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"PFLICHTLEKTÜRE FÜR JEDEN, DER SICH FÜR DEUTSCHLANDS VERGANGENHEIT, GEGENWART UND ZUKUNFT INTERESSIERT." -CHRISTOPHER CLARK
Um 1500 werden in den Karten der frühen Kartographen und Berichten von Abenteurern und Reisenden erstmals die Spuren einer Nation erkennbar, die Jahrhunderte später Goethe und Schiller hervorbringen wird, aber auch den größten Massenmord der Weltgeschichte zu verantworten hat. Ist dieses "Deutschland" eine Nation mit einer festen Identität und einem angestammten "Volk", oder ist es weit eher ein historischer Raum, in dem sich konkurrierende Vorstellungen davon, was…mehr

Produktbeschreibung
"PFLICHTLEKTÜRE FÜR JEDEN, DER SICH FÜR DEUTSCHLANDS VERGANGENHEIT, GEGENWART UND ZUKUNFT INTERESSIERT." -CHRISTOPHER CLARK

Um 1500 werden in den Karten der frühen Kartographen und Berichten von Abenteurern und Reisenden erstmals die Spuren einer Nation erkennbar, die Jahrhunderte später Goethe und Schiller hervorbringen wird, aber auch den größten Massenmord der Weltgeschichte zu verantworten hat. Ist dieses "Deutschland" eine Nation mit einer festen Identität und einem angestammten "Volk", oder ist es weit eher ein historischer Raum, in dem sich konkurrierende Vorstellungen davon, was Deutschland ist oder werden soll, permanent ablösen?

Helmut Walser Smith geht in seinem elegant geschriebenen Werk der "longue durée" der deutschen Geschichte nach und hält die Idee der Nation und die Ideologie des Nationalismus so hellsichtig auseinander, wie es wohl nur einem Beobachter von außen möglich ist. Imaginationen von Deutschland und deutsche Wirklichkeiten stoßenin seinem geradezu anti-essentialistischen Buch hart aufeinander und entladen sich im 20. Jahrhundert in nationalistischen Exzessen, die Walser Smith ebenso eindringlich wie schonungslos schildert. Bis hin zur Bundestagsrede von Navid Kermani und den aktuellen Versuchen der AfD, sich der deutschen Geschichte zu bemächtigen, reicht diese kluge Meditation über Deutschland und das Erbe seiner Vergangenheit.
Wer ist Deutschland und wenn ja wie viele? Ein innovativer Blick auf Deutschland und seine Geschichte "Walser Smith schreibt elegant und bietet eine Fülle von klugen Einsichten und Beobachtungen." Tim Blanning, Wallstreet Journal
Autorenporträt
Helmut Walser Smith lehrt Geschichte an der Vanderbilt University in Nashville, Tennessee, und ist Autor der Bücher "Die Geschichte des Schlachters. Mord und Antisemitismus in einer deutschen Kleinstadt" sowie "Fluchtpunkt 1941. Kontinuitäten der deutschen Geschichte".
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.10.2021

Welche Farbe soll der Nachbar Frankreich haben?

Helmut Walser Smith präsentiert in seiner Geschichte der deutschen Nation interessante Funde. Aber Systematik ist nicht sein Fall.

Von Stephan Speicher

Die Nation ist eines der großen Themen des modernen Staates, sie ist "zuerst da, ist sie doch der Ursprung von allem", schreibt im Januar 1789 der Abbé Sieyès in "Was ist der dritte Stand?". Und weiter: "Ihr Wille ist immer gesetzlich, denn er ist das Gesetz selbst." Die Staaten, die man dem Westen zurechnet, Großbritannien und Frankreich, die Vereinigten Staaten, Niederlande oder Italien, verstehen sich als Nationalstaaten.

Im Ersten Weltkrieg waren die Ententemächte als Vertreter des modernen demokratischen Prinzips (der russische Verbündete passte natürlich nicht ganz dazu) überzeugt, dass nur auf eine Nation sich gründende Staaten lebensfähig seien, nicht also die Donaumonarchie oder das Osmanische Reich, die in den Friedensverträgen von 1919/20 zerteilt wurden. Und selbst die Sowjetunion, die doch im Namen jede nationale, ethnische oder auch nur territoriale Bestimmung vermied, bemühte sich rasch um eine nationale Identität. Berühmt ist der Toast auf das russische Volk, den Stalin beim Bankett zur Feier des Sieges über Hitler-Deutschland ausbrachte.

Über die Nation kann man immer noch ein Buch schreiben, so viele es davon auch schon gibt. Und über die deutsche Nation, einen besonders heiklen Fall, erst recht. Man muss nur über eine fruchtbare Frage verfügen. Hat Helmut Walser Smith, Historiker an der Vanderbilt University in Nashville, für sein Buch "Deutschland. Geschichte einer Nation" eine solche Frage entwickelt? Er nimmt zunächst eine vorsichtige Haltung zu seinem Gegenstand ein. Nationen seien nicht zeitlos und selbstverständlich, aber eben auch keine willkürlichen Erfindungen.

Demzufolge gibt es offenbar ein Substrat, auf dem sich Nationen entwickeln können, ohne dass aber diese Nationenbildung schon präformiert wäre. Aber welches ist dieses Substrat, im Allgemeinen und im besonderen deutschen Fall? Vielleicht die gemeinsame Sprache? Die Geschichte? Etwas Drittes, ganz anderes? Dazu gibt Walser Smith keine Auskunft. Das ist ein Problem, auf das der Leser mehrfach trifft. Der Autor greift einen Faden auf, lässt ihn aber bald wieder fallen.

Eine interessante Idee ist es, geographische und speziell kartographische Bemühungen zu untersuchen, mit denen Deutsche sich Klarheit über die von Ihnen bewohnten Regionen verschaffen wollten. Im Spätmittelalter sind es noch Reisehandbücher, mit denen sich vor allem Pilger orientieren, das zu bereisende Land wird entlang der Wegstrecke beschrieben - in einer Dimension. Die Karte, zweidimensional, kann Territorien abbilden. Allerdings werden sie erst durch die nachträgliche Kolorierung gut erkennbar. Der deutsche Kartograph Erhard Etzlaub gab zu seiner Karte des "Romwegs" (1500) Hinweise, wie Frankreich oder die Niederlande etwa farblich zu markieren seien. Wie sehr die Entwicklung der Kartographie mit der einer Vorstellung von Nationen korreliert, bleibt aber offen. Es gab, wie Walser Smith feststellt, lange Zeit keine Karten, die die Verbreitung der Konfessionen zeigten. Daraus geht aber gewiss nicht hervor, das konfessionelle Fragen irrelevant gewesen wären, sondern eher, dass sich nur langsam ein territoriales Denken herausbildet.

Das beeinflusst auch die Entstehung eines nationalen Bewusstseins. Politische Herrschaft wird im Mittelalter und weitgehend auch in der frühen Neuzeit über die Loyalität zum Monarchen und seiner Dynastie gesichert, das Land spielt noch eine geringe Rolle. Wohl erhob der französische König Philipp IV. schon Ende des dreizehnten Jahrhunderts Steuern "ad defensionem natalis patriae", zur Verteidigung des Vaterlands, wo wir geboren sind, aber der Gedanke setzt sich nur langsam durch.

Dass die Revolution und die Napoleonischen Kriege nationale Empfindungen aufwühlen und von ihnen aufgewühlt werden, ist eine Binsenweisheit. Aber was ist im Verlauf des achtzehnten Jahrhunderts vorbereitend geschehen? Den Übergang von dynastisch fundierter Herrschaft zum Territorialstaat zeigt Walser Smith am Beispiel Österreichs unter Joseph II. Der Gedanke vom "Tode für das Vaterland" hat eine besondere nationale Pointe, wie Moses Mendelssohn in einer Kritik der gleichnamigen Schrift des Philosophen Thomas Abbt von 1761 ausführt: Nicht nur wird das Opfer des Lebens nun dem Land gebracht statt dem Dynasten, das Übel des Krieges ist für Mendelssohn auch mit dem "wichtigen Vortheil verknüpft", die Entfernung der Stände zu vermindern und die Bürger "einer republikanischen Gleichheit näher" zu bringen.

Mit der Gleichheit ist ein Ideal der Nation benannt. Auf Abbt und Mendelssohn hinzuweisen ist eine gute Idee des Autors. Aber über das Verhältnis, das die Deutschen zum Reich und zu den Einzelstaaten hatten, deren Untertanen sie waren, weiß er nicht viel zu sagen: nicht über den Reichspatriotismus und auch nicht über die Hoffnungen, die (wie manche andere) der junge Reichsfreiherr vom Stein in patriotischer Hinsicht auf Preußen setzte, als er 1780 in dessen Dienste trat.

Walser Smith macht eine Reihe interessanter Bemerkungen, hat immer wieder schöne Funde, aber er lässt auch vieles am Rande liegen, was stärkere Beachtung verdiente. Die Reichsgründung 1870/71 wird selbstverständlich notiert, aber wie sich nach 1848 das nationale Thema neu aufbaut, wie das Reich sich von 1871 an mit den Einzelstaaten arrangiert, welche Reibungen entstehen, wie stark man den alten Dynastien noch anhängt und zugleich dem neuen Gesamtstaat, darüber würde man doch gern mehr lesen.

Zur Nation gehört die Empfindung der Gleichheit ihrer Bürger und also das Interesse für die unteren Bevölkerungsschichten; den Gedanken Mendelssohns greift Walser Smith am Beispiel Georg Büchners und Adolf Menzels auf. Warum ist dann nicht von Bismarcks Sozialversicherungen die Rede? Und wichtiger noch: Warum so wenig und höchstens nebenher über die Nation als Kommunikationsgemeinschaft einer republikanischen Verfasstheit?

Es gehört zu dem im Ganzen wohlwollenden Bild der deutschen Nation, dass das Nachkriegsdeutschland - hier konzentriert der Autor sich bis 1989 auf den Westen - sehr günstig abschneidet, es habe sich vom Nationalismus, nicht von der Nation abgekehrt. Seine These, es habe nach 1945 eine "Renaissance des Nachdenkens über die Nation" gegeben, hätte aber bessere Belege verdient, als hier gegeben werden. Für die Frage nach der Nation seit 1945 ist Walser Smiths Gesichtspunkt die in seinen Augen gelungene Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen. Aber dass die EU bei ihm so gar kein Interesse erregt, obgleich sie doch die große Herausforderung für den Nationalstaat ist, das zeigt zuletzt noch einmal, wie wenig systematisch, wie bloß von einzelnen Einfällen geleitet dieses Buch durch seinen Stoff gleitet.

Helmut Walser Smith: "Deutschland". Geschichte einer Nation. Von 1500 bis zur Gegenwart.

Aus dem Englischen von Andreas Wirthensohn. C. H. Beck Verlag, München 2021. 667 S., Abb., geb., 34,- Euro.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Rezensent Gustav Seibt hat Freude an dem Buch des Historikers Helmut Walser Smith, auch wenn er nicht recht klug wird daraus. Die Schilderungen im Buch findet er anschaulich, die Details entzückend, allein, welchem Zweck sie dienen, scheint ihm nicht klar. So viel erkennt Seibt immerhin: Es geht um "Wahrnehmungen von Deutschland seit der Frühen Neuzeit", etwa durch "militärische Raumerfassung", also nicht um eine politische Nationalgeschichte im herkömmlichen Sinn. Seibt scheint das durchaus faszinierend, aber zwei Schwächen entdeckt er auch: Walsers unscharfe Verwendung des Begriffs "Nation" und die inhaltliche Leerstelle betreffend das Alte Reich.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 17.11.2021

Mehr Vorstellung als Wille
Helmut Walser Smiths neues Buch „Deutschland“ und die Frage,
was es heißt, deutsche Geschichte zu schreiben
VON GUSTAV SEIBT
Dies ist ein Buch, das sich leicht und schön liest, aus dem man aber nicht leicht klug wird. Es ist voller anschaulicher Schilderungen und entzückender Details, aber man kann lange rätseln, wofür genau sie da sind und was sie zeigen sollen. Es geht, präziser kann man es nicht zusammenfassen, um Wahrnehmungen von Deutschland seit der frühen Neuzeit. Man könnte den Haupttitel in Anführungszeichen setzen, dann wäre klar, dass es sich nicht um ein historisches Kollektivsubjekt mit einer durchgehenden Geschichte handelt, also auch nicht um die „Deutsche Geschichte“ seit 1500.
Denn das suggeriert der Untertitel „Geschichte einer Nation“. Im Original – der Verfasser Helmut Walser Smith ist Professor an der Vanderbilt University in Tennessee – lautet er präziser: „A Nation in its Time: Before, During and After Nationalism“. Die Nation wird also getrennt von der Ideologie, von der sie eigentlich geformt wird, dem Nationalismus. Es gab ein Davor und Danach. Also geht es nicht allein um „Nation“ als politische Willensgemeinschaft, die kulturell, sprachlich, ethnisch oder staatsbürgerlich begründet wird und sich in einem Staat mit Verfassung, Recht und fixen Grenzen verwirklicht.
Dass keine Nationalgeschichte in diesem Verständnis von Nation aufgeht, ist allerdings längst Konsens. Auch der Volksbegriff wurde umfassend relativiert: „Volk“ als politischer Akteur wird fassbar erst in einem Staat, er geht ihm nicht voraus. In Deutschland ist der Fall besonders kompliziert, weil der spät gegründete Nationalstaat keine zentrale Monarchie oder ein Parlament beerbte wie in Frankreich oder England. Der deutsche Nationalstaat von 1870, in dessen Nachfolge auch die Bundesrepublik noch existiert, war ein komplexes Produkt der Hegemonie Preußens über kleinere Staaten (den Bundesstaaten wie Bayern oder Sachsen) und einer bürgerlichen Nationalbewegung, deren Anfänge ins 18. Jahrhundert zurückreichen. Diese hatte kulturelle Hintergründe, wurde durch die Revolutionskriege 1792 bis 1815 verschärft und politisiert, scheiterte 1848, um sich danach mit der Großmacht Preußen zu verbünden.
Aber auch lange davor gab es ja schon Deutschland: als geografischen Raum, als Sprachgebiet und als „Reich“ mit geschichtstheologischer Anknüpfung an die Antike. All das gehört in eine Deutsche Geschichte, die zunächst ein Raum ist, in dem viele wechselnde Akteure in variablen Strukturen, mit unterschiedlichen Formen von Zugehörigkeit auftraten, in einem europäischen Umfeld, das moderne Staatsbildung annähernd taktgleich zeigte, mal in großen, mal in kleinen Räumen. In Deutschland zunächst in kleineren, lokaleren Einheiten als etwa in Frankreich.
Wenn man Walser Smiths Buch in dieses Begriffsraster einfügt, begreift man besser, was es soll und nicht will. Es ist nämlich nur zum kleineren Teil eine politische Geschichte – man streiche für die ersten 200 Seiten diese Dimension des Begriffs „Nation“. Es geht ums Sehen, Erfahren, Wahrnehmen. Zum Beispiel sehr wesentlich um Landkarten. Seit der frühen Neuzeit lösten sie die auf Strecken und Namen fixierten mittelalterlicher Itinerare (Wegbeschreibungen) ab und zeigten ein „Gebiet“ von oben. Da wird „Deutschland“ anschaulich, als Raum vorstellbar, besiedelt von zahllosen Städten, die in schönen topografischen Bänden jede für sich gezeichnet und gestochen werden. Aber auch „Bayern“ wird ein solcher anschaulicher Raum, in Philipp Apians wundervollen, wunderbar genauen „bairischen Landtafeln“ (heutzutage bequem im Netz betrachtbar). Dieses „Deutschland“ ist sehr wesentlich ein Produkt von Buchdruck und Druckgrafik.
Reisende beschreiben solche Räume und vergleichen sie mit anderen. Dabei wird der Nationsbegriff, der im Mittelalter vor allem „Herkunft“, „Abstammung“, „regionale Gemeinschaft“ bedeutete, Teil größerer Wahrnehmung, schon ein schwacher Vorschein jener „vorgestellten Gemeinschaften“, die später die politischen Nationen konstituieren. Und nicht nur Deutsche bereisen Deutschland, sondern auch viele kluge Fremde wie Madame de Staël.
Walser Smith erweitert diesen geografischen Strang durch Einbeziehung militärischer Raumerfassung – im Zeitalter konfessioneller Kriege – und späterer industrieller oder administrativer Raumdurchdringung in Infrastrukturen, vor allem der Eisenbahn oder von Statistik. Parallel entwickelt sich ein romantisches Sehen beseelter Landschaften, die von einem idealisierten „Volk“, samt naturwüchsigen Sitten, eigener Sprache und Poesie, belebt werden. Auch der Caspar-David-Friedrich-Blick hat das Deutschlandbild geformt.
Die Politisierung, das eigentlich Nationale, ist Kriegsfolge, vor allem der napoleonischen Zeit. Doch Walser Smith beharrt darauf, dass Deutschland lange Zeit kein Raum prononcierter Nationalgefühle war. Es waren auswärtige Beobachter wie Madame de Staël und Intellektuelle wie Herder oder Fichte, die deutsche Nationalverständnisse anspruchsvoll auf philosophisch-politische Begriffe brachten. Deutschland lebte in nationalistischen Zeiten, ohne dass seine Gesellschaft in der Breite schon nationalistisch war. Immerhin wurde im späten 19. Jahrhundert der Landesraum mit Geschichtszeichen und Denkmälern möbliert, fast wie die Wohnzimmer der patriotischen Kulturbürger. Ein politischer Patriotismus aber hatte sich als Loyalität zu den Landesherren zuvor schon lokal ausgebildet, er ging nur schrittweise aufs Nationale über. Dann wurde, wiederum als Kriegsfolge, nämlich seit 1914 Deutschland wirklich nationalistisch. Erst an diesem Punkt wird auch Walser Smiths Erzählung vollends zu einer politischen Geschichte, in der nicht zuletzt Demütigungsgefühle nach der Niederlage von 1918 eine zentrale Rolle spielen. Diese Nationalhistorie kulminiert in verstörenden Schilderungen der Gewaltexzesse des Zweiten Weltkriegs und des Holocausts. Die lange Dauer von Judenfeindschaft war schon davor ein Leitmotiv der Darstellung.
Die Wirkungen von Vernichtungskrieg und Genozid aufs deutsche Selbstverständnis seither sind unbezweifelbar, man kann aber fragen, ob mit der rassistischen Hintergrundideologie dieser Exzesse der Raum „nationaler“ Begriffe nicht schon wieder verlassen war – es ging um eine herbeifantasierte planetarische Rassenbiologie, die angestammte Geschichtsräume zu Lebensraum umdefinierte.
Das Opferverlangen in diesem Rassenkrieg folgte der pseudodarwinistischen Logik des Kampfes Starker gegen Schwache. Das ist etwas anderes als das Opfer im „Tod fürs Vaterland“, der im 18. Jahrhundert als antikisches, republikanisches Ideal neu idealisiert wurde.
Vom Raum zu Volk und Landschaft bis zur staatlichen und am Ende mordenden Nation geht also das Itinerar von Walser Smith. Am Schluss mündet es in die Entnationalisierung der Zeit seit 1945, die Nation als Mitleidsgemeinschaft erneuerte. Hier findet Walser Smith gute Worte für das Ringen mit der Vergangenheit, für die Verwandlung in ein Einwanderungsland und zuletzt für die Freundlichkeit gegenüber Flüchtlingen im Jahr 2015.
Das Buch hat zwei Schwächen, die sein Verständnis erschweren. Die eine ist begriffliche Unschärfe, vermutlich absichtsvoll. Walser Smith will den Wandel der Vorstellungen und Verständnisse von Deutschland zeigen, dabei spricht er aber doch durchgehend von „Nation“, ohne den Begriff und seinen Wandel jeweils explizit zu erklären. Damit entsteht eine Quelle beträchtlicher Unklarheit. Um Carl Schmitt abzuwandeln: Alles fließt, spricht Heraklit, doch der Begriff, der fließt nicht mit.
Die zweite Schwäche ist inhaltlich. Es fehlt das Alte Reich. Erst ganz spät kommt es im „Reichspatriotismus“ des 18. Jahrhunderts zur Sprache. Seine hochmittelalterliche, auf die Spätantike zurückweisende Tradition und Kontinuität bis 1806 aber kommt nicht gebührend in den Blick. Dabei waren Kaiser und Reich, Kurfürsten, Landesherren, Reichsstädte, Reichsritter, Reichstag und Reichsgericht natürlich Orte und Formen deutscher Selbstverständigung, die Dauer und radikalen Wechsel verband. Deutschland war eben auch in der frühen Neuzeit weit mehr als ein Raum oder als Karte und Gebiet. Es besaß lebende Traditionen, über die unentwegt verhandelt wurde, beispielsweise bei jeder Königswahl von Neuem. Erst mit dem Deutschen Bund von 1815 bringt Walser Smith das für Deutschland so wichtige Motiv des Föderalismus ausführlicher zur Sprache.
Was hier fehlt, könnte ein Blick in die tiefgründigste neue Erörterung deutscher Geschichte lehren, Dieter Langewiesches schmales, gewichtiges Buch „Vom vielstaatlichen Reich zum föderativen Bundesstaat“ (Kröner Verlag, 2020). Der föderale Begriff des „Bundes“ ist die eigentliche Brücke zwischen dem vormodernen und dem heutigen Deutschland. Warum spricht Walser Smith davon so wenig? Vermutlich weil er, einer soliden historiografischen Tradition folgend, „Reich“ und „Nation“ in Deutschland trennt. Insgeheim schleicht sich in sein sonst so fluides Verständnis von Nation doch wieder der alte Adam der kleindeutschen Historie à la Heinrich von Treitschke ein. Denn natürlich: Das Alte Reich war eben keine moderne Nation, nicht einmal ihr Vorläufer. Und so bleibt die eigentlich verdienstvolle und oft innovative, häufig unterhaltsame Historisierung der Vorstellungen von Deutschland ziemlich unklar. Spaß macht das Buch trotzdem.
Die Zeiten waren nationalistisch,
ohne dass die Gesellschaft
schon nationalistisch war
Für Walser Smith spielen nicht
zuletzt Demütigungsgefühle nach
von 1918 eine zentrale Rolle
Auch der Caspar-David-Friedrich-Blick, das romantische Sehen beseelter Landschaften, hat das Deutschlandbild geformt: Brücke über die Bastei in der Sächsischen Schweiz, die zur Zeit Caspar David Friedrichs noch aus Holz war, wobei er sie auf seinen Werken ohnehin einfach wegließ.
Foto: Florian Sanktjohanser/dpa
Helmut Walser Smith: Deutschland. Geschichte einer Nation. Aus dem Englischen von Andreas Wirthensohn. Verlag C.H. Beck, München 2021.
667 Seiten, 34 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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"Smith liefert ein lesenswertes und bestens lesbares Werk, das uns jenen luziden Blick von außen beschert, der Nationen von Nationalismus unterscheidet."
WELT am Sonntag

"Pflichtlektüre für jeden, der sich für Deutschlands Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft interessiert."
Christopher Clark

"Ein[] anspruchsvolle[s] theoretische[s] Konzept mit anschaulichen Beschreibungen. (...) Reizvoll ist der mediengeschichtliche Zugang des Autors zu seinem Thema."
Falter, Thomas Leitner

"Womöglich bedarf es der Perspektive von außen, um nüchtern und gleichzeitig optimistisch auf die Entstehung und Geschichte der deutschen Nation, ihre Befindlichkeiten und ihre mögliche Zukunft zu sehen."
SWR2 Lesenswert, Clemens Klünemann

"Helmut Walser Smith behandelt das schwierige Thema der Nationwerdung Deutschlands mit großer Sachkenntnis und Eindringlichkeit."
Bücherschau, Friedrich Weissensteiner

"[um] die jüngste Vergangenheit nicht aus dem Sinn zu verlieren, bietet das gehaltvolle Buch von Helmut Walser Smith mannigfache Anregungen"
literaturkritik.de, Jens Flemming

"Nationalgeschichte für das post-nationale Zeitalter."
James Sheehan, Stanford

"Walser Smith schreibt elegant und bietet eine Fülle von klugen Einsichten und Beobachtungen."
Tim Blanning, Wallstreet Journal