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"Ich hielt meinen Schatten für einen anderen und grüßte" ist der erste umfangreiche Roman des vor allem als Lyriker und Essayisten bekanntgewordenen Autors. In Anverwandlung an den spektakulären Kriminalfall des Kaspar Hauser im 19. Jahrhundert nimmt Kurt Drawerts Roman das Motiv des verwahrlosten Findlings auf, um vom Untergang der DDR und dem Übergang in eine neue Zeit zu erzählen. Dieser verunstaltete "Kaspar der Revolution" erinnert sich mit schonungsloser Sprachgewalt, so ernst wie komisch, so realistisch wie surreal, an sein Leben als bestürzende Höllenfahrt durch die neun…mehr

Produktbeschreibung
"Ich hielt meinen Schatten für einen anderen und grüßte" ist der erste umfangreiche Roman des vor allem als Lyriker und Essayisten bekanntgewordenen Autors. In Anverwandlung an den spektakulären Kriminalfall des Kaspar Hauser im 19. Jahrhundert nimmt Kurt Drawerts Roman das Motiv des verwahrlosten Findlings auf, um vom Untergang der DDR und dem Übergang in eine neue Zeit zu erzählen. Dieser verunstaltete "Kaspar der Revolution" erinnert sich mit schonungsloser Sprachgewalt, so ernst wie komisch, so realistisch wie surreal, an sein Leben als bestürzende Höllenfahrt durch die neun "Schuldbezirke" der "Deutschen D. Republik". Er ist ein Zeuge jener Nichtwelt unter der Erde, in der sich die Proletarier aller Länder einst im Sumpf vereinigt haben. In seinen Merk- und Beobachtungsheften notiert dieser "ostdeutsche Erdling" die Zeit in der Zelle mit Holzpferd und Abfallkübel bis er Titelaufschreiber, Magazinläufer und Nachtwächter in der "Nationalen Bücheranstalt" wird, ehe er nach dem Ende der Höhlenrepublik an die Grenze zum feindlichen Ausland nach oben gelangt. "Hier und da sahen wir noch Betonmauerreste, aus den Erdfugen gesprengte Stahlwände und Schachteinlässe, Zollbaracken und Kontrollpostentürme, aber alles nur noch in der eher albtraumhaften Verweisung darauf, einmal existiert zu haben, wie letzte, locker herumliegende Knochenrückstände, die an ein Schlachtfest erinnern." Seine phantasiereichen Erzählmonologe sind ein Antrag auf "Anwesenheitsberechtigung" in einem sich selbst unselbstverständlichen Dasein: Ich hielt meinen Schatten für einen anderen und grüßte. Kurt Drawerts Existenzbilder vom "Verbrechen am Seelenleben des Menschen" sind unabweislicher denn je und eine Metapher auf unsere moderne innere Obdachlosigkeit.
Autorenporträt
Kurt Drawert wurde 1956 in Hennigsdorf (Brandenburg) geboren und lebt seit 1996 als Autor von Lyrik, Prosa und Dramatik in Darmstadt. Bekannt wurde er vor allem mit seiner seit 1987 veröffentlichten und in zahlreiche Sprachen übersetzten Lyrik.
Für seine Prosa wurde er ausgezeichnet u. a. mit dem "Preis der Jürgen-Ponto-Stiftung", dem "Uwe-Johnson-Preis" und dem "Ingeborg-Bachmann-Preis", für seine Lyrik mit dem "Leonce-und-Lena-Preis", dem "Lyrikpreis Meran", dem "Nikolaus-Lenau-Preis", 2013 mit dem "Werner-Bergengruen-Preis" und 2014 mit dem "Robert Gernhardt Preis".
Rezensionen
'Was Kurt Drawert zu erzählen weiß, gehört zum Riskantesten, Verstörendsten und - man muss es in einem Atemzug sagen - zum ästhetisch Herausragendsten, was unsere derzeitige Prosa zu bieten hat.' (Iris Denneler, Neue Zürcher Zeitung)

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 30.01.2009

Das infernalische Land
Untertagewelt ohne Läuterungsberg: Kurt Drawerts Abrechnung mit der DDR
Eine echte Hölle mit allem Drum und Dran: Es gibt einen neunstöckigen Trichter mit tiefen Schächten und einem komplizierten System aus glitschigen Gängen. Ein mörderischer Gestank betäubt die Sinne, es herrscht ewige Finsternis. Für die Fron der Verdammten sorgt ein verrosteter Maschinenpark. Die Insassen sind glatzköpfige, zahnlose, bleichgesichtige Engerlinge, und wer nicht spurt, wird in die unterste Ebene voller Schotter und Schlamm strafversetzt. Der Erzähler selbst macht dem Grauen alle Ehre: Er hat einen Klumpfuß, eine Hasenscharte und einen Schiefhals, leidet unter Schuppenflechte und bemisst kaum mehr als einen Meter. In barock sich verzweigenden Satzketten schildert er uns seine Umgebung und die Qualen seiner Existenz. Was soll das sein, eine infernalische Phantasie, die literarische Version eines Hieronymus-Bosch-Gemäldes? Oder ein zeitgenössischer Dante, bei dem es keinen Läuterungsberg mehr gibt, geschweige denn ein Paradies?
Der Schriftsteller Kurt Drawert, 1956 in Henningsdorf bei Brandenburg als Sohn eines Kriminalbeamten geboren und wegen seiner Renitenz gegen Regeln schon als Jugendlicher einigen Repressalien ausgesetzt, zieht sämtliche kulturgeschichtliche Register und unternimmt in seinem neuen Roman „Ich hielt meinen Schatten für einen anderen und grüßte” den Versuch, das Unmenschliche am System der DDR in Bilder zu übersetzen und sprachlich zu transzendieren.
Gewährsmann der Unterweltreise ist eben jener klumpfüßige Insasse. Gleich auf den ersten Seiten kommt Drawerts zweite literarische Folie ins Spiel: Neben Dantes „Göttlicher Komödie”, dessen Höllentopographie der Autor als metaphorische Verdichtung der „Deutschen D. Republik” nutzt, bildet die Geschichte von Kaspar Hauser den Bezugsrahmen des Romans. „An meine Stimme werden Sie sich gewöhnen, an meine gebrochene, Ihren Ohren unvertraut bleibende Stimme, an ihre Risse, Narben, wo die Wörter reißen, sich fügen, reißen, sich in Silben, zurück zu den Wörtern, zurück zu den Sätzen, zurück zu den Selbstverständlichkeiten sich formender Sätze, zurück”, erklärt der Erzähler seinem Gegenüber, bei dem es sich um einen gewissen Feuerbach handelt.
Feuerbach ist natürlich ein Wiedergänger des historischen Gerichtspräsidenten Anselm von Feuerbach, Kaspar Hausers Vormund und Verfasser der berühmten Fallgeschichte für das Bayerische Justizministerium. Auch Drawerts Figur ist ähnlich wie Kaspar Hauser mittlerweile Patient einer geschlossenen Einrichtung und schildert das alte „Land unter der Erde” aus der Retrospektive. Die Berichte des zerrütteten Höllenbewohners sind mitnichten linear – sein Erzählfluss bildet die kreisförmige Struktur des Trichters nach. Es handelt sich um ein ausuferndes Stottern, Stammeln und mühseliges Durchbuchstabieren des Erlebten, bei dem sich der „Kaspar der Revolution” Schritt für Schritt durch die Dunkelheit vorantastet und die alten Sprachschablonen überwindet.
Palimpsest und Schelmensaga
Ab und zu stößt man in diesem Roman auf kleine narrative Kapseln, und eine biographische Linie bietet grobe Orientierung. So werden die Stationen Kindheit, Volkserziehung, Musterung, Armee, erste Liebesverhältnisse und die Berufstätigkeit in einer Bibliothek, genannt „Leseanstalt”, durchlaufen. Allein in dieser Lebensphase blitzten glückhafte Momente auf, denn hier hat der Held unbeschränkt Zugang zu verbotenem Wissen und kann die klandestinen Texte auch noch in Umlauf bringen. Nur die Literatur ist frei von der Kontamination durch das infernalische Land.
Der Werdegang des Helden knüpft an autobiographische Erfahrungen Drawerts an. Weil ihm Abitur und Studium verwehrt blieben, schlug sich der Autor als Hilfsarbeiter durch, bis er als Nachtwächter in der sächsischen Landesbibliothek unterkam und von dort schließlich an das Leipziger Literaturinstitut Johannes R. Becher gelangte – auch im wahren Leben bot die Literatur den einzigen Ausweg aus der Misere.
In „Ich hielt meinen Schatten für einen anderen und grüßte” unternimmt der Kurt Drawert eine Generalabrechnung mit dem, was für ihn DDR war und legt eine Mischung aus postmodernem Palimpsest und satirischer Schelmensaga vor. Die groteske Verzerrung hat Prinzip: gerade durch die totale Übersteigerung gewinnt der Ich-Erzähler die Deutungshoheit über seinen Stoff zurück und widersetzt sich einer biographischen Enteignung. „Ich hielt meinen Schatten für einen anderen und grüßte” ist die originelle und oft auch mitreißende Rekonstruktion der historischen Umwälzungen in den achtziger Jahren. Dabei wird die DDR nicht, wie mittlerweile so oft, in ein putziges Retro-Design verpackt oder zu einem komisch-harmlosen Spielzeug-Ländchen umgedeutet, sondern in ihren Schrecknissen fassbar.
Drawerts Unterfangen hat aber auch eine sprachphilosophische Dimension. Das manische Gerede seines Helden legt einerseits die Sprachmechanismen der DDR bloß, spürt den Vergiftungen und Beschädigungen durch Sprache nach und bemüht sich zugleich, zu einem neuen Sprechen über die Wirklichkeit vorzudringen. Allerdings liegt genau darin das Wagnis und Risiko des Romans, sich in den selbst gebauten Sprachstollen zu verlieren. So sehr Drawerts Ansatz auf theoretischer Ebene überzeugt, so sehr erliegt er in manchen Momenten der Neigung zu einer allzu starken Verklausulierung: Wenn das Dickicht der Bezüge allzu sehr zunimmt und die Bedeutungsschichten sich fortwährend potenzieren, droht ein Leerlauf des ästhetischen Systems, und man kann der „vernarbten, brüchigen Stimme” nicht mehr folgen. Dennoch: Dies ist ein wichtiges Buch, ein Roman der Notwehr gegen die noch nicht untergegangene DDR, jenseits aller ostalgischen Vereinnahmungen. MAIKE ALBATH
KURT DRAWERT: Ich hielt meinen Schatten für einen anderen und grüßte. Roman. C. H. Beck Verlag, München 2008, 317 Seiten, 19,90 Euro.
Dem Nachtwächterdasein entkommen: Kurt Drawert Foto: Beck Verlag
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.03.2009

In einer Strafkolonie namens DDR

Ein Sprachstrom gegen das verordnete Schweigen: Der Lyriker Kurt Drawert hat einen nicht leicht zugänglichen Roman verfasst, der vor Wut vibriert und den sogenannten Arbeiter-und-Bauern-Staat als albtraumhafte Vision beschreibt.

Dieses Buch ist wie ein Dammbruch. Jahrelang haben sich in diesem Schriftsteller aus der ehemaligen DDR, dem unangepassten Sohn eines hochbeamteten Vaters, Zynismus und Bitterkeit aufgestaut. Bis die Fundamente morsch wurden und der Druck übermächtig. Im ersten umfangreichen Roman des zweiundfünfzigjährigen Lyrikers und Essayisten Kurt Drawert, an dem er vier Jahre gearbeitet hat, bricht sich der Groll gegen die einstige Heimat kraftvoll Bahn. Und dies im ganz wörtlichen Sinn. Die sarkastische Abrechnung mit der ehemaligen DDR strömt als Textungetüm über 320 Seiten hin, dicht gedrängt, ohne Atempausen, Zeugnis eines gewaltigen, unerbittlichen Ingrimms. Abschnitte gibt es im ganzen Roman nicht, die Kapitelüberschriften sind nicht in einem Inhaltsverzeichnis ausgewiesen, was sich schon deshalb erübrigt, als es bloße Impulse sind, welche den Assoziationsfluss voranpeitschen.

Das macht die Lektüre zu einem ambivalenten Erlebnis. Einerseits nimmt die Dringlichkeit dieser Erinnerungsarbeit, die konzessionslose Vergegenwärtigung dessen, was der Fall war, für das Buch ein. Andererseits ist dieser Roman gegen den Leser geschrieben, so spröde und abweisend gibt er sich, so hochfliegend und hermetisch präsentiert er sich in gewissen Passagen. Nicht unwichtig ist bei einem derart extremen Text die typographische Präsentation. Sie trägt in diesem Falle erheblich zur vorzeitigen Vergraulung des Lesers bei. Mit seinem überalterten Layout schlägt das Buch ihn in die Flucht, anstatt zu verführen.

Dieser DDR-Roman kommt weniger leichtfüßig daher wie jener von Uwe Tellkamp, und er demonstriert etwa im Vergleich zu Wolfgang Hilbigs überschäumender Wut eher eisgekühlten Zorn. Die Vorzüge von Kurt Drawert zeigen sich aber vom ersten Satz an in der Sprache. Hier verrät sich die Überlegenheit des Lyrikers, der nichts dem Zufall überlässt. Ganz leichthin hantiert er mit einem reichen verbalen Instrumentarium und schiebt Wörter wie auf einem Schachbrett hin und her. Dazu kommt eine ausgeprägte Musikalität, die sich in Rhythmisierung und Melodie des Sprachflusses niederschlägt - alles Faktoren, die den Leser beeindrucken. Kurt Drawerts Sprache ist von gläserner Klarheit. Nie muss er seine Stimme laut erheben. Mit unheimlicher Präzisionsarbeit gelingt es ihm, in die finstersten Seelenwinkel seiner Figuren hineinzuleuchten und die groteskesten Zumutungen des Untertanenstaates bloßzustellen. Dieses Buch vibriert nur so von leisem Hohn, der zersetzend wirkt und die Verhältnisse wortlos entlarvt.

Wie waren denn die Verhältnisse in diesem Staat, der in Kurt Drawerts Roman nur als Kürzel aufscheint, nämlich als "Deutsche D. Republik"? Die Figur im Zentrum, eine Art moderner Kaspar Hauser, der mal aus der Nähe, dann wieder aus schroffer Distanz gezeigt wird, über weite Strecken aber im Disput um die Wahrheit ringend, ist sich nicht mal sicher, ob dieses wahnhafte Gebilde überhaupt existierte. Immer wieder erscheint der Gedanke daran als Albtraum, als finstere Vision, die durch die Erinnerung des Erzählers erst beglaubigt werden muss.

Der Schrecken soll damit in Form gefasst und rapportiert werden, denn "es müssen Erzählungen sein, die erklären, was man nicht sehen und nicht hören und nicht anfassen kann, Erzählungen, die die Wahrheit der Verhältnisse beschreiben", erklärt der Erzähler einmal seinem Gesprächspartner Feuerbach. Eine Schlüsselstelle, denn Drawerts Roman zielt gleich aufs Ganze. Er konstruiert nicht unbedingt ein kohärentes Romangebäude. Er bildet seinen Gegenstand auch gar nicht ab. Er will die Essenz des Terrors fühlbar machen. Er will kraft der Literatur die mentale Verkrümmung und Beschädigung jedes Einzelnen nachvollziehbar machen, ein Dokument der Wiederkehr des Verdrängten sein. Ständig mäandrierend, versucht er das einzufangen, was "die innere Wahrheit" in diesem Staat der Entrechteten war. Dass seine Sätze dabei manchmal zu Thesenträgern geraten, sei nicht verschwiegen.

Als der Erzähler nach der Wende plötzlich auf ein paar alte Kollegen aus der versunkenen Welt trifft - sie hören, geistreiche Verspottung des Begriffs "Kollektiv", durchwegs auf den anonymisierenden Namen "Tutti" -, will er ein paar Ossi-Anekdoten hören, zum Beweis, dass das Land tatsächlich existierte. Er selbst definiert sich als "Bürge", ausdrücklich nicht als "Bürger" dieser DDR, ein Bürge, der vom "bedrückenden Gefühl der Gefühllosigkeit" gelähmt ist und von der Vorstellung, "begraben zu werden, ohne beerdigt zu sein". Lebendig tot waren seine Bürger, so die Diagnose, die der Roman suggeriert. Die Heimat bleibt ständig in ein irritierendes Zwielicht getaucht. Eine Schatten- und Trümmerwelt, aus der sich die Höhlenbewohner in der Unterwelt aber langsam befreien.

Kaspar Hauser, die künstliche Spielfigur in Zentrum, ist ein abstoßender Mensch, eine verbogene Kreatur mit Hasenscharte, Klumpfuß und Schiefhals, ein kleines absonderliches Wesen, das aus einem Erdloch in die Höhe ans Licht gekrochen ist. Kurt Drawerts dämonische Hass-Vision erinnert an Hieronymus Bosch und Pieter Bruegel. Sie speist sich ohne Zweifel aus dieser Phantasietradition des Monströsen, welche die Verdammten dieser Welt schon immer in Form von missgestalteten und lasterhaften, dummen und bösen Figuren darstellte. Als Gefangene eines Sklavenuniversums sind diese Verlorenen tief in ein Erdloch vergraben, im "neunten Schuldbezirk" - eine Anspielung auf den Höllentrichter in Dantes "Göttlicher Komödie". In diesem Reich des Vergessens vegetieren sie nutzlos dahin: "Wir liebten die Welt unter der Erde: Jeder war hingerissen von der Nutzlosigkeit seiner Arbeit, die Maschinen wirbelten den Staub durch die Luft, dass es eine Freude war, Zeuge zu sein, das ganze Jahrhundert betreffend. Ja, wir waren der Zukunft zugewandte Leute, an was auch sonst sollten wir uns halten." In Anspielung auf Kafkas "Strafkolonie", in der den Verurteilten mit einer Beschriftungsmaschine der Satz "Ehre Deinen Vorgesetzten" in die Haut eingraviert wurde, verkündet "Tutti X" einmal, dass "die Nadelmaschine bei uns tatsächlich existierte, und zwar auf eine Weise effektiv, dass Herr Frantisek Kafka vor Neid erblassen würde". Vertrauen hat dieser Kaspar Hauser nur zu einer Frauenfigur, die mal Bobo, mal Bärbel, mal Babsi oder Barbara heißt - aber auch von dieser Frau steht nie ganz fest, ob sie nicht doch im Dienste des "Geheimbundes" in das Bett des Helden beordert wurde.

Langsam arbeiten sich die Gepeinigten in der Vertikalen von unten nach oben, durch die neun Höllenkreise ans Licht, in die Freiheit, bis dieses finstere Reich im Jahr "xx89" von einem Tag auf den anderen verschwindet. Eine wichtige Station auf dem Weg zu Aufklärung und Ausbruch aus der Kollektivneurose bringt die Lektüre verbotener Bücher. An dieser Stelle arbeitet der Autor auch mit autobiographischen Einsprengseln. Wie Drawert selbst, der in seiner Jugend eine Stelle als Hilfsbibliothekar bei der Sächsischen Landesbibliothek in Dresden innehatte, wird sein Kaspar Hauser zu einem Hilfsbibliothekar. Er erhält Zugang zum Giftschrank der "Nationalen Bücheranstalt". Hier frisst er alles in sich hinein, was er in die Hände bekommt, um das "Lesen und Schreiben meiner ersten Abrichtungsjahre" loszuwerden. So süchtig ist er auf das Verbotene, dass er "das Seelen-, Gedanken- und Bewusstseinsgift" im Sitzen, Stehen und Liegen konsumiert. Bücher sind die willkommene homöopathische Dosis, das Gegengift zur Indoktrination, und sie schieben den Erzähler tatsächlich unversehens auf den Weg der Heilung.

Kurt Drawert hat eine bitterböse Parabel auf die DDR, einen Schlüsselroman zur eigenen Selbstwerdung und eine Diagnose der inneren Obdachlosigkeit ihrer damaligen Bürger geschrieben. Es ist eine der rücksichtslosesten literarischen Abrechnungen mit dem Regime des subtilen Terrors geworden. Der Stachel im Fleische war ihm die eigene Vergangenheit: Es brauche keine Zeugnisse mehr, sagt einmal Kaspar Hauser zu Feuerbach, dass er ein Folteropfer gewesen sei, nämlich ein "Folteropfer sehr feiner und spurloser und körperlich nicht nachweisbaren Art. Mehr ein Sprachfolteropfer, abwesend und unmündig gehalten."

Auf den verordneten Mangelzustand der Sprachlosigkeit antwortet der Schriftsteller mit einem Sprachstrom, der alles überschwemmt. Sein Roman ist eine verstörende Satire voll überreizter Bilder geworden, oft unkontrolliert, manchmal allzu verrätselt und etwas zu verstiegen, mit Anspielungen aus Literatur, Kunst und Philosophie aufgeladen und also am Rande des Unverständlichen flottierend. Das ändert nichts an der Tatsache, dass man sich der erbarmungslosen Analyse des totalitären Staates und seiner Auswirkungen auf den Einzelnen an keiner Stelle entziehen kann.

PIA REINACHER

Kurt Drawert: "Ich hielt meinen Schatten für einen anderen und grüßte". Roman. C. H. Beck Verlag, München 2008. 317 S., geb., 19,90 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Mit emphatischen Worten preist Rezensent Fritz J. Raddatz diesen Roman als "grandioses Kunstwerk", das er als hochliterarische und von "kaltem Zorn klirrende" Abrechnung mit der DDR gelesen hat. Speziell die "immer neu ausschwingenden Satzgirlanden" haben es Raddatz mit ihrem Versuch angetan, nach einer "Sprache am anderen Ende der Wirklichkeit" zu suchen. Tief steigt der Rezensent mit Kurt Drawert hinab in das "Inferno der Verdammten" der Diktatur. Drawert wechsle dabei immer wieder "souverän" die Perspektive: "mal Dialog der Entrechteten, mal Elendsbericht" - kurz: das Ineinanderschieben von Erlebnis-, Klage- und Gedankenebenen. Von der Anlage her erinnert der Roman den Rezensenten an Jean Amery. Nur manchmal flacht diese "große Verdammung" aus seiner Sicht ab ins Spöttische, und dort dann nicht immer Geschmackssichere. Auch manche für Westsozialisierte unverständliche Anspielung geht aus Sicht des Rezensenten ins Leere.

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