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Vom Kainszeichen bis zum genetischen Code reicht das Spektrum dieses Buches über die Schrift, das gleichwohl anderes und mehr ist als ihre Geschichte. Türckes Kritische Theorie der Schrift betrachtet ihre Bedeutung als Gradmesser menschlicher Entwicklung. Die High-Tech-Kultur unserer Gegenwart erzeugt ein Schriftdefizit, das seine Kompensation in einem einzigartigen Schriftkult findet.Schrift hat roh begonnen: als Einschnitt in menschliche Körper oder, biblisch gesprochen, als Kainszeichen. Ihr Entstehungszusammenhang ist das archaische Menschenopfer. Schrift auf Stein, Ton, Holz ist im…mehr

Produktbeschreibung
Vom Kainszeichen bis zum genetischen Code reicht das Spektrum dieses Buches über die Schrift, das gleichwohl anderes und mehr ist als ihre Geschichte. Türckes Kritische Theorie der Schrift betrachtet ihre Bedeutung als Gradmesser menschlicher Entwicklung. Die High-Tech-Kultur unserer Gegenwart erzeugt ein Schriftdefizit, das seine Kompensation in einem einzigartigen Schriftkult findet.Schrift hat roh begonnen: als Einschnitt in menschliche Körper oder, biblisch gesprochen, als Kainszeichen. Ihr Entstehungszusammenhang ist das archaische Menschenopfer. Schrift auf Stein, Ton, Holz ist im Vergleich dazu bereits profan; sie hat sich durch einen vieltausendjährigen Emanzipationsprozeß von ihrem kultischen Ursprung entfernt. Gegenwärtig erleben wir, wie dieser profanen Schrift unter dem wachsenden Einfluß der audio-visuellen Medien das Rückgrat bricht.Doch die Schrift verschwindet nicht. Vom Branding und Hypertext über die Grammatologie bis zum genetischen Code zelebriert unsere Gegenwart Schrift als sozialen, kulturellen und biologischen Sinn; beschwört sie als etwas Höheres, dem wir uns zu unterwerfen haben. Diese Vergötzung der Schrift rettet die Schrift nicht, macht sie vielmehr zum Fetisch. Fundamentalistisch klammert sie sich an das, was gerade wegbricht. In Anlehnung an Horkheimer und Adorno könnte man sagen: Schrift ist dem Kult entsprungen und schlägt in Schriftkult zurück. Deshalb hat Christoph Türcke seine Untersuchung Kritische Theorie der Schrift genannt.
Autorenporträt
Christoph Türcke, Jahrgang 1948, ist Professor für Philosophie in Leipzig. Im zu Klampen Verlag sind u.a. von ihm erschienen: Die neue Geschäftigkeit; Religionswende; Gewalt und Tabu; Zum ideologiekritischen Potential der Theologie
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.01.2006

Aus dem Griffel fließt kein Tropfen Blut
Schreiben statt Menschen opfern: Christoph Türcke schwingt sich durch die Weltgeschichte der Schrift

Nachdem Kain seinen Bruder erschlagen hatte, verfluchte ihn Gott. Dann aber machte er ihm ein Zeichen, "daß ihn keiner erschlage, der ihn fände": das Kainszeichen. Was das bedeuten soll, haben schon die alten Schriftgelehrten nicht mehr verstanden, meint der Philosoph Christoph Türcke, aber daß es wichtig ist, haben sie gewußt und die ungereimte Geschichte deshalb so gelassen, wie sie ist. In Türckes neuem Buch wird sie zu einer Geschichte über den Ursprung der Schrift.

Allen neuen Medien zum Trotz kommt der Mensch von der Schrift nicht los, konstatiert Türcke, sie ist ein "Anthropologicum", viel tiefer in körperlichen, magischen, heiligen Zusammenhängen verwurzelt, als uns das heute noch bewußt ist. Anhand verschiedener Etappen von den frühesten, nicht mehr sicher interpretierbaren Einkerbungen bis zum Hypertext und dem gern zu einer Art natürlicher Sprache stilisierten genetischen Code deckt er auf, wie die Schrift uns umgarnt und wir sie heute noch stärker verabsolutieren als je zuvor in ihrer Geschichte.

Die Anstrengung, widerspenstigem Material Einkerbungen beizubringen, nahmen nur Kulturen auf sich, auf denen ein ungeheurer Druck lastete, meint Türcke, Kulturen, die sich nach Sicherheit sehnten. So werden Buchungstafeln aufgekommen sein, als das gesprochene Wort nicht mehr als verläßlich genug galt. Aber am eigentlichen Ursprung der Schrift, meint Türcke, stand etwas viel Grausameres: das Menschenopfer als Versuch "eines gepeinigten Nervensystems", das Schreckliche, das dem frühen Menschen allenthalben zustieß, fernzuhalten, indem er selbst Schreckliches tut.

Eine überraschende Wendung, wie sie für das Buch typisch ist: Denn Kains Zorn entzündete sich zwar daran, daß Gott an der Opfergabe seines Bruders mehr Freude hatte als an seiner, doch dabei handelte es sich bekanntlich um ein Tieropfer. Dies führt Türcke auf das "urbane Kulturniveau israelitischer Schriftgelehrter" zurück, für die ein Menschenopfer weit weg und nicht mehr anders denn als feiger Mord denkbar ist. Andere alttestamentarische Stellen sind da weniger zurückhaltend, und vor ihrem Hintergrund deutet Türcke das Kainszeichen als symbolische Teilhabe am Geschick des Opfers. Psychologisch wird das Menschenopfer Ausdruck eines traumatischen Wiederholungszwangs, semiotisch deutet Türcke das Gutheißen des Schrecklichen im Opfer als Aufgehen der ersten "Sphäre der Bedeutung".

Nicht alle Völker haben die Profanierung der Schrift vollzogen, vom menschlichen Körper auf Stein, Metall, Ton, Leder, Pergament und Papier; und vom Zeichen, mit dem man sich der Gottheit übergibt, zum Zeichen für alles, was einem selbst gehört. Jahrhunderte oder Jahrtausende, vermutet Türcke, muß es gedauert haben, bis der Gedanke, daß Menschen, und nicht nur Götter, lebende Wesen besitzen können, kein Sakrileg mehr war. Die Frechheit, den Göttern erst Tiere statt der Menschen und später gar leblose Dinge zu opfern, mußte dadurch wettgemacht werden, daß man die Opfergaben dem "Original" möglichst ähnlich machte, indem man sie kennzeichnete. Die Schrift, so Türckes These, entstand also in sakralen Zusammenhängen und nicht erst bei den mesopotamischen Viehhändlern. Ein Zeichen in Ton zu ritzen, das ursprünglich einem menschlichen Opfer zugedacht war, steht demnach in der Tradition des Prometheus, der Zeus dreist in Haut gewickelte Rinderknochen anbietet und das Fleisch für sich behält.

Vom Kainszeichen zum Besitzzeichen, vom Bildzeichen zum Lautzeichen, von der Silbenschrift zur Konsonantenschrift, der vermutlich die Phönizier, um die vielen Fremdworte besser erfassen zu können, Vokalzeichen hinzufügten, Erzählung, Mythos, Epos - Türcke reiht sie ein in seine Theorie wie Perlen auf eine Schnur: das "blutlose Einschreiben in tote Schreibflächen" wird eine "hochkultivierte Ersatzhandlung". Mit der griechischen Philosophie gerät die Schrift noch im antiken Griechenland in eine erste Krise. Sind die aufgeschriebenen Wörter nicht nur blasse Schatten der Dinge selbst?

Türcke umreißt seine Theorie der Entwicklung der Schrift aus dem Heiligen mit einem Schwung und einer Intensität, daß man ihm durch die ganze Weltgeschichte folgen möchte, doch wenige Seiten nach der Antike folgt bereits der Hypertext. Vielleicht, so der gewagte Brückenschlag, ist Platons Befürchtung, die Schrift erschaffe eine Scheinwelt, für die Antike übertrieben gewesen, paßt aber um so besser auf unsere Zeit. Die Fans der neuen Medien verweisen das traditionelle Schreiben in die "Gutenberg-Galaxis", machen es für eine lineare und irgendwie verarmte Denkweise verantwortlich und propagieren den Hypertext als "authentisches, naturgemäßes Textmodell". Für Türcke ist dies ein allzu billiges Feindbild. Denn was auf den ersten Blick wie ein linearer Prozeß aussehen mag - ein Buch von vorn bis hinten zu lesen -, sei tatsächlich "ein permanentes Schwanken um eine Linie mit ständigem Assoziationsüberschuß", mit Rück- und Vorausblicken, Abweichungen, Flüchtigkeiten und Denkpausen. Die neuen Medien, so Türcke, sind nichts völlig Neues, sie können Sinne und Erlebnisse nur viel perfekter dekontextualisieren, als es die Bücher je konnten.

Die Verwirrung um den Status der Schrift im Zeitalter des Hypertextes, die Türcke anhand der Theorien von Deleuze und Derrida vorführt, erreichte einen Höhepunkt, als in den fünfziger Jahren die Begriffe der Informationstheorie Einzug in die Molekularbiologie hielten und die Gene zum "genetischen Code" wurden, in dem Roman Jakobson sogar die Struktur indoeuropäischer und semitischer Sprachen wiederzuerkennen meinte.

In die gleiche Richtung wirkt nach Türcke der Markenkult, der Firmenlogos zu Identitätsstiftern erhebt. In dieser Überhöhung wird die Schrift heute, was sie "nicht einmal in ihren finstersten sakralen Anfängen war: zur Sache selbst". Und das, so Türcke, erfüllt den Tatbestand des Schriftkults, der aus der Schrift einen Fetisch macht und das Wichtigste vergißt, nämlich daß sie etwas bedeutet.

Türcke spannt in seiner "kritischen Theorie der Schrift" schwindelerregende Bögen vom Menschenopfer zum Kirchenasyl, vom archaischen Eigenzeichen zum Markenkult. Und auch wenn nicht jeder Gedankengang nachvollziehbar ist, trägt der brillante Stil mühelos durch ein Buch, das man auch nach mehr als zweihundert Seiten nur mit Bedauern zuschlägt.

MANUELA LENZEN

Christoph Türcke: "Vom Kainszeichen zum genetischen Code". Kritische Theorie der Schrift, Beck Verlag, München 2005, 247 S., 24,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 20.12.2005

Die tödliche Metapher
Christoph Türckes fulminante „Kritische Theorie der Schrift”
Ein Buch tut, wovon es handelt: Es ritzt sich ein. Es hinterlässt im Lesenden eine tiefe Spur. Es ist die Spur vom Ursprung unseres Verlangens danach, selbst eine Spur zu hinterlassen. Denn ein Zeichen, das ist unser Wille, soll sichtbar sein, auch und gerade heute, in den Zeiten maximaler Beweglichkeit - ein Zeichen unserer selbst, unserer Taten, unserer Schwierigkeiten oder ihrer Bewältigung. Dieses Verlangen nach einer Markierung, die bedeutend macht, geht weit zurück in die rituellen Anfänge unseres Menschseins, und wer seine Beschreibung in dem hier anzuzeigenden Buch von Christoph Türcke vernimmt, der wird sie nicht wieder los - wie einen festen Eintrag ins Gedächtnis der Schriftmenschen, die wir, allem Geflimmer zum Trotz, unvermeidlicherweise noch immer sind. Denn es ist doch, so geht die Lehre, im Grunde alles Schrift.
So möchte der Rezensent reden. Doch eben dieses Buch warnt ihn mit größter Eindringlichkeit: So darf man allenfalls mit höchster Vorsicht reden. Wer sie nicht anwendet, gerät geradewegs in ein Grundübel heutigen Denkens. Dieses besteht darin, dass das Wort „Schrift” mit seinen Ableitungen und Synonymen als allgegenwärtige Metapher unserer Kultur gebraucht wird. Und zwar mit dem Ergebnis, dass die Teilnehmer dieses ganzen weltumspannenden Schriftverkehrs - seien es unbewusste Mitschreiber oder mutwillige philosophische Vorschreiber - den entscheidenden Unterschied zwischen der Metapher und dem von ihr Übertragenen, also der eigentlichen Schrift, unkenntlich machen.
Es war doch, daran erinnert Christoph Türcke, Philosoph an der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst, in seinem Buch „Vom Kainszeichen zum genetischen Code”, eine echte Aufklärung, eine Emanzipation des Menschen von Kult und Natur, als er schon vor tausenden von Jahren entdeckte, „dass das Lesen in buchstäblichem Sinn, also das Herauslesen einer zuvor hineingelegten Bedeutung, und das Lesen in metaphorischem Sinn, nämlich das Hineinlesen einer Bedeutung, zweierlei sind”. Dieses Zweierlei ist nun Türcke zufolge in Gefahr, von unzähligen „Lesenden” und „Entziffernden”, geleitet von Oberpriestern wie dem verstorbenen französischen Philosophen Jacques Derrida, durch einen neuen „Schriftkult” ersetzt zu werden. „Medium, Information, Text, Schrift, Code: so heißen dessen Idole.”
So spricht der Mahner Christoph Türcke. Er ist aber kein Eiferer, der die einen durch andere Götter verdrängen will, sondern ein Analytiker von gnadenloser Einfühlsamkeit. Er hört dem modernen Patienten genau zu, der an einer Absolutsetzung des Mediums, an einer übertriebenen Vorstellung von der Lesbarkeit des Lebens leidet. Und er attestiert dem Patienten, er klammere sich gerade deswegen an den Schreib-Gedanken, weil das entsprechende Medium von allen Seiten - von bewegten Bildern, Computerbildschirmen und sprunghafter Aufmerksamkeit - unter Beschuss steht: „Erst auf dem Hochtechnologieniveau des 20. Jahrhunderts wird Schrift zu etwas hypostasiert, was sie nicht einmal in ihren finstersten sakralen Anfängen war: zur Sache selbst.”
So müssen in der zweiten Hälfte des Buches, die von dieser Entwicklung erzählt, viele Schriftgläubige dran glauben. Da sind etwa Schrifttheoretiker wie Gilles Deleuze mit seinem wuchernden Wurzelbaum („Man sitzt hier vor einem Schreibfluss, den man nur noch andächtig oder mitleidig verfolgen kann”) und Jacques Derrida mit seiner folgenreichen Verwischung der Differenz von „Schrift” und „Spur” (Die Schrift hat eine Intention, die Spur hat keine). Da sind die Informations- und Mediengurus mit ihrer Hypertext-Begeisterung, deren angeblich so bewegliche „Links” nichts sind als „festgestellte, totgestellte Assoziationen”. Und da sind die Anhänger der „Marke”, des Brandzeichens der modernen Warenwelt, die in den Trägern von Tattoos und Piercings ihre nur scheinbar nonkonformistische Entsprechung finden.
Und da sind nicht zuletzt die Genforscher und ihre Propheten, die von den „Buchstaben” der genetischen „Information” so trunken sind, dass sie gar nicht mehr anders können, als an die Buchstäblichkeit ihrer Rede zu glauben. Nach der Entdeckung der DNS-Doppelhelix gab der Linguist Roman Jakobson allen Ernstes von sich, „die Kompositionsgesetze im genetischen Code” seien „die gleichen wie die Strukturgesetze der indoeuropäischen und semitischen Wurzeln”. Türcke unterstellt allen, die von den „Buchstaben des Lebens” schwärmen, eine verdeckte Teleologie der Metaphernhörigkeit, wie im Spruch Bill Clintons bei der Präsentation der Sequenzierung des menschlichen Erbguts vor fünf Jahren: „Heute lernen wir die Sprache kennen, in der Gott das Leben schuf.”
Die Kunst des Balancierens
Dieser Schriftkult, sagt Christoph Türcke, „rettet die Schrift nicht; er fetischisiert sie. Damit bringt er sie gerade um ihr Bestes: dass sie sich auf anderes bezieht, etwas bedeutet.” Diese entlarvende Diagnose ist fulminant, weit ausgreifend, und sie wird mit vielen originellen Gedanken und Beobachtungen vorgetragen, etwa solchen: „Glücklich, wer vom Zugriff auf die Textbestände der Welt so wenig erdrückt, gelähmt oder zerstreut wird, dass er geistig dabei mehr gewinnt als verliert. Es gibt solche Glücklichen, aber sie müssen verdammt gut balancieren können: sich weit mehr gegen die Schwerkraft der Schrift stemmen, als es Platon und seine Zeitgenossen je nötig hatten.” So viel zum Internet!
Für seinen bewundernswerten Gesamtdurchgang muss der Autor einiges an Reduktion leisten; und so sehr sich auch Belesenheit und Eigenständigkeit in diesem Buch paaren, so sind doch einige Protagonisten der Debatte um Schrift, Wort und Aufzeichnung seltsam abwesend - etwa Jack Goody, Friedrich Kittler, Walter Ong oder Jan Assmann. Dies wäre störend, und auch der kapitalismus- und kulturkritische Überschuss in der zweiten Hälfte dieses Buches wäre es, würde nicht all dies grundiert von einer Theorie über den Ursprung und die Geschichte der Schrift, deren verstörende Kraft und anthropologische Wucht die Lektüre zu einem beeindruckenden Erlebnis macht.
Der Hauptgedanke dieses Teils ist dieser: Die Herkunft der Schrift ist eine durch und durch sakrale, denn ihrer Erfindung liegt die Erfahrung des Menschenopfers zu Grunde. Der Daseinsdruck der frühen Menschen, der sich in der Bedrohung durch wilde Tiere und wildes Wetter manifestierte, ließ sie die darin gespürte außermenschliche Übermacht nur dadurch besänftigen, indem sie einen aus dem eigenen Kreis dieser Macht opferten. Die Vollstrecker dieses Tötungsrituals machten sich auf schreckliche Weise schuldig und zugleich - so die Zurechtlegung, um dauerhaften Sinn in das Ritual zu bringen - für die nächste Zeit auch unangreifbar, eben weil sie das Opfer dargebracht haben, weil also das Schicksal erst einmal an ihnen vorbeigegangen war.
Hier kommt nun die Schrift ins Spiel: Angetrieben von dem, was Türcke als traumatischen Wiederholungszwang interpretiert, haben sich jene fernen Vorfahren ein blutiges Mal auf ihren Körper geritzt - als Schuld- und Schutzzeichen in einem. Reflexe dieser archaischen Praxis deckt Türcke an einer Reihe von Fällen auf; ihre Urgeschichte ist die biblische Erzählung vom Brudermord Kains an Abel, deren Widersprüchlichkeit durch die darin überwundenen, aber hervorscheinenden Traditionsspuren des Menschenopfers verblüffend erklärt wird.
Wie sich das Opfer selbst mit der Zeit vom Menschen auf Tiere und dann auf Gegenstände verlagerte, so wanderte auch die Schrift vom Körper hinüber zur Speicherung auf nicht-körperliche Stoffe. Die Frühzeit uns überlieferter Schriften - etwa der sumerischen aus dem vierten Jahrtausend vor Christus - wäre demnach erst eine profane Spätzeit, ein Endpunkt einer langen Geschichte mit einem blutigen Anfang. „Schrift ist ein Anthropologicum”, sagt Christoph Türcke. Wenn man so schreibt, ist ihr jedenfalls nicht zu entkommen.
JOHAN SCHLOEMANN
CHRISTOPH TÜRCKE: Vom Kainszeichen zum genetischen Code. Kritische Theorie der Schrift. Verlag C. H. Beck, München 2005. 247 Seiten, 24,90 Euro.
„Schrift ist ein Anthropologicum”, sagt der Philosoph Christoph Türcke. Robert Indianas „Number Painting 4” war in der im Oktober zu Ende gegangenen Chemnitzer Ausstellung „Schrift. Zeichen. Geste. Carlfriedrich Claus im Kontext von Klee bis Pollock” zu sehen; das Bild entnehmen wir dem Katalog, der im Wienand Verlag erschienen ist (544 S., 58 Euro).
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Manuela Lenzen ist von dieser "kritischen Theorie der Schrift" des Philosophen Christoph Türcke, die die Entstehung des Geschriebenen von ihren Ursprüngen bis in die Gegenwart untersucht, sehr beeindruckt. Der Autor fasst Schrift als "Anthropologicum" auf, das tief in "körperlichen, magischen, heiligen Zusammenhängen" gründet, und macht als deren Ursprung die Abkehr vom "Menschenopfer" aus. Die Rezensentin ist vom "Schwung" und der "Intensität" Türckes begeistert und würde sich am liebsten vom Autor Schritt für Schritt durch die Schriftgeschichte führen lassen, weshalb sie zunächst etwas enttäuscht ist, dass Türcke schon wenige Seiten nach seinen Ausführungen zur Antike beim Hypertext landet. Doch lässt sich Lenzen vom "gewagten Brückenschlag" in die Gegenwart überzeugen und folgt dem Autor interessiert, wenn er anhand der Theorien Deleuzes und Derridas die "Verwirrung um den Status der Schrift im Zeitalter des Hypertexts" aufzeigt. Auch die Ausführungen zu "Firmenlogos als Identitätsstifter", bei der die Schrift Fetischcharakter annimmt, findet die Rezensentin sehr fesselnd und sie preist Türcke für seine "schwindelerregenden Bögen". Lenzen findet zwar nicht "jeden Gedankengang" des Philosophen "nachvollziehbar", nichtsdestotrotz lässt sie sich von dessen "brillanten Stil" durch das Buch führen und hat es am Ende nur "mit Bedauern" zugeschlagen.

© Perlentaucher Medien GmbH
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