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pajaro
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München

Bewertungen

Bewertung vom 09.02.2012
Der Anschlag
King, Stephen

Der Anschlag


ausgezeichnet

King Size

Der Anschlag (Originaltitel 11/23/63) ist das erste Buch des Autors Stephen King, das ich gelesen habe. Für viele mag dies erstaunlich sein, doch ich habe mich zugegebenermaßen nie wirklich für Mystery-Romane interessiert, insofern kam ich bislang auch nie in Berührung mit seinen Büchern und Filmen. Nach der Lektüre des Romans 'Der Anschlag', den ich in der gebundenen Originalversion gelesen habe und daher überhaupt nicht nachvollziehen kann, warum der Heyne-Verlag für die deutsche Ausgabe ein derart schlechtes Cover und einen derart nichtssagenden Titel gewählt hat, wird mein Interesse für Stephen Kings Werke künftig jedoch größer und wesentlich unvoreingenommener sein. Er schreibt einfach ganz fantastisch, fesselnd, überzeugend und wortreich, daher ziehe ich vor dem Übersetzer Wulf Bergner den Hut, sollte es ihm gelungen sein, diese Geschichte auch für den deutschen Leser zu einem ähnlichen Lesevergnügen zu machen. Von der übersetzerischen Mammutaufgabe (rund 850 Seiten) einmal ganz abgesehen.

Als ich die Story Line zu diesem Buch las, war ich sofort interessiert und musste das Buch unbedingt haben. Die Was-Wäre-Wenn-Thematik halte ich für sehr faszinierend und spannend , auch wenn sie schon in vielen Büchern ein zentrales Thema war und natürlich ein dankbares Erzählmotiv ist. Was ich besonders interessant an Kings Herangehensweise an das Thema finde, ist die Tatsache, dass er sich gar nicht großartig mit den wissenschaftlichen und physikalischen Aspekten des Phänomens Zeitreise aufhält. Während der Autor Michael Crichton in seinem Roman Timeline beispielsweise viele Seiten darauf verwendet, dem Leser das Paradoxon Zeitreise von der wissenschaftlichen Seite her näher zu bringen, verzichtet King in seinem aktuellen Roman so gut wie vollständig auf nähere Erklärungen zu den Hintergründen der Zeitreisethematik. Bei ihm steigt der Protagonist Jake Epping, ein Englischlehrer Anfang 30 aus Maine, einfach durch eine Art Loch (in Anlehnung an das 'Rabbit Hoie' bei Alice im Wunderland), das sich auch noch im Vorratsraum eines Imbissrestaurants befindet, und steht plötzlich im Jahr 1958. So absurd und grenzwertig das klingen mag, in Stephen Kings Erzählung wirkt dies alles so plausibel und ist so fesselnd beschrieben, dass man sich an solchen Phantastereien überhaupt nicht stört.

Das Abenteuer, das Jake Epping dann bei seiner Zeitreise im Amerika Ende der Fünfziger und Anfang der Sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts erlebt, ist so wunderbar, spannend und detailgenau beschrieben, dass der eigentliche Plot der Geschichte fast in den Hintergrund tritt und man dem Helden des Romans durch die Zeiten der späten Eisenhower- und frühen Kennedy-Ära nur allzu bereitwillig folgt und kaum genug davon bekommen kann. Dabei schafft es King auf hervorragende Weise die dunklen Aspekte dieser Zeit, wie Rassismus, Umweltverschmutzung, Kalter Krieg, häusliche Gewalt sowie das für die Zeit klassische Rollenbild von Frau und Mann mit einer nostalgischen Leichtigkeit und Unbeschwertheit zu verbinden, dass man dem Erzähler am liebsten sofort in seine Welt folgen möchte, um mit ihm den hohen Anforderungen und Zumutungen unserer realen, komplexen Welt entfliehen zu können. Stephen King thematisiert in seinem Roman damit auch die aktuelle politische Diskussion in Zeiten großer Unsicherheit und gesellschaftlicher Umbrüche in den USA. Und er tut dies, ohne in spröden Eskapismus zu verfallen und eine heile Welt heraufzubeschwören, die es so damals natürlich nie gegeben hat.

Ich halte 'Der Anschlag' für ein sehr gelungenes, ungewöhnliches und spannend geschrieben Buch, das einen als Leser fesselt, dabei glänzend unterhält und über viele interessante Details informiert. Daher gebe ich fünf Sterne und empfehle sein neues Buch unbedingt.

15 von 18 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.