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"Der Präsident muss Orientierungshilfen geben in Zeiten der Ratlosigkeit, muss Schneisen schlagen in das Dickicht unserer Tage. Genau dies hat Richard von Weizsäcker (...) getan. Sein Menschenbild und seine Weltvorstellung wurzeln in einer tieferen Dimension, als das normalerweise bei Politikern der Fall ist, und wahrscheinlich wurde er gerade darum von allen akzeptiert." Marion Dönhoff
Das Amt des Bundespräsidenten war Richard von Weizsäcker gleichsam auf den Leib geschneidert, und auch "außer Dienst" ist er bis heute eine politische und moralische Instanz geblieben. Wie kaum ein anderer
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Produktbeschreibung
"Der Präsident muss Orientierungshilfen geben in Zeiten der Ratlosigkeit, muss Schneisen schlagen in das Dickicht unserer Tage. Genau dies hat Richard von Weizsäcker (...) getan. Sein Menschenbild und seine Weltvorstellung wurzeln in einer tieferen Dimension, als das normalerweise bei Politikern der Fall ist, und wahrscheinlich wurde er gerade darum von allen akzeptiert."
Marion Dönhoff

Das Amt des Bundespräsidenten war Richard von Weizsäcker gleichsam auf den Leib geschneidert, und auch "außer Dienst" ist er bis heute eine politische und moralische Instanz geblieben. Wie kaum ein anderer Politiker hat er es verstanden, das Ganze der deutschen Gesellschaft in den Blick zu nehmen, Stärken und Schwächen der bundesdeutschen Demokratie darzulegen und zugleich immer wieder integrierend zu wirken. Gunter Hofmann, langjähriger Chefkorrespondent der Wochenzeitung "Die ZEIT", geht dem Lebensweg des Ausnahmepolitikers nach, schildert seinen familiären Hintergrund und die wesentlichen Stationen seiner politischen Karriere, aber er fragt auch einfühlsam nach der komplexen Persönlichkeit Weizsäckers, die sich nicht leicht auf eine Formel bringen lässt. So ist ein biographisches Portrait entstanden, das uns den Mann näher bringt, der - gemeinsam mit Helmut Schmidt - inmitten grassierender Politikverdrossenheit für viele Deutsche zum Inbegriff eines glaubwürdigen Staatsmannes geworden ist.
Autorenporträt
Gunter Hofmann, Jahrgang 1942, hat Politische Wissenschaften, Philosophie und Soziologie studiert, zunächst für die Stuttgarter Zeitung, seit 1977 für die Zeit als Korrespondent in Bonn gearbeitet, dann viele Jahre das Berliner Büro der Zeit geleitet.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.03.2010

Langer Schatten und große Strahlkraft

Drei neue Biographien über Richard von Weizsäcker widmen sich seinen familiären Prägungen und seiner glanzvollen Karriere.

Von Rainer Blasius

Am 15. April wird Richard von Weizsäcker neunzig Jahre alt. Gleich drei Verlage bedenken ihn mit Biographien. Die Journalisten Hermann Rudolph und Gunter Hofmann sowie der ehemalige Weizsäcker-Mitarbeiter Friedbert Pflüger schreiben um die Wette über den Adjutanten im Infanterieregiment Nr. 9, Juristen bei Mannesmann und bei Boehringer, Präsidenten des Evangelischen Kirchentages, Bundestagsabgeordneten, Regierenden Bürgermeister von Berlin und Bundespräsidenten. Am konventionellsten geht Rudolph vor, chronologisch, vornehm im Ton und die "dritte Amtszeit" ab 1994 einbeziehend. Er begreift den "Elder Statesman" als liberalen Bürger, der sich "im Nachdenken, im freien Engagement, im gelegentlichen Intervenieren" verwirkliche: "Noch stärker als bisher tritt bei ihm das Freisinnige hervor, vielleicht auch der Freigeist, jedenfalls eine große Eigenständigkeit."

Weizsäcker sei "Zeitzeuge und Deuter in einem". In diesem Zusammenhang geht es um Ernst von Weizsäcker: "Das Hineintauchen und Hineingetauchtwerden des deutschen Bürgertums in das Dritte Reich ist für ihn in der Rolle des Vaters, des Staatssekretärs im Auswärtigen Amt, zum Exempel geworden. Als sein Hilfsverteidiger beim Kriegsverbrecherprozess vor dem Nürnberger Gerichtshof war Weizsäcker tief in dieses Familienkapitel involviert." Ob seine Beschäftigung mit der Vergangenheit als Kompensation des "familiären Schicksals" zu verstehen sei, fragt der "Tagesspiegel"-Herausgeber Rudolph. Jedenfalls hätten Richard und sein Bruder Carl Friedrich "durchweg mit großer Empfindlichkeit reagiert, wann immer die Rede auf den Vater kam". War der Staatssekretär ein "Mann des Widerstandes"? Ernst von Weizsäcker "hat dies nie von sich behauptet, auch sein Sohn nicht, wenngleich er dazu neigt, dem Vater ein Widerstehen gegen Hitler zu attestieren, das von Widerstand kaum noch zu unterscheiden ist." Nun wollte der Staatssekretär 1938/39 mit aller Kraft den "großen Krieg" gegen die Westmächte verhindern, blieb dann nach Hitlers Polenfeldzug auf dem Posten, um "Schlimmeres" zu verhüten. Dabei sei er "auch in den Judenmord verwickelt" gewesen, habe Deportationen mit seiner Paraphe gebilligt: "Kann man aber seiner Erklärung glauben, er habe das Ziel dieser Deportationen, die Vernichtung der Juden, nicht gekannt?" Laut Richard von Weizsäcker sei dem Vater bis zur Versetzung an den Vatikan 1943 nicht klar gewesen, "was der Name Auschwitz bedeutete". Solche Beteuerungen stoßen bei Rudolph angesichts der verfügbaren Forschungen "auf Skepsis, und sie bleiben erst recht erstaunlich, wenn - wie der Sohn in seiner Rede vom 8. Mai 1985 behauptet hat - selbst den Durchschnittsdeutschen nicht hat entgehen können, dass Deportationszüge rollten, sofern sie nur ihre Augen und ihre Ohren geöffnet hatten".

Für die Politik entdeckt wurde Weizsäcker, seit 1954 CDU-Mitglied, im Jahr 1965 von Helmut Kohl, dem Bundeskanzler der Jahre 1982 bis 1998. Sehr eindrucksvoll war laut Rudolph ab Juli 1984 "die Erfolgskurve, die Weizsäckers Präsidentschaft in die verunsicherte Republik einzeichnet. Hat der Essayist Johannes Gross nicht behauptet, das Amt des Bundespräsidenten sei machtlos, ,eine Spitze, auf die nichts zuläuft'? Bald sieht man, was alles von dieser Spitze ausgeht und welche politisch-moralische Macht sie entfaltet." Höhepunkt war die Rede am 8. Mai 1985 - "Geschichtserzählung und Standortbestimmung, Trauerarbeit und Totenklage, Vergegenwärtigung der von Deutschland verübten Schrecknisse und Meditation über Schuld und Unschuld". Da glänzte Weizsäcker, während Rudolph den Bitburg-Besuch von Präsident Reagan und Kohl zum "dunklen Gegenbild" stilisiert. Avanciert sei Weizsäcker dann wie von selbst "zum Ersatz- und Überkanzler, an dem gemessen Kohl ein klägliches Bild abgibt".

Weizsäckers Wiederwahl fand im Mai 1989 statt. Für die Phase der Weichenstellung nach dem Fall der Mauer am 9. November 1989 "verlor der Bundespräsident, die überragende politische Identifikations- und Integrationsfigur der alten Bundesrepublik, seine orientierende Kraft. Das hat das Phänomen Weizsäcker nicht ernstlich beschädigt, aber es hat es verändert. Eingezwängt zwischen der Erkenntnis, dass die Vereinigung nicht anders möglich gewesen wäre, und der Überzeugung, dass sie anders hätte verlaufen müssen, machte er die Schieflage im Seelenleben der Nation zu seinem Thema, halb Mutmacher, halb Therapeut." Er habe sich als Stimme der Ostdeutschen verstanden. Zudem ziehe sich Weizsäckers Einsatz für die deutsch-polnische Verständigung "wie ein roter Faden durch sein politisches Engagement".

In Rudolphs Buch weist das Personenregister fast vierzig Mal den Vater Ernst nach, Gunter Hofmann kommt auf das Doppelte. Hofmanns Resümee lautet: "Seit 1989 ging es darum, klar zu machen, dass Europa ohne Polen nicht zu denken sei. Dafür steht Weizsäcker heute. Was er sagt, sagt er differenziert, und im Zweifel auch deutlich, in dieser Reihenfolge. Ernst von Weizsäcker in Nürnberg, das blieb nicht das letzte Wort. Man hört die Stimme des Sohnes heraus. Das gilt nicht nur für den 8. Mai 1985, es gilt generell. Nach der Hinwendung zu Frankreich, für die noch der ,Weimarianer' Adenauer sorgte, ist es die konsequente, unbeirrbare Hinwendung zu Polen, die man neben Brandt und Bahr, Dönhoff und Schmidt insbesondere mit Richard von Weizsäcker verbindet." Der Autor will zeigen, wie fixiert Weizsäcker angeblich bis zum heutigen Tage auf seinen Vater sei. Der Staatssekretär der Jahre 1938 bis 1943 stand "nicht auf Seiten des Regimes, aber auch nicht auf Seiten einer konsequenten Opposition". Und überhaupt habe er sich "fatal geirrt". Bei der Lektüre der Präsidenten-Memoiren "Vier Zeiten" (1997) kam es dem früheren "Zeit"-Chefkorrespondenten so vor, "als habe der Sohn einen Vater kennengelernt, erlebt und akzeptiert, so wie er ,im Innersten' war - ohne wirklich nachvollziehen zu können, wie er agierte. Das ,Wesen' war nicht zu ändern, das ,Handeln' verstand er nicht, schon gar nicht durchweg." Und Hofmann legt noch nach: "Das ,Wesen' des Vaters sei das Entscheidende gewesen, nicht sein ,Handeln', hat der Sohn gesagt. Dieses ,Wesen' jedoch blieb verhüllt. Das verteidigte der Sohn, nicht die Handlungen."

Außerdem nimmt Hofmann noch Ernst von Weizsäckers Verteidiger Hellmut Becker ins Visier: "In die Rolle des ,Widerständlers' habe er den Vater hineingetrieben, heißt es inzwischen." Hier ist ein "Einspruch, Euer Ehren!" angebracht: Der Weizsäcker-Familie samt ihrem Hilfsverteidiger hat dieses - von der Journalistin Margret Boveri und dem Historiker Hans Rothfels ausgeschmückte - Bild vom Widerständler verständlicherweise gefallen. Becker spielte übrigens in der Bundesrepublik "eine große Rolle als Reformpädagoge, Bildungsforscher und linksliberale Stimme". Mittlerweile werde - so Hofmann - dessen Vergangenheit kritisch aufgespießt, "einschließlich der Mitgliedsnummer in der NSDAP".

Autor Friedbert Pflüger war ab 1981 Mitarbeiter Weizsäckers in Berlin, von Juli 1984 bis September 1989 Pressesprecher des Bundespräsidenten, von 1990 bis 2006 Mitglied des Bundestages (CDU), zudem 2005/2006 Parlamentarischer Staatssekretär. Der 1955 geborene Politikwissenschaftler legte vor 20 Jahren das 500-Seiten-Werk "Richard von Weizsäcker. Ein Porträt aus der Nähe" vor, das auf breite Resonanz stieß, wenn auch einige Rezensenten über die Kammerdienerperspektive spotteten. So schrieb Ignaz Miller in der "Neuen Zürcher Zeitung", das Buch sei "mit nebensächlichen Details überladen" und erinnere in einige Passagen stark an Hedwig Courths-Mahler, "die sich aber sicher nie so missverständlich ausgedrückt hätte". Mittlerweile kann sich Pflüger kürzer fassen. In der Einleitung zum 200-Seiten-Buch "Richard von Weizsäcker. Mit der Macht der Moral" blickt er zurück auf seinen Weizsäcker-Erstling, den er "voller Bewunderung für den Chef und väterlichen Freund" geschrieben habe.

Im Weizsäcker-Zweitling, der die ganze Amtszeit in den Blick nimmt, erzählt Pflüger eine Begebenheit "zum ersten Mal": Mit Thilo Steinbach, dem außenpolitischen Berater des DDR-Ministerpräsidenten Lothar de Maizière, habe er Kohls Ansatz einer deutsch-deutschen Konföderation "ein wenig weiter" entwickelt. "Dazu müsse, so unser Plan, Weizsäcker einfach - neben seinem Amt als Bundespräsident - auch Vorsitzender des Staatsrates der DDR werden. Das wäre ein deutliches Zeichen des Einheitswillens und würde der DDR doch Zeit geben, sich langsam und mit eigenen Vorstellungen in den Einigungsprozess einzubringen." Und weiter: "Meine damalige Frau, Margarita Mathiopoulos, und ich luden am 4. Mai 1990 mehrere Persönlichkeiten zu einem kleinen Empfang bei uns in Königswinter-Ittenbach ein, darunter Weizsäcker und Steinbach. Diese begaben sich irgendwann in den Garten und diskutierten die Idee. Weizsäcker fand den Vorschlag immerhin so reizvoll, dass er ihn wenige Tage später mit de Maizière persönlich vertiefte. Der hielt die Sache gleichfalls für spannend, doch sahen beide auch die staatsrechtlichen Probleme." Doch Kohl sei damals "längst" entschlossen gewesen, "alle Konföderationsgedanken zu begraben".

Eine andere Begebenheit erwähnte Pflüger schon 1990, ohne dass sie besonders beachtet wurde: "Ursprünglich hatte der Bundespräsident beabsichtigt, in seiner Rede am 8. Mai 1985 die Begnadigung des Hitler-Stellvertreters Rudolf Heß zu fordern." Nun erzählt Pflüger zum zweiten Mal und ausführlicher davon. Beim Thema Heß sei es Weizsäcker "ausschließlich um Gnade für den alten Mann, nicht etwa um Relativierung von Schuld und Mitwirkung" gegangen. Dies sei Weizsäcker "besonders wichtig" gewesen, "vielleicht auch vor dem Hintergrund der Biografie des Vaters". Pflüger habe am 6. Mai 1985 abends wegen der "verheerenden Wirkung" des Treffens Reagan/Kohl in Bitburg Weizsäcker angerufen, weil er bereits die Schlagzeile "Präsident fordert Freilassung des Hitler-Stellvertreters!" fürchtete. Doch der "reagierte zuerst sichtlich genervt, weil er ja die Gegenargumente kannte". Am 7. Mai holte Pflüger ein Meinungsbild der Mitarbeiter im Präsidialamt ein, berief sich darauf in einem weiteren Telefonat mit Weizsäcker, der nur "knurrte": "Sie haben sie agitiert." Erst am Nachmittag verkündete Weizsäcker zu Pflügers "Erleichterung, dass er auf die Heß-Sätze verzichten, sie aber bei einer anderen Gelegenheit vortragen werde". Überhaupt meint Pflüger, "dass die Biografie und Lebensweise des Vaters prägenden Einfluss auf den Sohn, dessen Sichtweisen und Lebensthemen hatten. Vielleicht kommt es auch daher, dass er nach Möglichkeit größere Konflikte vermied und immer wieder versuchte, es möglichst vielen recht zu machen."

Den drei im doppelten Sinne flott geschriebenen Würdigungen ist gemeinsam, dass sie Weizsäckers Wirken wohl allzu stark vom "Lernort Nürnberg", also von seiner Hilfsverteidigerzeit her interpretieren. Zudem werden Weizsäckers dienstliche und private Unterlagen nicht herangezogen. Und was die Vor-Bundespräsidenten-Phase betrifft, so schlachten die Autoren vor allem den 1984 von Werner Filmer und Heribert Schwan herausgegebenen Sammelband "Richard von Weizsäcker. Profile eines Mannes" aus. Vielleicht darf man zum hundertsten Geburtstag auf eine Biographie hoffen, die einerseits wissenschaftlichen Ansprüchen genügt, andererseits auch Richard von Weizsäckers Prägungen durch seine höchst beeindruckende Mutter Marianne geborene von Graevenitz nachspürt.

Gunter Hofmann: Richard von Weizsäcker. Ein deutsches Leben. Verlag C.H. Beck, München 2010. 295 S., 19,95 [Euro].

Friedbert Pflüger: Richard von Weizsäcker. Mit der Macht der Moral. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2010. 223 S., 19,95 [Euro].

Hermann Rudolph: Richard von Weizsäcker. Eine Biographie. Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2010. 288 S., 19,95 [Euro].

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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.03.2010

Oberster Bürger im imaginären Ältestenrat
Richard von Weizsäcker wird neunzig Jahre alt: Vier neue Biographien sind über ihn erschienen
Helmut Schmidts politischer Wegweiser „Außer Dienst” zählt zu den zehn erfolgreichsten Bestsellern der vergangenen zehn Jahre. Das liegt nicht daran, dass Schmidt so unterhaltsam ist. Von ihm erwarten die Leute sich mehr: Orientierungshilfe in unsicheren Zeiten. Gesucht werden derzeit weise Männer und Frauen, die den Bürgern erklären, was die Vergangenheit mit Gegenwart und Zukunft zu tun hat und wie man aus historischen Einsichten womöglich sogar Hoffnung für die Zukunft schöpfen kann. Gefragt sind nicht Revolutionäre, nicht kompromisslose Visionäre, sondern wohlmeinende Autoritätspersonen, die den Zuhörern ermöglichen, ihre eigene Geschichte als Teil eines großen Ganzen zu begreifen, das nicht notwendigerweise auf die Klimakatastrophe und Umverteilungskriege zusteuert. Lange ist der Respekt vor der Altersweisheit nicht mehr so groß gewesen.
Ostdeutschland hat wenig Personal, das dies Bedürfnis nach politisch-moralischer Sinnstiftung bundesweit befriedigt. Einige Kirchenleute kommen in Frage. Die alte Bundesrepublik hat da schon mehr zu bieten: Etliche alte westdeutsche Politiker gibt es, die ihrem Publikum das Gefühl vermitteln, im Fluss der Zeitläufte nicht ganz verloren zu sein: Erhard Eppler, Hans-Jochen Vogel, Heiner Geißler und Hildegard Hamm-Brücher zum Beispiel. Eine Spitzenposition im imaginären Ältestenrat nimmt Altbundespräsident Richard von Weizsäcker ein. Was in anderen Gesellschaften der Schamane, das ist er für die Deutschen.
Krach mit Kohl
Was Richard von Weizsäcker sagt, hat Gewicht. Seinen Ruf hat er sich durch ein Talent erworben, das er früh entwickelte: Seit seinem Eintritt in die Parteipolitik in den sechziger Jahren hat er es verstanden, eine Aura der aufgeklärten Abgeklärtheit um sich herum zu erzeugen. Seine Arbeit als Präsident des Evangelischen Kirchentages war ihm eine gute Schule: Da lernte er „wir” zu sagen und Bekenntnisse so zu formulieren, dass niemand sich persönlich am Portepee gepackt fühlen muss, aber alle gemeinsam sich gern angesprochen fühlen. Auch als Parteipolitiker hat von Weizsäcker der goldenen Mitte zugeneigt. Nicht zufällig wurde er schon Ende der sechziger Jahre für das Amt des Bundespräsidenten ins Gespräch gebracht.
Als er dies Amt dann innehatte, war er in seinem Element. Während er sich zuvor noch hatte nachsagen lassen müssen, nicht eben einer der Mutigsten zu sein, wurde er nun für seine ausgewogenen Reden bewundert. Der Höhepunkt seiner Amtszeit war 1985 die Ansprache zum vierzigsten Jahrestag des Kriegsendes. Sie brachte die herrschende Stimmung in der Bundesrepublik auf den Punkt: Die Nachgeborenen mussten sich nicht schuldig fühlen für die NS-Verbrechen, aber ihnen war aufgetragen, im Geist der Erinnerung die Zukunft zu gestalten.
Richard von Weizsäcker personifiziert nicht bloß den alten Konsens der Bundesrepublik, er war 1989 auch in der DDR hochanerkannt. Er gilt bundesweit als Lichtgestalt. So erklärt es sich, dass anlässlich seines neunzigsten Geburtstags, den er im April begeht, gleich vier Biographien erscheinen. So erklärt es sich auch, dass deren keine ernstlich versucht, etwas Neues über von Weizsäcker ans Licht zu bringen. Der Altbundespräsident scheint über genauere Recherchen mittlerweile erhaben zu sein. Dass diese Herangehensweise für einen Autor nebenbei den Vorzug hat, ihm viel Arbeitszeit zu ersparen, versteht sich.
Alle vier Biographien sind im wesentlichen aus älteren Publikationen zusammengeschrieben: aus Büchern über Richard von Weizsäcker, aus Zeitungsartikeln und – vor allem – aus Weizsäckers Erinnerungen, die er unter dem Titel „Vier Zeiten” 1997 publizierte. Drei dieser Bücher enthalten nichts, was nicht schon anderswo zu lesen wäre. Einzig das Buch des Zeit-Journalisten Gunter Hofmann ist wirklich originell.
1983 saßen Richard von Weizsäcker, damals noch Regierender Bürgermeister von Berlin, und Kanzler Helmut Kohl zusammen auf der Ehrentribüne im Berliner Olympiastadion. Deutschland spielte gegen die Türkei. Die beiden Politiker gerieten in heftigen Streit. Der drehte sich allerdings nicht um das Fußballspiel. Von Weizsäcker beschuldigte Kohl des Wortbruchs. Kohl hatte ihm versprochen, dass er bei den nächsten Bundespräsidentschaftswahlen Kandidat der Union sein solle; dann hatte er sein Wort zurückgenommen. Weizsäcker echauffierte sich. Von der diskreten Eleganz, die er kultiviert, war ihm nichts anzumerken. Er war zornig, er benahm sich wie ein ganz normaler Mensch. Friedbert Pflüger schildert die Szene. Er ist der einzige der Biographen, der Weizsäcker nicht als Figur eines moralischen Wachsfigurenkabinetts darstellt. „Niemand täusche sich: Es ist nicht einfach, für Richard von Weizsäcker zu arbeiten”, schreibt Pflüger, „aber so gnadenlos er Leistung einfordern konnte, so gnädig war er zumeist, wenn er wenigstens ehrliches Bemühen spürte”.
Pflüger, der in den achtziger Jahren Pressereferent und Redenschreiber des Bundespräsidenten war, hat 1990 ein dickes Buch über seine Zeit unter von Weizsäcker publiziert. Sein neues Buch basiert auf dem alten. Zwar bezeichnet er Weizsäcker als einen „väterlichen Freund”, tatsächlich verfällt er aber oft in den Tonfall des Kammerdieners, der hinter vorgehaltener Hand harmlose Anekdoten über die Herrschaft zum Besten gibt. Wirklich witzig sind nur jene Anekdoten, in denen der Autor selbstironisch berichtet, wie Weizsäcker sich über ihn lustig machte. Weizsäckers politische Ansichten gibt er korrekt wieder. Korrekt wäre es im Übrigen gewesen, wenn er in seinem neuen Buch darauf hingewiesen hätte, dass es lediglich eine gekürzte, bearbeitete und passagenweise aktualisierte Version des alten ist.
Pflügers „Porträt aus der Nähe” von 1990 ist eines der ersten Bücher, die über Richard von Weizsäcker veröffentlicht wurden. Es gehört zu den Quellen, aus denen Hermann Rudolph, Herausgeber des Berliner Tagesspiegel, sich bedient. Während Pflüger jetzt vor allem bei sich selbst abgeschrieben hat, gibt Rudolph sich mit Publikationen von anderen zufrieden. Auf Fußnoten hat er verzichtet. Anderenfalls wäre vermutlich offenbar geworden, was seine Hauptquelle ist: Die Erinnerungen des Altbundespräsidenten von 1997. Zunehmend schreibt Rudolph an Weizsäckers Buch entlang, er zitiert dieselben Autoren wie dieser, er erzählt dieselben Episoden.
Am besten ist das Original
Sogar der Aufbau seines Buches folgt mitunter dem Vorbild: In „Vier Zeiten” hat Richard von Weizsäcker das Lob für das Engagement seiner Frau unmittelbar vor dem Kapitel „Vereinigung” platziert. Rudolph preist Marianne von Weizsäcker vor dem Kapitel, das er „Mauerfall und Vereinigung” nennt. An anderer Stelle schreibt er, sie habe „vermutlich” Medizin studieren wollen, die Idee dann aber aufgegeben. Wieso „vermutlich”? Frau von Weizsäcker lebt: Hätte Rudolph sie gefragt, sie hätte ihm bestimmt Antwort gegeben.
Den Bericht von seiner Amtszeit als Präsident beschließt von Weizsäcker so: „Am Schluss meiner Abschiedsrede dankte ich allen für die gemeinsame Zeit und sagte: ,Meine Damen und Herren, Frau Präsidentin, ich habe meine Amtszeit beendet. Die Stafette ist übergeben. Sie haben mich glücklich überstanden.‘ Hier vermerkt das Amtliche Protokoll ,Heiterkeit‘.” Bei Rudolph endet das Kapital über die Präsidentschaft so: „Die kleine ironische Schlussverbeugung: ,Meine Damen und Herren . . . Sie haben mich glücklich überstanden‘, wird – laut Protokoll – mit Heiterkeit bedacht.”
Wie in solchen Fällen üblich, ist das Original – Weizsäckers Erinnerungen – konkreter als die Nachschrift. So erzählt Weizsäcker, wie Pastor Friedrich Schorlemmer einigermaßen vergeblich versuchte, mit eigener Hand ein Schwert zu einer Pflugschar umzuschmieden. Rudolph hingegen schreibt nur, Schorlemmer habe die Umschmiedeaktion „inszeniert”. Abgesehen davon, dass er von Weizsäckers deutschlandpolitische Verdienste herausstreicht, hat Hermann Rudolph keine Botschaft. Ähnliches gilt für Andreas Schmid, dessen kleines Buch nichts anderes ist und sein will als eine Hagiographie, wobei der Journalist Schmid sich vor allem für Weizsäckers Arbeit in der Evangelischen Kirche interessiert. Allerdings hat auch er nichts Nennenswertes zu sagen, was man nicht schon in Weizsäckers Erinnerungen „Vier Zeiten” lesen könnte.
„Vier Zeiten” ist hochinteressant, gelegentlich amüsant und stilistisch ausgezeichnet. Das Buch wurde jetzt wieder aufgelegt. Die Lektüre lohnt sich. Manches gibt es freilich, worüber von Weizsäcker darin keine Auskunft gibt. Seine Zeit in der Wehrmacht handelt er ziemlich kurz ab. Bis heute wehrt er sich gegen die durch Dokumente belegte Erkenntnis, dass auch sein Regiment manchmal „keine Gefangenen” machte. Er war als Offizier bei der Belagerung von Leningrad dabei, mehr als sechshunderttausend Menschen sind damals in der Stadt ums Leben gekommen, die meisten verhungerten. Aber über die Belagerung schreibt von Weizsäcker nicht. Er gehörte dem Infanterieregiment 9 an, dort traf sich die preußische Aristokratie, aus seinen Reihen gingen die Attentäter des 20. Juli hervor. Was genau von Weizsäcker von den Plänen seiner Kameraden wusste oder eben nicht wusste, schreibt er auch nicht. Er beendet das Kapitel über den Krieg mit einem Satz, der von dem Personalpronomen angeführt wird, das er spätestens als Präsident des Kirchentages schätzen gelernt hat: „Wir haben es nicht geschafft.”
Gunter Hofmann beschäftigt sich nicht damit, was Weizsäcker nicht sagt. Über den Widerstand schreibt er lapidar: „Sicher gehörte Richard von Weizsäcker nicht zu dem aktiven Kreis, und so hat er es auch nicht dargestellt.” Viel mehr interessiert ihn dessen Auseinandersetzung mit dem NS-Regime und mit der Schuld, die sein Vater auf sich lud, der als Staatssekretär im Außenministerium Dokumente abzeichnete, die Tausende Menschen der Vernichtung überantworteten. Das Regime beging Verbrechen, schrieb der Sohn, von denen der Vater „wusste oder eine Ahnung haben konnte”. Dass sein Vater von den Amerikanern angeklagt und verurteilt wurde, empfindet er trotzdem als Unrecht.
Ernst von Weizsäcker hielt Hitler für gefährlich. Er war gegen ihn – und arbeitete, um „Schlimmeres” zu verhindern, doch für ihn. Der Sohn erklärt es mit einem falsch verstandenen Patriotismus des damaligen Bürgertums: „Die tödliche Krankheit des Nazismus” habe sich „unter den Bedingungen eines schon von langer Hand her geschwächten Immunsystems deutschen Bürgertums entwickelt”. Gunter Hofmann erörtert das Verhältnis Richard von Weizsäckers zu seinem Vater zwar eingehend, will aber eigentlich auf etwas anderes hinaus: Weizsäcker steht in seinem Buch exemplarisch für den Umgang der Bundesrepublik mit ihrer Vergangenheit. Hofmann schildert den Altbundespräsidenten als einen Mann, der „emanzipierte Bürgerlichkeit” repräsentiert – ein Bürgertum, das sich von seinem antidemokratischen Habitus der Vorkriegszeit gelöst hat.
Weizsäcker raunt nicht
Es irrt, wer meint, damit sei nur Altbekanntes gesagt. Hofmann erwähnt Ulrich Raulffs Buch über „Stefan Georges Nachleben”, das jetzt auf der Leipziger Buchmesse mit einem Preis geadelt wurde. George, dessen Politikverständnis vor allem ästhetisch war, soll – so will es Raulff – auch in Richard von Weizsäcker irgendwie fortleben. Als Kind hat Weizsäcker einmal die Hand des „Meisters” in seinem Nacken gespürt. Er diente im selben Regiment wie der George-Bewunderer Claus Schenk Graf von Stauffenberg. Davon ausgehend, schwärmt Raulff von einer „weitgehend unsichtbar verlaufenen, bis heute nicht vollständig aufgeklärten translatio imperii”, die das „Reich Georges über den Abgrund der Zeit” bis in die Bundesrepublik führe.
Carl Friedrich von Weizsäcker mochte Georges Dichtung sehr. Sein Bruder Richard hingegen hält es mehr mit politisch wachen Autoren wie Heinrich Heine, weshalb die seltsame „translatio imperii”, was Richard angeht, wohl auf ewig „unsichtbar” bleiben wird und sich auch nur mit dem rhetorischen Mittel des Raunens begründen lässt. Gunter Hofmann schätzt Weizsäcker nicht zuletzt so sehr, weil der nicht raunt. Zwei Akte nennt Hofmann, die er als „Schlüsselstationen auf dem Weg zur Selbstverständigung über unser Verhältnis zur Vergangenheit” bezeichnet: Willy Brandts Kniefall 1970 in Warschau und Richard von Weizsäckers Rede am 8. Mai 1985. Brandts „Wir nehmen die Verantwortung an” und Weizsäckers „Appell, sich durch genaues Erinnern ehrlich zu machen”: Beides habe beigetragen zum nationalen Konsens. Hofmann stellt Weizsäcker als Vertreter dessen dar, was an der Bundesrepbulik lobenswert ist. Seine Argumentation ist plausibel. FRANZISKA AUGSTEIN
GUNTER HOFMANN: Richard von Weizsäcker. Ein deutsches Leben. C. H. Beck, München 2010. 295 S., 19,95 Euro.
FRIEDBERT PFLÜGER: Richard von Weizsäcker. Mit der Macht der Moral. DVA, München 2010. 223 S., 19,95 Euro.
HERMANN RUDOLPH: Richard von Weizsäcker. Eine Biographie. Rowohlt Berlin, Berlin 2010. 286 S., 19,95 Euro.
ANDREAS SCHMID: Maßstäbe setzen. Auf den Spuren Richard von Weizsäckers. Wichern-Verlag, Berlin 2010. 152 S., 14,90 Euro.
RICHARD VON WEIZSÄCKER: Vier Zeiten. Erinnerungen. Pantheon Verlag, München 2010. 480 S., 14.95 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Für Franziska Augstein ragt das Buch des Zeit-Journalisten Gunter Hofmann aus der Flut der Jubiläumsbücher zu Richard von Weizsäckers neunzigstem Geburtstag klar heraus. Originell erscheint es der Rezensentin vor allem, weil Hofmann von Weizsäckers Auseinandersetzung mit dem NS-Regime und der Schuld seines Vaters in diesem Zusammenhang auf seinen exemplarischen Gehalt hin untersucht. Der Umgang der Bundesrepublik, genauer der "emanzipierten Bürgerlichkeit" mit ihrer Vergangenheit, der in Hofmanns Augen durch von Weizsäcker zu einem lobenswerten nationalen Konsens geführt hat, steht laut Augstein im Mittelpunkt der Arbeit. Was der Autor dem Leser durch "plausible Argumentation" an Erkenntnissen zu bieten hat, hält Augstein für neu und lesenswert.

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