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Dieses Buch ist der Versuch von Ulrike Thimme, am Beispiel des eigenen Sohnes nachzuvollziehen und zu begreifen, was in den 70er Jahren viele junge Menschen in die politische Gewalt oder doch in ihren gefährlichen Umkreis führte. Sie zeichnet den Werdegang ihres Sohnes Johannes von seinen Kindertagen bis zu seinem Tod nach. Anhand von Briefen und Tagebuchaufzeichnungen rekonstruiert sie den beginnenden Prozeß seiner Politisierung und schließlich seiner Radikalisierung. Nachdenklich, selbstkritisch, ohne Larmoyanz, ohne Schuldzuweisungen und stets auf der Grundlage ihrer eigenen strikten…mehr

Produktbeschreibung
Dieses Buch ist der Versuch von Ulrike Thimme, am Beispiel des eigenen Sohnes nachzuvollziehen und zu begreifen, was in den 70er Jahren viele junge Menschen in die politische Gewalt oder doch in ihren gefährlichen Umkreis führte. Sie zeichnet den Werdegang ihres Sohnes Johannes von seinen Kindertagen bis zu seinem Tod nach. Anhand von Briefen und Tagebuchaufzeichnungen rekonstruiert sie den beginnenden Prozeß seiner Politisierung und schließlich seiner Radikalisierung. Nachdenklich, selbstkritisch, ohne Larmoyanz, ohne Schuldzuweisungen und stets auf der Grundlage ihrer eigenen strikten Ablehnung von Gewalt bilanziert sie das Verhältnis ihres Sohnes zu Staat, Gesellschaft und Justiz, aber auch zur eigenen Familie und zum politischen Umfeld der RAF, dem Johannes angehörte und in dem er umkam.

Ein ungewöhnlicher, einfühlsamer Beitrag zur einsetzenden Aufarbeitung der RAF-Problematik.
Autorenporträt
Ulrike Thimme, geb. 1923, promovierte Germanistin, war unter anderem als Journalistin und Gymnasiallehrerin tätig. Sie ist Mutter von drei Söhnen und lebt in Karlsruhe.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 29.06.2004

Urteil ohne Tat
Ein Sohn geht in den Untergrund, eine Mutter versucht zu verstehen
Am Abend des 20. Januar 1985 explodiert in Stuttgart eine Bombe. Sie soll auf einen Hungerstreik von Inhaftierten aus der Rote Armee Fraktion (RAF) aufmerksam machen, bei dem es um bessere Haftbedingungen geht. Die Bombe soll die Niederlassung der Deutschen Forschungs- und Versuchsanstalt für Luft und Raumfahrt zerstören. Ort und Zeitpunkt des Anschlags sind so gewählt, dass keine Menschen zu Schaden kommen. Doch wegen einer Fehlzündung stirbt der Attentäter selbst, der 28jährige Johannes Thimme. Er gehört zur im Polizei-Jargon so genannten „Sympathisantenszene” der RAF. Dies waren junge Leute, die mit legalen Mitteln wie Demonstrationen und Flugblättern Solidarität einforderten für die Anliegen der in Isolationshaft einsitzenden Terroristen. Bundesweit machten diese „Legalen” ein paar tausend Leute aus, alle unter ständiger Beobachtung der Polizei und heute längst vergessen.
Das Leben des Johannes Thimme ist nun der Gefahr des Vergessenwerdens entrissen. Es ist über ihn mehr Persönliches bekannt als über viele der Führungsfiguren der RAF, denn seine Mutter hat ihm mit einem Buch ein beeindruckendes Denkmal gesetzt. Schon das Vorwort zieht tief hinein in diese Mutter-Sohn-Geschichte. Ulrike Thimme schreibt: „Ich möchte eine Spur seines Wesens für unsere Freunde, auch die der jüngeren Generation, sichtbar machen.”
Darüber hinaus öffne sich, schreibt sie, Außenstehenden „möglicherweise ein zusätzlicher Blickwinkel auf die nun schon der Geschichte angehörenden bewegten 70er und 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts, wenn sie den Werdegang eines einzelnen jungen Menschen jener Zeit begleiten. Vielleicht wird ein Schimmer vom Sinn des politischen Denkens, Handelns und Sterbens von Johannes durch meine Schilderung aufscheinen. Ich wünsche mir nur, dass etwas von ihm bleibt.”
Ihre Schilderung beginnt mit der Kindheit eines empfindsamen, künstlerisch begabten Knaben, auf dem der liebende, immer etwas besorgte Blick der Mutter ruht. Der Jugendliche Johannes lässt sich, der Zeit entsprechend, die Haare wachsen, spielt Querflöte, engagiert sich erfolglos für die Gründung eines autonomen Jugendzentrums und verschafft sich neben der Schule in einer politischen „Basisgruppe” eine solide antikapitalistische Grundbildung. Bis hierhin verläuft dieses Leben so normal, dass der junge Mann problemlos später Außenminister oder gar Bundeskanzler hätte werden können.
Irgendwann sitzt dann der etwas ältere, spätere RAF-Terrorist Christian Klar am Mittagstisch der Thimmes. Die Freunde Christian und Johannes streiten mit der Mutter über die Ungerechtigkeiten der Welt, über den Krieg in Vietnam, die schlechte Behandlung türkischer Gastarbeiter und die Unterbezahlung von Frauenarbeit. Ulrike Thimme erinnert sich, dass sie argumentativ gegen die Kenntnisse Klars und auch ihres Sohnes einen schweren Stand hatte. Auch die späteren RAF-Mitglieder Adelheid Schulz und Knut Folkerts kannte Johannes.
Aber bei all dem bleibt wichtig, dass er bis zu seinem Tod niemals Gewalttaten verübt hat, auch niemals Mittäter war, und dass er dennoch über drei Jahre im Gefängnis saß, wo sich eine Entwicklung vollzog, welche die ganze Tragik des damaligen bundesdeutschen Staates im Umgang mit einem Teil der Jugend widerspiegelt.
Am 7. Mai 1977 werden Generalbundesanwalt Siegfried Buback und zwei seiner Begleiter von einem RAF-Kommando erschossen. Eine Woche später wird Johannes verhaftet und zu 20 Monaten Haft verurteilt. In der Urteilsbegründung gibt das Gericht freimütig zu, dass es Thimme keine Straftaten zur Last legen kann. Einzig der Verdacht, dass mutmaßliche RAF-Mitglieder ihm Straftaten „zugedacht” hätten, reicht den Richtern aus. Vier Jahre später wird er erneut zu 18 Monaten verurteilt - wegen eines Flugblatts, das zur Solidarität mit hungerstreikenden RAF-Gefangenen aufruft.
Der Briefwechsel mit den Eltern ist das Herzstück des Buches und ein Dokument des Realitätsverlusts der RAF und ihrer Anhänger, die sich als letzte aufrechte Gegner eines heraufziehenden Faschismus erleben. Er sieht ein „Viertes Reich” heraufziehen, dessen Bürger „Hitler verehren und (Helmut) Schmidt wählen”. Unter der verschärften Isolationshaft im Herbst 1977 während der Schleyer-Entführung radikalisiert sich Johannes derart, dass er schließlich auch seine Eltern „auf der Seite der Bullen” sieht und von ihnen als Kollaborateuren des „Systems” keinen Besuch mehr wünscht.
Was er fordert, ist Solidarität, welche die Eltern ihm aber verweigern. In Liebe wollen sie ihrem Sohn immer verbunden sein, doch seine politischen Ansichten lehnen sie ab.
Spannend ist, dass Ulrike Thimme in der Rückschau sieht, wie auch sie sich politisiert hat, denn sie war in der Lage, neben dem wahnhaften Erleben ihres Sohnes auch das hohe intellektuelle Niveau seiner Gesellschaftskritik zu erkennen. „Wer war er? Wohin wollte er? Warum nahm er diesen Weg? Ich kann diese Rätsel nicht lösen”, schreibt sie. Sie hat sie dennoch besser gelöst, als viele historische Abhandlungen. Denn durch ihre lebensnahe Schilderung lassen sich die Ereignisse nicht nur mit dem Kopf, sondern auch mit dem Herzen begreifen.
LORENZ BECKHARDT
ULRIKE THIMME: Eine Bombe für die RAF. Das Leben und Sterben des Johannes Thimme - von seiner Mutter erzählt. Verlag C.H. Beck, München 2004. 199 Seiten, 17,90 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Dieses Buch ist inmitten der großen Zahl von RAF-Biografien und Terrorismus-Texten einzigartig, stellt der Rezensent Rudolf Walther fest. Hier schreibt nämlich eine Mutter über ihren Sohn, der wenn nicht direkt zur RAF, dann doch in deren Umfeld gehörte. Wie aber der Staat mit grotesk übertriebenen Verdächtigungen und Urteilen den politisch gewiss radikalen, zunächst aber wohl gar nicht terroristisch gesinnten Johannes Thimme zu dem machte, was er ohne die staatliche Drangsalierung (und grotesk scharfe Urteile, die sich auf keinerlei Beweise von Straftaten stützen konnten) vielleicht gar nicht geworden wäre: das schildere dieses Buch der Mutter, die 1923 geboren wurde und pensionierte Gymnasiallehrerin ist, in ganz "beeindruckender" Weise. Achtzehn Jahre hat sie gebraucht nach dem Tod des Sohnes, der bei einem geplanten Anschlag von der eigenen Bombe zerfetzt wurde, um sich mit diesem Text über das Geschehen Rechenschaft zu geben. Außerordentlich "konsequent", so Walter, beschränkt sich Thimme dabei auf die Ich-Perspektive, berichtet nüchtern und ohne "Spekulationen". Der Rezensent ist stark beeindruckt.

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