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Während die Sprache den ganzen Körper erfasst und nicht nur, wie die Neurowissenschaftler behaupten, ein paar leuchtende Regionen im Gehirn, geht die Schrift noch ein paar Schritte weiter. Mit ihrem Auftauchen und ihrem Gebrauch ändert sich sofort das Denken und das Bild der Gesellschaft fundamental und irreversibel. Einmal eingeführt, gibt es kein Zurück mehr hinter die Schrift. Das war es, was Jacques Derrida meinte, als er klarstellte: Am Anfang war die Schrift. Die Hardware der Schrift braucht keine Software des Sinns oder der Inhalte, um ihre Wirkung durchzusetzen. Die Schrift allein ordnet die Dinge neu. Wer dem nicht folgen will, geht unter, wenn er keinen Raum ohne Schrift findet. Die schriftlosen Indigenen Nordamerikas und Australiens legen davon bis heute Zeugnis ab. Aber vom Himmel gefallen ist die Schrift natürlich trotzdem nicht.
"Fragen wir also, wie jene Welt aussah, als es noch keine Schrift gab!", schreibt Hermann Parzinger zu Beginn seiner umfassenden Studie zur Geschichte der Menschheit vor der Erfindung der Schrift. Und was dann folgt, ist von einer solchen in Schrift gegossenen Übersicht, dass jedes Lob davor zur Lächerlichkeit verkommt. Parzinger, heute Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, war jahrelang als Archäologe und Frühhistoriker selbst als Aktivist an zahlreichen Ausgrabungsprojekten beteiligt. Er überblickt sein Forschungsfeld nicht nur, er kann es auch bis zur Einarbeitung des letzten aktuellen Details anderer Forscher vermitteln. So fehlen in der Betrachtung der vorschriftlichen Gesellschaften auch die Artefakte nicht, die Schimpansen, Elefanten und Delphine hervorzubringen vermögen. Parzinger ist damit selbst ein archäologisches Fossil des Humboldtschen Lehrerideals, nach dem die besten Praktiker auch die Theorie zur Praxis vermitteln sollten. Fossil deshalb, weil die Universitäten im Ökonomisierungswahn die Einheit von Forschung und Lehre systematisch auflösen und somit aktiv an der Vernichtung der Bedingung der Möglichkeit solcher Werke wie diesem hier arbeiten.
Cord Riechelmann
Hermann Parzinger: "Eine Geschichte der Menschheit vor der Erfindung der Schrift". C. H. Beck, 850 Seiten, 39,95 Euro
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
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Hermann Parzingers epochales Werk „Die Kinder des Prometheus“ schildert die Geschichte der Menschheit
vor der Erfindung der Schrift – eine so lehrreiche wie fesselnde Lektüre, ohne den Anspruch auf endgültige Welterklärung
VON HARALD EGGEBRECHT
Die Nasenöffnungen im Schädel . . . waren . . . auffallend breit und hoch, was auf eine große fleischige Nase schließen lässt. Auch diese Nasenform wird gern als Folge eiszeitlicher Klimaverhältnisse interpretiert, denn eine große, lange Nase wärmt die Atemluft stärker vor, ehe sie die Lungen erreicht, und trägt so zur Aufrechterhaltung der Körperkerntemperatur bei.“ Dieser Frühmensch mit der großen Nase ist in gewisser Weise der Ureuropäer schlechthin: Der Neandertaler ist „Europas Beitrag zur Humanevolution.“ Und er ist der erste, der mit Bestattungen seiner Toten einen „fundamentalen und geistesgeschichtlich wahrhaft revolutionären Beitrag zur Menschheitsentwicklung“ liefert: die „Entdeckung des Jenseits“ und die „Auseinandersetzung mit der Grenzerfahrung des Todes“. Am Ende überholt ihn jener Typus, der uns heutigen Menschen schon sehr gleicht. Immerhin sollen nach neuesten genetischen Untersuchungen in der DNA des modernen Menschen auch Anteile vom Neandertaler stecken, sodass die eiszeitlichen „Langnasen“ auch in uns gewissermaßen noch wirksam sind.
Auf solche beim bisherigen Wissensstand immer auch hochspekulative Vermutungen und Kalkulationen lässt sich Hermann Parzinger in seinem großen Überblick über die Welt der frühen Menschen nur sehr bedingt ein. Parzinger, seit 2008 Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz und einer der führenden Prähistoriker und wichtigen Archäologen unserer Zeit, gibt in seinem Werk vielmehr ein Musterbeispiel wissenschaftlicher Nüchternheit und Zurückhaltung gerade dann, wenn vermeintlich sensationelle Neuigkeiten über die Vorgänger und Verwandten des heutigen Menschen verkündet werden.
Diese Reserviertheit mag zwar dem Buch einen Hauch von akademischer Übervorsicht geben – manchmal wünscht man sich ein wenig die schriftstellerische Eleganz und Erzählfreude angelsächsischen Sachbuchschreibens herbei – doch das ändert nichts daran, dass Parzinger hier ein in seiner archäologischen Detailkenntnis und seiner Deutungskompetenz epochales Werk gelungen ist.
Wer neugierig ist, was es etwa mit den „Schöninger Speeren“ des Homo heidelbergiensis auf sich hat, den bisher ältesten Jagdwaffen der Menschheit, wird hier fündig werden. Wer wissen will, wie die immer Staunen erregende Kunst der Höhlenmaler von Chauvet, Lascaux oder Altamira einzuschätzen ist im weltweiten Vergleich, wird Parzinger heranziehen. Und sollte darüberhinaus unbedingt Werner Herzogs tief gehenden Dokumentarfilm über die großen Eiszeitkünstler in der Höhle von Chauvet und anderswo sehen, weil in ihm jenes Staunen unmittelbar erlebbar wird.
Wen es interessiert, was die Menschen jener frühen Jahrtausende alles gejagt, gesammelt und gegessen haben, kann hier erfahren, dass Jäger und Sammler neben ersten Ackerbauern existierten oder dass sie die Existenzformen auch gewissermaßen tauschten. Der griffige Slogan von der „neolithischen Revolution“ jedenfalls wird von Parzinger nicht als Richtwert bestätigt, weil die Übergänge zwischen den frühzeitlichen Epochen im Wesentlichen evolutionär über Jahrtausende vonstatten gingen. Das „neolithische Bündel“ – Sesshaftigkeit, Ackerbau, Viehzucht, Keramikherstellung – wird nicht plötzlich und vollständig geschnürt, sondern seine Bestandteile kommen allmählich über große Zeiträume hin zusammen, wie es gerade die Entwicklung in den vorderasiatischen Landschaften des „Fruchtbaren Halbmonds“ zeigt, die weniger dramatischen Klimawechseln ausgesetzt waren als Mitteleuropa und so eine verhältnismäßig ungestörte Kontinuität von der Alt- bis zur Neusteinzeit erlebten.
Man mag den Altvordern aus dem Neandertal; er wirkt mit seiner kraftvoll-stämmigen Gestalt, seinen Fähigkeiten von der Feuerbeherrschung über die Steinwerkzeugfertigung bis hin zur Bestattung seiner Toten wie ein bedächtiger, präziser, dabei kommunikativer Handwerksmeister der Frühzeit, als Eispanzer nördlich der Alpen sich türmten und er nach Südwesten auf die Iberische Halbinsel zurückwich, wo er sich am längsten gehalten hat.
Der Homo neanderthaliensis ist aber nur ein Protagonist menschlicher Arten, deren Dasein und auch Sosein Hermann Parzinger in seiner ungemein fesselnden Darstellung der Vor- und Frühgeschichte menschlichen Lebens auf dem Planeten Erde vor der Erfindung der Schrift beleuchtet. Die Idee eine Kulturweltgeschichte der Frühe vermag vor allem deshalb zu überzeugen, weil selbst diese manchmal nur in geringsten Spuren nachgewiesene Existenz von Hominiden schnell erhellt, wie wichtig es ist, ihr Auftreten weltweit zu betrachten. Plötzlich erscheinen jene unvordenklich fernen Äonen bei aller Fremdheit, allem Noch-nicht-Wissen doch verwandt, auch in jenen Problemen, die unser heutiges Denken und Handeln zunehmend bestimmen. Da sind zuerst die Auswirkungen von Klimawandel, etwa die Eiszeiten, die so viel Wasser in Gletschern und Packeisen speicherten, dass ganze Wasserareale trocken fielen und so Landbrücken entstanden, die etwa Asien und Amerika verbunden haben. Auf dieser Landbrücke, der Beringia, wanderte der Homo sapiens von Sibirien über Alaska in den amerikanischen Doppelkontinent ein vor gut 13 000 Jahren. Oder es gab in Hinterindien die Halbinsel Sunda, die das heutige indonesische Inselreich als Festland umfasste. Von dort war es relativ leicht, die schmale Wasserstraße zum Südkontinent Sahul zu überqueren, wie es der Homo sapiens tat und so auch Australien besiedelte. Das heutige Australien bildete zusammen mit Neuguinea und Neuseeland eben jene südliche Landmasse Sahul.
Wanderungen geschahen aus klimatischer Not, auch aus ökologischem Druck durch Überjagung oder Erodierung, oder durch Verdrängung, siehe den ausgestorbenen Neandertaler. Homo sapiens blieb mit früherer Geschlechtsreife, höherer Kinderzahl und rascherer Anpassungsfähigkeit Sieger über die Langnase im Wettbewerb um den gleichen Raum.
Parzinger geht den Spuren der frühen Menschen nach, zeigt, wie sie sich etwa in Australien bis zur Ankunft der Europäer als Jäger und Sammler eingerichtet hatten in halbnomadischem Leben. Oder er folgt der Besiedlung Ozeaniens bis hin zur Osterinsel. Der Vergleich der verschiedenen Bewegungen belegt aber immer ähnliche Verhaltens- und Vorgehensweisen. Allerdings unterscheidet sich die Forschungs- und Fundsituation in Afrika, Amerika oder Ozeanien sehr von der schon weiter fortgeschrittenen Erkundung des voreiszeitlichen und eiszeitlichen Europa.
Vor- und Frühgeschichte, gerade weil schriftliche Dokumente fehlen, kommen der Naturwissenschaftlichkeit sehr nahe. Geologie, Zoologie, Botanik, allgemein Biologie, Wetterkunde, zunehmend Genetikforschung und weitere Disziplinen gehören dazu. Es braucht die Kombination vieler Fächer, um die ausgegrabenen Funde und Überreste datieren, einschätzen, im besten Falle auch „lesen“ und sogar deuten zu können. Da öffnen sich zwar sogleich die unsicheren Felder von Vermutung und Gedankenspiel, die gleichwohl vielleicht notwendig sind, um überhaupt Bilder von möglicher damaliger Realität entwerfen zu können.
Parzinger weist jedoch unermüdlich darauf hin, wie wenig man weiß, wie vieles immer verborgen bleiben wird, wie sehr lückenhaft der Forschungsstand gerade in Afrika, Amerika oder Asien ist und wie gering das bisher Gefundene von jenen ist, aus denen letztlich auch wir hervorgegangen sind.
Dennoch gelingt es ihm mit aller Vorsicht, jene Welt früher Menschen plausibel und gleichsam sichtbar zu machen. Und manchmal spürt man auch die ungeheure Faszination, die diese frühen Menschenalter auf den Autor und selbst so erfolgreichen Archäologen Parzinger ausüben. Wenn er über die Eiszeitkünstler von der Schwäbischen Alb und in Südwestfrankreich spricht, kommt sogar dieser so disziplinierte Wissenschaftler momentweise ins Schwärmen.
Das Buch lässt sich dank zweier Register zu geografischen Begriffen und zu den behandelten alten Kulturen und zahlreicher Hinweise neben dem fortlaufenden Text ausgesprochen gut zum Nachschlagen nutzen. Auch auf diese Weise vermeidet Parzinger den Eindruck professoral endgültiger Welterklärung.
Vielmehr öffnet er in diesem gewissermaßen so skeptischen wie lustvoll neugierigen Umgang mit archäologischen Resultaten und Forscherarchiven den Blick auf Epochen der Menschheit, von denen wir nur Bruchstücke kennen, manches erahnen können und viel mehr nicht wissen und wissen werden. Doch all das ist im Fluss, soll heißen, mit jedem neuen Fund, jeder neuen Entdeckung kann das Wissen um „die Kinder des Prometheus“ verändert, vervollkommnet und vertieft werden, auch und gerade, indem daher bisherige Annahmen revidiert oder als Irrtümer erkannt werden müssen.
Dieses Buch lehrt, altmodisch gesagt, den Prozess der Zivilisation als so dynamischen wie unabschließbaren Vorgang zu begreifen. Das gilt vom Homo erectus, der vor gut 300 000 Jahren bei Schöningen in Niedersachsen Wildpferde mit Speeren jagte, bis zu den modernen Flüchtlingen 2015, die sich an neue Bedingungen anpassen müssen. Es gilt erst recht für jene Eingesessenen, die glauben, hier müsse alles so bleiben, wie es ist. Das ist die größte und falscheste aller Spekulationen. Gerade mit ihr wird und soll vermeintlich rationale Politik gemacht werden. Wer Hermann Parzingers weltweite Geschichte der Prometheuskinder liest, wird das Gefühl ein für alle Mal verlieren, es gäbe in Europa oder anderswo eine Insel seligen Wohl- und Stillstands – alle sind unterwegs, allzeit und überall.
Hermann Parzinger: Die Kinder des Prometheus. Die Geschichte der Menschheit vor der Erfindung der Schrift. Verlag C. H. Beck, München 2014. 848 Seiten, 110 Abb. und 19 Karten, 39,95 Euro. E-Book 33,99 Euro.
Parzingers Buch ist ein
Musterbeispiel wissenschaftlicher
Gewissenhaftigkeit
Der Prozess der Zivilisation
erscheint hier als dynamischer,
unabschließbarer Vorgang
Wer Profundes erfahren will über die Kunst der Höhlenmaler – hier die „Cueva de las Manos“ in Patagonien –, wird Parzinger heranziehen.
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Weltkunst, Mai 2015