand genommen und gesagt: „Komm, ich zeige dir mal, was in meiner wunderbaren Heimat los ist, was hier verdammt noch mal alles nicht richtig läuft.“ Und es läuft vieles nicht richtig.

Demon Copperhead steht als Sinnbild für eine Generation, der von Anfang an nur Steine in den Weg gelegt wurden - verwaiste Kinder und Jugendliche, die von den verheerenden Auswirkungen der Opioidkrise niedergedrückt und von Armut und dem Stigma Hillbilly ausgebremst werden, die mit mangelnder Schulbildung und einem miserablen Pflege- und Gesundheitssystem zu kämpfen haben, die sich nur selten aus eigener Kraft aufrappeln können und so oft nicht in der Lage sind, dem Unbill des Lebens die Stirn bieten. Eine ewige Abwärtsspirale.

Barbara Kingsolver hat sich von Charles Dickens und seinen leidenschaftlichen Romanen inspirieren lassen. David Copperfield stand Pate für Demon Copperhead. Die Autorin hat trotz aller Parallelen mit ihrer Geschichte allerdings etwas geschaffen, das durchaus für sich allein stehen kann.

„Demon Copperhead“ hat mir sehr gut gefallen - ein Roman, der mich realitätsnah miterleben lassen hat, was es heißt, ein Leben zwischen Albtraum und Chancen zu leben. Eine fesselnd erzählte, berührende Geschichte, die lange nachklingt. Absolute Leseempfehlung!

Bewertung vom 19.02.2024
Faule Fische fängt man nicht / Ostfriesen-Krimi Bd.11
Franke, Christiane;Kuhnert, Cornelia

Faule Fische fängt man nicht / Ostfriesen-Krimi Bd.11


ausgezeichnet

Neuharlingersiel. Auf dem Steffens-Hof findet ein Malkurs statt, zu dem sich neben Rosa Moll noch acht weitere Teilnehmer angemeldet haben. Kursleiter Conrad Gravenstein hat alle gebeten, ein Bild mitzubringen. Karin Müller, die wegen ihrer gnadenlosen Strafzettel für Falschparken in Neuharlingersiel auch als „Knöllchen-Karin“ bekannt ist, hat ein Gemälde dabei, das seit vielen Jahren bei ihrer Oma in der Küche hängt. Conrad studiert es aufmerksam und vermutet einen echten van Gogh. Karin amüsiert sich über seine Expertise, denn ihre Großeltern sind schließlich einfache Leute, etwas so Wertvolles besitzen sie ganz sicher nicht. Doch am nächsten Tag ist Karin mausetot; ermordet, wie nach der Obduktion feststeht. Und dann stirbt ganz plötzlich auch Conrad…

„Faule Fische fängt man nicht“ ist bereits der elfte Einsatz für Lehrerin Rosa, Postbote Henner und Dorfpolizist Rudi - der Krimi ist aber auch ohne Kenntnis der vorherigen Bände bestens verständlich.

Schon nach wenigen Seiten haben mich die Ereignisse in dem beschaulichen Küstenort wieder fest im Griff. Die Ermittlungen im Mordfall Karin Müller erweisen sich als äußerst knifflig und halten nicht nur die Kripo Wittmund, sondern auch die Hobbyermittler aus Neuharlingersiel durchweg in Atem. Rosa ist ruckzuck in ihrem Element, als bekannt wird, dass Karin einem Verbrechen zum Opfer gefallen ist. Henner ist wieder eher unfreiwillig mittendrin im Geschehen. Rudi versucht, die Hinweise seiner Freunde und seine Arbeit für die Polizei unter einen Hut zu bringen. Und Oberkommissar Schnepel macht, was er am besten kann: wild über mögliche Täter und Motive spekulieren und verworrenen Theorien nachjagen.

Falsche Fährten, mehrere Verdächtige, unerwartete Wendungen und immer wieder neue Hinweise halten nicht nur die Handlung lebendig, sondern haben mich auch prima über Motive, Hintergründe und die Identität des Täters miträtseln und mitgrübeln lassen. Neben der spannenden Krimihandlung hat mich auch das herrliche Drumherum wieder gut unterhalten. Lebensnahes Alltagsgeschehen, das amüsante Zusammenspiel der Dorfbewohner und die schönen Momente in Mudder Steffens Küche sorgen für ein kurzweiliges Lesevergnügen.

Wie man es von Christiane Franke und Cornelia Kuhnert gewohnt ist, wird das kriminelle Geschehen auch diesmal wieder durch interessante Themen bereichert. So geht es um Kunstraub oder auch um den fahrlässigen Umgang mit Medikamenten. Darüber hinaus sind auch die Beschreibungen der Handlungsorte in und um Neuharlingersiel wieder äußerst gut gelungen - man kann sich die einzelnen Schauplätze alle bestens vorstellen und wird von der Nordseeküsten-Atmosphäre schnell eingefangen. Und auch auf einige Spezialitäten und Leckereien aus der ostfriesischen (und diesmal auch polnischen) Küche nebst Rezepten im Anhang kann sich der Leser wieder freuen.

„Faule Fische fängt man nicht“ hat mir sehr gut gefallen - ein Küstenkrimi, der kurzweilige Unterhaltung bietet und zum Miträtseln einlädt.

Bewertung vom 10.02.2024
Seit er sein Leben mit einem Tier teilt
Kirchhoff, Bodo

Seit er sein Leben mit einem Tier teilt


sehr gut

Der 75-jährige Louis Arthur Schongauer - früher einmal Kleindarsteller in Hollywood, meist in der Rolle eines deutschen Bösewichts - lebt seit dem Unfalltod seiner Lebensgefährtin Magda zurückgezogen in einem Haus am Hang über dem Gardasee. In seinem Leben ist so manches nicht ganz rund gelaufen, deshalb ist er froh über die Abgeschiedenheit. Seine Hündin Ascha gibt ihm Halt, sie ist die einzige Gesellschaft, die er braucht. Die selbstgewählte Einsamkeit endet jäh, als die 24-jährige Reisebloggerin Frida mit ihrem Wohnmobil in seiner Zufahrt strandet. Für den nächsten Tag hat sich zudem die 49-jährige Autorin Almut Stein angekündigt, weil sie ein Portrait über den Altschauspieler schreiben möchte. Schongauer hat zugesagt, obwohl er eigentlich nicht gestört werden will. Schließlich taucht dann auch noch Fridas Mutter Lilly auf. Plötzlich ganz schön viel los im Hause Schongauer…

Es ist spannend zu beobachten, wie die Anwesenheit der Frauen den Altschauspieler verändert. Frida überrumpelt ihn mit ihrer Lebensfreude. Und die bohrenden Fragen von Almut bringen Schongauer zum Nachdenken - über sich, über sein Leben, über seine Vergangenheit, über die Höhen und vor allen Dingen die Tiefen; über das, was noch kommen könnte. Er, der eigentlich ein Vergessener sein wollte, entdeckt eine starke Sehnsucht nach Liebe und nach Leben, wobei ihm aber klar ist, dass seines nicht mehr allzu lang dauern wird (das Herz, es stolpert). Die ganze Geschichte ist eingehüllt in einen Hauch Melancholie.

Und sein Tier - immer da, immer nah. Ascha ist nicht nur treue Begleiterin und Trösterin, sie scheint als das zu haben, was Schongauer auch für sich gerne hätte: eine innere Zufriedenheit, keine Gedanken an gestern oder morgen, immer im Moment leben, ohne das Wissen, dass die Zeit unweigerlich abläuft.

Bodo Kirchhoff verzichtet Satzzeichen für die wörtliche Rede - das hat mich zunächst irritiert und es hat ein paar Seiten gedauert, bis ich mich daran gewöhnt hatte. Aber einmal eingelesen, bin ich mit diesem Stil gut klargekommen.

„Seit er sein Leben mit einem Tier teilt“ hat mir gut gefallen - ein Roman, in dem es um das Älterwerden und die Sehnsucht nach Leben geht, nach Glück und Zufriedenheit.

Bewertung vom 08.02.2024
Heinz Labensky - und seine Sicht auf die Dinge
Tsokos, Anja;Tsokos, Michael

Heinz Labensky - und seine Sicht auf die Dinge


sehr gut

Der 79-jährige Heinz Labensky wohnt in einem Seniorenheim am Erfurter Stadtrand und führt ein unscheinbares Dasein. Sein Alltag ist eintönig, Höhen oder Tiefen gibt es nicht. Das ändert sich, als er einen Brief aus Warnemünde erhält, in dem es um das spurlose Verschwinden seiner Kindheitsfreundin und Jugendliebe Rita Warnitzke vor fast fünfzig Jahren geht. Kann es wirklich sein, dass es sich bei dem in einer Berliner Klärgrube gefundenen Skelett um Ritas Überreste handelt? Heinz will es genau wissen und steigt in einen Flixbus nach Warnemünde. Sein Ziel: endlich die Wahrheit über Ritas Verbleib klären und damit das größte Rätsel seines Lebens lösen.

Mein Roadtrip mit Heinz Labensky beginnt am Bahnhof, als er gerade im Begriff ist, sich ein Seniorenticket Richtung Ostsee zu kaufen. Die Bedienung des Fahrscheinautomaten erweist sich als Hürde - die Welt, so scheint ihm, ist in den zehn Jahren, die er mittlerweile im Heim verbracht hat, komplizierter geworden. Er hat Glück und wird eingeladen, sich einer Reisegruppe anzuschließen. Damit steht der Fahrt zu Ritas Tochter nach Rostock/Warnemünde nichts mehr im Weg.

Kaum sitzen wir im Bus, wird mir klar, dass diese Fahrt eine Zeitreise werden wird - in Heinz’ Vergangenheit und in die Historie der DDR, denn Heinz beginnt, unterschiedlichen Mitreisenden und damit auch mir aus seinem bewegten Leben zu erzählen. Heinz ist in einem kleinen brandenburgischen Dorf aufgewachsen. Er hat ein schlichtes Gemüt, ist ziemlich begriffsstutzig. Seine Mutter hat ihm damals erklärt, „…dass er ganz einfach da, wo Herz und Hirn vergeben wurden, leider nur einmal seine Hand gehoben habe…“ (S.31). Er galt als Außenseiter, bis auf Rita hatte er keine Freunde. Seine Welt ist immer klein geblieben, er hat den Osten Deutschlands zeitlebens nicht verlassen. Das Besondere an dem Mann, der als Rechenniete mit Leseschwäche schon früh die Schule verlassen musste: er macht seinen Mangel an Bildung durch eine herrlich blühende Fantasie wieder wett. Ich bin begeistert und lausche gespannt seinen Geschichten.

Rita hat ihr Heimatdorf sehr zum Verdruss von Heinz schon in jungen Jahren verlassen. Da er aber geschworen hat, sie immer zu beschützen, macht er sich irgendwann auf die Suche nach ihr (er spürt sie sogar in Berlin auf, verliert sie aber wieder aus den Augen). Auf seinen Wegen gerät er immer wieder in absonderliche Situationen und ist in allerhand Machenschaften verstrickt. Diese erlebe ich hautnah und sehr umfassend mit und erfahre dabei, wie das alltägliche, politische und gesellschaftliche Leben in der DDR aus Sicht von Heinz war. Die Geschichten sind interessant, zum Teil aber auch sehr langatmig.

Heinz’ Geschichten sind genauso aufgebaut wie seine Gedankenwelt. Abstrus. Abenteuerlich. Alles, was er sieht, hört oder riecht, verarbeitet er nur sehr langsam. Wenn er etwas nicht begreift, improvisiert er. Er kramt in Erinnerungen rum oder füllt die Lücken mit spontanen Hirngespinsten. Auch kommt er beim Denken und Erzählen oft vom Weg ab, schweift mal hierhin, mal dorthin. Auf diese Weise bastelt Heinz sich seine Sicht auf die Dinge. Wie viel Wahrheit in dem steckt, was er zu erzählen hat und wo sich Luftschlösser eingeschlichen haben, bleibt unklar. Aber egal, es hat Spaß gemacht, diesem einfachen, aber gutherzigen Mann zuzuhören. Seine Geschichten sind zwar ausgesprochen weitläufig und driften ab und an ins Skurrile ab, sind aber gleichzeitig auch sehr unterhaltsam. Ich habe es als Bereicherung empfunden, ihn auf seiner Fahrt begleitet zu haben.

Irgendwann ist die Reise nach Warnemünde zu Ende. Und was Heinz dann dort erlebt, hätte selbst er sich nicht zusammenreimen können.

Bewertung vom 03.02.2024
Als der Sturm kam / Schicksalsmomente der Geschichte Bd.2
Marschall, Anja

Als der Sturm kam / Schicksalsmomente der Geschichte Bd.2


ausgezeichnet

Als am Morgen des 16. Februars 1962 an der Nordseeküste vor dem heranrauschenden Orkan „Vincinette“ gewarnt wird, ahnt in Hamburg noch niemand, welche Tragödie auf die Stadt zurollt. Während man an der Küste Vorkehrungen gegen die drohende Sturmflut trifft und auch in Hamburg erste Warnungen rausgehen, geben sich die Hanseaten sorglos und bleiben erstaunlich gelassen, denn „…Sturm gibt es in Hamburg ständig. Das muss man nicht so ernst nehmen…“ (S. 96). Doch „Vincinette“ ist anders. Mächtiger. Das Sturmtief drückt riesige Wassermassen in die Elbe - die nach dem Krieg nur nachlässig geflickten Deiche halten dieser Wucht nicht stand, mehrere Stadteile Hamburgs werden in kürzester Zeit überflutet.

In ihrem Roman „Als der Sturm kam“ schildert Anja Marschall facettenreich und greifbar, was die Hanseaten in den verhängnisvollen Stunden des 16. und 17. Februars 1962 durchstehen mussten. Ich hatte beim Lesen immer wieder eine Gänsehaut. Klar, als gebürtige Norddeutsche kenne ich die Fakten dieser verheerenden Flutkatastrophe aus unterschiedlichen Berichten und habe auch zahlreiche Fotos gesehen. Doch bloße Fakten und einzelne Bilder lassen mich nur wenig nachempfinden, was die Menschen damals wirklich durchgemacht haben. Anja Marschall hat aus den nüchternen Zahlen der furchtbaren Sturmflut und den wahren Geschichten, die dahinterstecken, etwas gemacht, dass im Gedächtnis bleibt. Sie hat einen Roman geschrieben, der nachhaltig an die tragischen Ereignisse und die vielen traurigen Schicksale erinnert.

Anja Marschall beleuchtet die Katastrophe aus unterschiedlichen Blickwinkeln, so dass ich mir ein umfassendes Bild davon machen konnte, wie es Opfern und Rettern damals ergangen ist. Auch wenn - abgesehen von wenigen realen Persönlichkeiten - die handelnden Personen in diesem Roman fiktiv sind, haben mich sowohl die herben Schicksalsschläge der einen wie auch die enorme Hilfsbereitschaft der anderen tief berührt. Die Autorin hat mich die dramatischen Tage rund um die Flutkatastrophe sehr intensiv miterleben lassen. Ich hatte vor Augen, wie die Deiche brechen; wie sich die gurgelnden Fluten einen Weg durch die Straßen Hamburgs bahnen und dabei eine Schneise der Verwüstung hinterlassen. Ich habe mit den verängstigten Bewohnern einer Gartenkolonie in Wilhelmsburg auf den Dächern ihrer Lauben in Dunkelheit und Kälte ausgeharrt, während der Sturm unablässig über sie hinwegfegt und das rauschende Wasser immer höher steigt. Ich habe gemeinsam mit der Schreibkraft Marion Klinger im Polizeihaus die Verantwortlichen bei der Koordination der Hilfseinsätze unterstützt, mit ihr gegen die bleierne Müdigkeit angekämpft und die Sorge um ihre bettlägerige Mutter in der Kolonie geteilt. Ich habe mit Hubschrauberpilot Georg Hagemann in seiner Bristol Sycamore gesessen und ihn bei seinen waghalsigen Rettungseinsätzen angespornt. Ich war dabei, als Dieter Krämer mit seiner THW-Gruppe unzählige Sandsäcke befüllt hat und habe seine Verzweiflung gespürt, als seine Frau und seine Kinder nicht auffindbar sind. Ich habe Polizeioberrat Martin Leddin und Polizeisenator Helmut Schmidt über die Schultern geschaut, als sie sich ohne zu zögern über Regeln und Gesetze hinwegsetzen, um das Leben der Menschen in ihrer Stadt zu retten. Ich habe mit allen Betroffenen, Einsatzkräften und zivilen Helfern gebangt, gehofft und gelitten. Und ich habe mich mit ihnen gefreut, wenn jemand aus den Fluten gerettet werden konnte oder wenn diejenigen, die durch das Chaos getrennt wurden, sich wiedergefunden haben.

Besonders gut gefallen hat mir, dass es in diesem Buch nicht ausschließlich um die dramatischen Ereignisse während der Katastrophe geht, sondern ich auch einen vielfältigen Einblick in die Lebensumstände der einzelnen Akteure bekommen habe. Jeder von ihnen hat eine persönliche Geschichte - ich lerne im Verlauf der Handlung ihre aktuelle Lebenssituation und ihren ganz normalen Alltag kennen. Ich erfahre, welche beruflichen und privaten Ziele sie haben, was sie sich wünschen, wovon sie träumen. Und auch ihre zwischenmenschlichen Beziehungen erlebe ich mit.

Neben der genauso emotionalen wie fesselnden Handlung haben mich auch das Lokal- und Zeitkolorit begeistert - die norddeutsche Lebensart in den 1960er Jahren wird von Anja Marschall echt und glaubwürdig dargestellt.

„Als der Sturm kam“ hat mich von der ersten bis zur letzten Seite fest im Griff gehabt. Die Mischung aus historischen Fakten und einer fesselnden fiktiven Handlung wird mitreißend erzählt und hat mir nicht nur spannende Lesestunden beschert, sondern mich auch realitätsnah an einem Stückchen Hamburger Stadtgeschichte teilhaben lassen. Ein Lesehighlight!

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 02.01.2024
Der Donnerstagsmordclub oder Ein Teufel stirbt immer zuletzt / Die Mordclub-Serie Bd.4
Osman, Richard

Der Donnerstagsmordclub oder Ein Teufel stirbt immer zuletzt / Die Mordclub-Serie Bd.4


sehr gut

In seinem Kriminalroman „Der Donnerstagsmordclub oder Ein Teufel stirbt immer zuletzt“ nimmt Richard Osman den Leser bereits zum vierten Mal mit nach Coopers Chase, einer luxuriösen Seniorenresidenz, die ganz idyllisch inmitten der grünen Hügellandschaft der Grafschaft Kent liegt. Hier leben Elizabeth (früher als Geheimagentin tätig), Joyce (eine ehemalige Krankenschwester), Ibrahim (ein gelegentlich immer noch praktizierender Psychiater) und Ron (ein einstiger Gewerkschaftsfunktionär) - vier muntere Senioren, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, die ortsansässige Kriminalpolizei bei ungeklärten Mordfällen zu unterstützen.

Es weihnachtet in Coopers Chase und die agilen Hobbyermittler hatten sich eigentlich ein Jahr ohne Mord gewünscht, doch dann wird Kuldesh Shamar - ein Freund von Elizabeths Ehemann Stephen - ermordet aufgefunden. Der Antiquitätenhändler war anscheinend in Drogengeschäfte verwickelt. Ehrensache, dass die gewieften Senioren alles daransetzt, um den Mörder dingfest zu machen. Damit nicht genug, ganz nebenbei helfen sie auch noch ihrem Mitbewohner Mervyn Collins, der nicht wahrhaben will, dass er einem Liebesschwindler in die Falle gegangen ist.

Richard Osmans genauso originelles wie warmherziges Quartett aus Coopers Chase hat mich wieder prima unterhalten. Das charmante Miteinander und die irgendwie schrulligen und doch sehr scharfsinnigen Ermittlungen der älteren Herrschaften machen die Handlung zusammen mit ein paar unerwarteten Verstrickungen zu einem kurzweiligen Lesevergnügen.

In diesem Band mischen sich ein paar ernste Töne in die ansonsten von einem feinen britischen Humor durchzogene Handlung. Das Quartett muss akzeptieren, dass im Alter ab und an Klippen auftauchen, die man nicht mehr so leicht umschiffen kann. Das Thema Demenz und der schwierige Umgang mit der Krankheit rücken für Stephen und Elizabeth auf dramatische Weise in den Fokus ihres Alltags. Da Elizabeth ihre Gedanken und ihre Kraft daher verständlicherweise nicht wie üblich in die Ermittlungen stecken kann, übernimmt Joyce diesmal den Part der Anführerin und beweist eindrucksvoll, dass man durchaus über sich hinauswachsen kann, wenn es die Situation erfordert.

„Der Donnerstagsmordclub oder Ein Teufel stirbt immer zuletzt“ hat mir sehr gut gefallen - wer amüsante Krimis mit genauso liebenswerten wie schrägen Charakteren mag, kommt hier voll auf seine Kosten.