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Die tiefgründige philosophische Analyse, die dieses Buch unternimmt, gilt einem Phänomen, das wir alle kennen. Seine Anfänge reichen wenigstens bis in die Altsteinzeit zurück, schon in der Antike wurde es professionell behandelt, doch erst im 20. Jahrhundert wissenschaftlichen Standards unterzogen: der Traum.

Produktbeschreibung
Die tiefgründige philosophische Analyse, die dieses Buch unternimmt, gilt einem Phänomen, das wir alle kennen. Seine Anfänge reichen wenigstens bis in die Altsteinzeit zurück, schon in der Antike wurde es professionell behandelt, doch erst im 20. Jahrhundert wissenschaftlichen Standards unterzogen: der Traum.
Autorenporträt
Christoph Türcke ist Professor für Philosophie an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 02.01.2009

Die Umarmung des Schreckens
Christoph Türcke legt eine Theorie der Menschwerdung vor – und korrigiert Sigmund Freud
Was macht den Menschen zum Menschen? Die Antwort, die dieses Buch gibt, lässt sich in weniger als einer Zeile zusammenfassen: Dass er den Schrecken umarmt. Zum Menschen, daran lässt der Verfasser keinen Zweifel, wird man nicht freiwillig, und es handelt sich bei der Menschwerdung nicht um den geradlinigen Fortschritt, wie es die Reihenbilder der Evolution zu denken gelehrt haben, die den gebückten Knöchelgänger zeigen, wie er dem aufrechten Homo sapiens entgegenstrebt; sondern nur die äußerste Not kann dieses eine außerordentliche Wesen veranlasst haben, die relative Behaglichkeit des Tiertums in Richtung auf höhere Sphären zu verlassen, wie ein Bergsteiger, der aus der Steilwand, in die er sich verstiegen hat, nur einen einzigen Ausweg sieht: den nach oben. Und das muss unter großen Schmerzen geschehen sein.
Die „Philosophie des Traums” setzt ein Projekt fort, das Christoph Türcke schon in seinem vorigen Buch, „Vom Kainszeichen zum genetischen Code”, verfolgt hatte, und krönt es. Damals hatte er eine „Kritische Theorie der Schrift” präsentiert (in Wahrheit freilich schon viel mehr als bloß das), jetzt legt Türcke nicht weniger als einen umfassenden anthropologischen Entwurf vor, der sich als eine Synthese aus Philosophie und Psychoanalyse versteht, als die Erfüllung dessen, was Platon, Kant, besonders aber Freud je einzeln gewollt haben. Das klingt vermessen; und der Leser benötigt einige Zeit: erst, um die Größe dieses Anspruchs zu begreifen; dann, um die Überraschung zu verarbeiten, dass der Autor genau das einlöst, was er in Aussicht gestellt hat. Nur 250 Seiten umfasst das Buch, doch die haben es in sich.
Freud führt, wohin er nicht will
Am Eingang steht unübersehbar, wie zur Abholung bereit: Freud. Er ist sozusagen der Vergil dieses Buches. Aber er wird „führen, wohin er nicht will.” Das ist mit Ehrerbietung und leisem Spott gesagt. Türcke ehrt an Freud den Willen zur Wahrheit und Klarheit, der so vorteilhaft von dem koboldhaften Herumhüpfen namentlich der französischen Denker, von Lacan und Derrida, absticht. Von Freud übernimmt T rcke Methode und Stil. Was den Stil betrifft, so charakterisiert man ihn am besten mit einem Wort Schopenhauers: Wichtig ist vor allem, dass man etwas zu sagen habe – oh, damit kommt man weit! Es resultiert eine sachliche Eleganz, nicht ohne Temperament, jedoch mit kontrollierten Bewegungsabläufen. Die Methode aber besteht in der Spekulation.
„Es ist Zeit, die Spekulation zu rehabilitieren. Gewöhnlich wird darunter heute nur noch eine bestimmte Form ungewisser Mutmaßung verstanden: etwa über den Ausgang des nächsten Fußballspiels oder über die Entwicklung von Aktien- und Grundstückpreisen. (. . .) Doch ,speculator‘ heißt wörtlich Ausspäher, Kundschafter, ,speculari‘ etwas erspähen, was nicht offen zutage liegt. Damit kann sowohl Ausspionieren als auch Erforschen gemeint sein. Der Idealfall des ,speculator‘ ist der Detektiv, der aus wenigen Spuren zweifelsfrei erschließt, wie sich der verborgene Sachverhalt tatsächlich zugetragen hat.”
So verfährt durchaus und nahezu ausschließlich auch Freud in seinen Überlegungen zur Genese der Menschenseele; denn ein anderer Weg zu jenen Geschehnissen, die sich vor Zehntausenden oder Hunderttausenden von Jahren mit unseren Vorfahren zugetragen haben, steht nicht offen. Besser, man bedenkt das und gibt es zu, als es zu treiben wie die Fülle der heutigen wissenschaftlichen und halbwissenschaftlichen Evolutions-Literatur, die den Altruismus oder die weibliche Unfähigkeit einzuparken aus der Lebensweise der Urmenschen deduziert, ohne sich aber klar zu machen, wie wenig sie faktisch darüber weiß, und darum im Zustand der Naivität gefangen bleibt.
Drei Großkapitel setzt Türcke an. Sie heißen Traum – Trieb – Wort. Türcke wundert sich darüber, dass Freud die Mechanismen, die er in der Traumarbeit wirken sah, namentlich Verdichtung, Verschiebung und Umkehrung, nicht darüber hinaus in seine allgemeine Kulturtheorie übernommen hat. Denn so, und nur so, sagt Türcke, ging die Menschwerdung vonstatten. Dem Schrecken, worin auch immer er bestanden haben mag, in Erdbeben, Blitz oder übermächtigem Fressfeind, entrinnt der Ur-Hominide durch die identifizierende Nachahmung, die in der Wiederholung allmählich die traumatische Wucht abstumpft. Dafür jedoch gibt es nur ein Mittel: dass einer aus der Mitte der Horde von dieser selbst getötet wird. Das in der Ekstase verübte Menschenopfer ist der verheimlichte Kern, um den sich nach und nach alle Kultur kristallisiert.
Daraus ergeben sich für Türcke erstaunliche Konsequenzen, von denen hier nur eine erwähnt werden soll: das Inzestverbot. Sein Ursprung liege weder in der ödipalen Kleinfamilie noch in der Ermordung des Urvaters durch das Kollektiv der Söhne – die Familie, meint Türcke, komme viel zu spät, um etwas so allgemein Verbreitetes und Tiefreichendes wie die Inzestschranke zu erklären, und der angeblich so gewaltige Urvater sei als Quelle des Schreckens weit hinter dem zurückgeblieben, was der schwachen Horde von außen drohte. Und dass der Inzest biologisch auf die Dauer schädlich sei, wie sollte unser Urahn davon Kenntnis haben? Nein, die Sexualität einschließlich des Inzests müsse primär etwas ganz Unproblematisches gewesen sein, wie bei den Tieren sichtbar ja bis heute, nämlich die einvernehmliche Abfuhr eines hormonell bedingten Bedürfnisses, unter Einsatz zwar erheblicher Energien, aber doch ohne verhohlene Reste. Erst indem die Sexualität orgiastisch ins Opfer hineinspiele, gewissermaßen als ein zweckentfremdeter Zunder, komme jenes seelische Geschehen in Gang, das zu Verbot und Verdrängung führt (und nebenbei zur Erotik). Vergessen werden soll, dass es die allzugroße Nähe der Körper war, aus der heraus einst getötet wurde. Türcke weist darauf hin, welch enorme Milderung des reinen rasenden Tötens es zuerst bedeutet haben muss, dass hier dem Sex eine Pforte geöffnet wurde, und sei er noch so wild. Erst nachdem dies geglückt war, konnte die nächste zivilisatorische Stufe erklommen werden, auf der es nun wiederum die Sexualität zu bändigen galt – immer mit dem Ziel, weiter und immer weiter vom Menschenopfer und allem, was daran erinnerte, weg zu gelangen. Man sieht an diesem Beispiel, mit welch spiegelbildlicher Kühnheit Türcke sich jener Herausforderung stellt, die Freud für ihn ist, und wie seine eigenen Kräfte an diesem Widerstand erwachsen.
Schneidend verwegen
Das Buch zeichnet sich durch eine ungewöhnliche Gedankendichte aus, und es kann hier auch nicht annähernd ein Überblick der Entdeckungen gegeben werden, die den Leser erwarten. Er wird darin eine komplette Theorie der Sprachentstehung finden und die schlüssig durchgeführte Argumentation, warum es einen Todestrieb im Sinne Freuds nicht geben kann. Der Scharfsinn der Thesen hat zuweilen etwas schneidend Verwegenes; aber Türcke verfügt in hohem Maß über die Fähigkeit, ihm die Kraft des Einleuchtenden zu verleihen. Schreibend scheint er selbst jenen Schicht um Schicht sedimentierenden Vorgang der Geist- und Seelenwerdung nachzuahmen, der das zunächst skandalös Ungewohnte, das man entsetzt wie eine heiße Kartoffel fallen lässt, nach und nach in einen festen wohltemperierten Bestand verwandelt, in etwas, das man fassen kann.
Zu hoffen bleibt, dass „Philosophie des Traums” als das erkannt und gewürdigt wird, was es ist: als die genuine Weiterführung, wenn nicht gar die Aufhebung der Freudschen Theorie. Dem steht jedoch die Befürchtung entgegen, dass Türcke allzu vielen Leuten, die ihr Schäflein im Trockenen zu haben glauben, die Pein, etwas Neues zu denken, abverlangt, und dass sie sich um diese Zumutung auf jede ihnen mögliche Weise herumdrücken werden.
Eine Frage steht zum Schluss noch im Raum: Wenn allein der Mensch sich gezwungen sieht, das traumatische Erlebnis, das den Tieren ja keineswegs erspart wird, durch Wiederholung zu beschwichtigen, weil er allein über jenes zusammenhängende Gedächtnis verfügt, welches einfach nicht vergessen kann – müsste er, um zum Menschen zu werden, es nicht schon sein? Schwer vorstellbar, dass der Dialektiker Türcke darauf keine Antwort wüsste! BURKHARD MÜLLER
CHRISTOPH TÜRCKE: Philosophie des Traums. C.H. Beck, München 2008. 252 Seiten, 24,90 Euro.
Menschwerdung heißt, den Schrecken nachzuahmen, um ihm seine Schärfe zu nehmen. – Aus dem Stummfilm „Nosferatu” (1921). Foto: SZ-Archiv
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Sehr beeindruckt hat Rezensent Lutger Lütkehaus diese philosophische ”Mentalarchäologie” des Leipziger Philosophieprofessors über den Traum gelesen, die er als ”herausragendes Sachbuch” empfiehlt. Und zwar nicht allein auf Grund seiner inhaltlichen Qualität und Gelehrsamkeit, sondern auch, weil das Werk aus seiner Sicht exzellent geschrieben ist. Spekulationsfreudig suche Christoph Türckes Argumentation außerdem das Risiko. Türcke richte sein Augenmerk auf Strategien der Träume, also Macharten, Produktionsweisen und verschiedene Formen der Traumarbeit. Anders als Freud sehe Türcke den Schrecken nicht als Ergebnis, sondern als Ausgangspunkt der Traumarbeit, die durch ”Wiederholung des Schreckens” Trauma-auflösend wirke. Spannend findet der Rezensent auch den daraus entwickelten Punkt, dass der Traum auf diesem Weg eine Art Grundfigur ”einer entlastend und kathartisch” verstandenen menschlichen Kulturbildung werde. Leise deutet der Rezensent allerdings an, dass die Überfülle der für diese Denk- und Mentalitätsgeschichte herangezogenen Details mitunter empfindlich den ”Nachvollzug” hemmt.

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