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Was liegt uns an der Bewahrung unseres kulturellen Gedächtnisses? Welche Zukunft bieten wir der Vergangenheit? Alexander Stilles Reiseberichte erzählen vom Umgang mit Geschichte in einer globalisierten Welt - und sind gleichzeitig ein einzigartiger Spiegel unseres heutigen Lebensgefühls.

Produktbeschreibung
Was liegt uns an der Bewahrung unseres kulturellen Gedächtnisses? Welche Zukunft bieten wir der Vergangenheit? Alexander Stilles Reiseberichte erzählen vom Umgang mit Geschichte in einer globalisierten Welt - und sind gleichzeitig ein einzigartiger Spiegel unseres heutigen Lebensgefühls.
Autorenporträt
Alexander Stille lebt als freier Journalist in New York City und schreibt u.a. für "The New Yorker", "The Nation" oder "The New York Times".
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.10.2002

Wir werden schanghait
Alexander Stille entführt auf seine persönlichen Streifzüge durch die Weltgeschichte / Von Andreas Kilb

Für einen Mitteleuropäer des beginnenden einundzwanzigsten Jahrhunderts dürfte es nicht ganz einfach sein, einen Satz zu bilden, in dem der Ausdruck "Deutschland und Bulgarien" vorkommt - und der nicht vom Viertelfinale der Fußballweltmeisterschaft von 1994 handelt. Der amerikanische Autor und Journalist Alexander Stille schafft das hingegen spielend: "Erhebungen in den unterschiedlichsten Ländern, von Deutschland und Bulgarien bis zu den ländlichen Regionen Kanadas, haben ergeben, daß die Einführung des Fernsehens zu erstaunlich tiefgreifenden Veränderungen in den Lebensgewohnheiten und im Sozialverhalten der Menschen geführt hat."

Es ist unfair, einen einzelnen Satz aus dem Zusammenhang eines Vierhundertseitenbuchs zu reißen. Aber so ganz untypisch ist das Zitat dennoch nicht. Stille wirft, wie man sieht, einen sehr amerikanischen Blick auf die Welt, die er beschreibt, und für diesen Blick liegt Deutschland eben ein gutes Stück näher an Bulgarien als an Kanada. Die ägyptische Sphinx von Gizeh, andererseits, steht nur ein paar Nanosekunden von dem kalifornischen Küstenstädtchen Marina del Rey entfernt, wo Techniker des Getty Conservation Institute am Computer über Maßnahmen zu ihrer Konservierung grübeln. Und aus der ehrwürdigen Vatikanischen Bibliothek stolpert man bei Stille absatzlos ins Mittagslicht einer Ranch in den San Bernardino Mountains, auf der die vorübergehende Inhaberin sämtlicher Bildlizenzen des Bibliotheksbestands ihre gerichtlich von Rom erstrittenen Ablösemillionen verzehrt.

"The Future of the Past" heißt Stilles Buch im Original. Das ist nicht nur kürzer als der deutsche Titel, sondern auch präziser. Das Ende der Geschichte, wie es Apokalyptiker fürchten und Utopisten ersehnen, ist ja gerade nicht Stilles Thema. Was er, in elf Reportagen und einem abschließenden Essay, aus immer neuen Perspektiven beschreibt, könnte man eher, mit einem Filmtitel von Alexander Kluge, den Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit nennen - den ebenso allgegenwärtigen wie in sich widersprüchlichen Versuch, Geschichte und ihre Artefakte durch Konservierung und Musealisierung lebendig zu erhalten. Wohin diese Restauratorenmentalität im Extremfall führen kann, zeigt Stilles Reportage über die Erfahrungen westlicher Archäologen und Kunsthistoriker in den alten chinesischen Kaiserstädten Xi'an und Luoyang. Während in China die handwerklich exakte Kopie eines Kunstgegenstands, und sei er auch Jahrtausende alt, ebensoviel gilt wie das Original, bemühen sich die Experten aus Europa und Amerika, ihren Gastgebern Ehrfurcht vor dem historisch Einmaligen beizubringen. Aber wer kann schon ohne Karbonanalysegerät echte von "falschen" Terrakottakriegern unterscheiden? Und wer wagt es, den heutigen Zustand der dreizehnhundert Jahre alten Buddha-Grotten von Longmen zu beklagen, ohne an jene Statuenköpfe zu erinnern, die im zwanzigsten Jahrhundert von dort in die Museen von Paris, New York und Tokio entführt wurden? "Den Chinesen die westliche Philosophie der Denkmalpflege nahezubringen . . ., ist kein kulturell neutraler Akt", schreibt Stille mit jenem Understatement, das ihn auch dann nicht im Stich läßt, wenn es um New-Age-Theorien zur Entstehung der Pyramiden oder die ritualisierten Sexorgien der Ureinwohner des Südsee-Eilands Kitawa geht.

Alexander Stille, Jahrgang 1957, verkörpert einen Typus des Journalisten, wie es ihn in Deutschland kaum noch gibt. Er interessiert sich für Themen aus den verschiedensten Bereichen der Wissenschaft, ohne sich dabei in wissenschaftlichem Jargon oder, andererseits, in reißerischen Spekulationen zu verlieren. Sein Blick hält Distanz, zu den Quisquilien der Fachwelt ebenso wie zu den Erwartungen eines amüsierwilligen Publikums. Sein Stil wirbt nicht, er regt an. Stilles Texte, die fast alle in veränderter Form im "New Yorker" erschienen sind, entwickeln sich regelmäßig aus einer Porträtskizze, auf die, der Logik des zu entwickelnden Problems entsprechend, das Gegenporträt folgt: der Archäologe und der Grabräuber, der Bibliothekar und sein Kardinal, die Umweltaktivistin und ihre Widersacher vor Ort, der Latein lehrende Karmeliterpater und das organisierte Vergessen einer lateinlosen Welt. Aber indem der Reporter für die einen Partei nimmt, grenzt er die anderen nicht aus. Seine Darstellung gleicht einer Anhörung, sie sucht Gerechtigkeit für jeden, der zur Sache spricht.

Am Ende ergeht kein Urteil, sondern ein Versprechen: Fortsetzung folgt. Die Prozesse, die Stille schildert, sind nie abgeschlossen, weil der Kampf gegen die Unwissenheit, die Borniertheit, die Korruption, die Tyrannei, die Überbevölkerung und ihre Folgen keinen Abschluß kennt. Seine Reisen führen nicht ans Ende, sondern mitten in den Fluß der Geschichte. In Benares am Ganges muß er feststellen, daß dieser Fluß, ungeachtet seiner Heiligkeit, eine Kloake ist, von Fäkalbakterien verseucht. Ein Hindupriester und ein Ex-Professor aus Berkeley haben sich zusammengetan, um oberhalb der Stadt eine Klärbeckenanlage zu errichten. Der Amerikaner spricht, wenn er sein Projekt beschreibt, von erzeugenden, verbrauchenden und zersetzenden Lebewesen, der Inder von Brahma, Wischnu und Schiwa. Stille, der ausnahmsweise als Handelnder in seinem eigenen Text auftritt, macht beide auf die Analogie aufmerksam. Das ist das Prinzip seines Schreibens: Er will vermitteln, nicht überzeugen. Andere mögen entscheiden, wer etwa in dem Streit um die Erhaltung der letzten Urwälder auf Madagaskar am Ende recht behält - die Biologin Patricia Wright, die mit allen Mitteln für das von ihr geschaffene Naturschutzgebiet kämpft oder die einheimischen Bauern, deren Existenz von der Nutzung der Wälder abhängt. Stille genügt es, die beiden Parteien vorzustellen. So mündig, wie es die von ihm Porträtierten sind, macht er auch seine Leser.

Wenn es zwei Helden gibt in diesem Buch, dann sind es Giancarlo Scoditti und Pater Reginald Foster, der italienische Anthropologe und der Latinist von Papst Johannes Paul II. Scoditti hat ein Vierteljahrhundert lang die Stammeskultur einer entlegenen Pazifikinsel dokumentiert, und Foster kämpft seit ebensolanger Zeit für die Bewahrung des Lateinischen als gesprochene Sprache. Beide sind mit dem, was man ihren Beruf nennen könnte, bis zur Unauflöslichkeit verschmolzen, und es ist diese Hingabe, die Stille fasziniert. Nicht von den störungsanfälligen Speichertechniken des digitalen Zeitalters könnte die Zukunft der Vergangenheit abhängen, sondern von der Leidenschaft einzelner, welche die Technik für ihre Zwecke nutzen. Aber Stille weiß auch, wie hoffnungslos vereinzelt die Anstrengungen von Männern wie Foster und Scoditti sind, wie schwach und unbemerkt ihr Licht in der großen Datendämmerung leuchten wird. Er glaubt an ihr Projekt sozusagen quia absurdum - und vielleicht auch, weil nur solche Geschichten, die vom Aufstand gegen die Geschichte handeln, überhaupt des Erzählens wert sind.

In seinem Schlußessay, der offenbar als eine Art Passepartout für die in dem Band versammelten Texte geschrieben wurde, verirrt sich Stille dann doch noch im Nebelheim der Allgemeinheiten. "Zersplitterung, Entpolitisierung, Auflagenschwund bei den Zeitungen, individualisierte Mediennutzung, der Niedergang der Geisteswissenschaften, die Ersetzung des Bürgers durch den Konsumenten, all das sind Entwicklungen, die . . ." - sagen wir: die in Deutschland und Bulgarien ebenso zu beobachten sind wie im ländlichen Kanada. Für deren Diagnose wir aber dieses Buch längst nicht mehr brauchen. Es gibt bessere Gründe, Stille zu lesen.

Alexander Stille: "Reisen an das Ende der Geschichte". Aus dem Amerikanischen von Karl Heinz Siber. Verlag C. H. Beck, München 2002. 440 S., Abb., geb., 24,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.10.2002

Länder, Leser und Lemuren
Alexander Stilles Reportagen von der Vergangenheit
Dieses Sachbuch gehört vor allem in die Hände junger Leser, die sich voller Wissbegier in den Endlosigkeiten des World Wide Web zu verlieren beginnen. Der amerikanische Journalist Alexander Stille entführt uns in die uralte Welt vor dieser jüngsten informationellen Revolution. Seine „Reisen ans Ende der Geschichte” erzählen Menschheitsgeschichte als Überlieferungsgeschichte, sie gehen dabei sogar zurück bis in die Naturgeschichte und umfassen den gesamten Globus mit allen Stadien der Zivilisation: Der Bogen reicht von den letzten mündlichen Kulturen Ozeaniens bis zum Washingtoner Nationalarchiv, wo man sich mit den allerneuesten Problemen der elektronischen Überlieferung herumschlagen muss. Wer zwischen dem Klicken, Surfen, Suchen Stilles Geschichten gelesen hat, dem tun sich mit einem Mal ganz andere Weiten auf: die Tiefen des historischen Bewusstseins.
Vielleicht ohne es zu wissen, erneuert Stille einen Typ des journalistischen Sachbuchs, der seine Blütezeit vor einem halben Jahrhundert erlebte: die wissenschaftliche Reisereportage, die einen anschaulich geschilderten Ortstermin und ausführliche Interviews mit der gründlichen Erörterung eines fachlichen Sachverhalts verbindet. Robert Jungks Klassiker von 1952 „Die Zukunft hat schon begonnen” war so ein Werk. Ähnlich wie Jungk hat Stille sein Buch aufgebaut, nur sind es nicht die Brennpunkte des technischen Fortschritts, die er aufsucht, sondern die Orte, an denen derzeit am zähesten um die Erhaltung von Überlieferungen gekämpft wird: Grabungsfelder, Bibliotheken, Archive, heilige Stätten, überlebende Naturreservate, Kurse mit alten Sprachen. „Die Vergangenheit ist fast schon vorbei” wäre ein weniger irreführender Titel für Stilles Unternehmen.
Bemerkenswerterweise wird daraus gleichzeitig oft eine Bestandsaufnahme zeitgenössischer Gesellschaften. Ägypten ist dabei, eine Nachfolgerin für die antike Bibliothek von Alexandria zu errichten – man kann von diesem Vorhaben nicht berichten, ohne die prekäre Geschichte des modernen Ägypten mit seinen antiken Traditionen, seiner kosmopolitischen Kolonialgeschichte und seiner nationalistischen Wendung im 20. Jahrhundert zu erzählen.
Ein ähnlicher Fall ist Somalia: Stille berichtet mit viel Humor von der unglaublichen Rolle, die die mündliche Dichtung in dieser Gesellschaft bis heute spielt und wie sie – unter Umgehung der Schrift – durch das Medium der Videokassette zu einem politischen Faktor werden konnte. Selten hat man eine so einfühlsame Diagnose eines Entwicklungslandes gelesen. China, die Archäologie, westliche Amtshilfe im Restauratorengeschäft: Daraus wird ein Drama über die Entwicklungen nach der Kulturrevolution. Dabei erfährt der Leser von einer radikal anderen Konzeption archäologischer Authentizität: „Alt” kann in China durchaus das frisch Renovierte sein, und das hängt zusammen mit der großen Rolle des Holzes in der antiken chinesischen Architektur – Holzbalken muss und kann man eben leichter immer wieder erneuern als Stein.
Den Begriff Überlieferung fassen diese Reportagen denkbar weit. Der Urwald von Madagaskar beherbergt Primatenstämme – sogenannte Bambuslemuren – und Flusskrebsarten, deren Verteilung auf dem Globus eine gänzlich andere Erdoberfläche bewahrt: Diese Tiere finden sich nämlich außerhalb Madagaskars nicht im nahen Afrika, sondern weit weg in Polynesien und Australien. Solche Verwandtschaften müssen also hunderte von Millionen Jahren alt sein.
Diebe und Experten
Stille wurde bekannt mit einer umfangreichen, minutiös recherchierten Geschichte der sizilianischen Mafia. Auf dem sizilianischen Schauplatz beobachtet er nun den Kampf zwischen Archäologen und sammlungswütigen Grabräubern, der umso zäher ist, als sich auch die Diebe als glänzende Kenner erweisen, die nicht weniger gelehrte Bücher publizieren als ihre staatlichen Konkurrenten. In Rom, dem geheimen Zentrum seiner Reisen, besuchte Stille die legendären Lateinkurse beim Chefphilologen des Vatikans – ein herrliches Stück, das zur Pflichtlektüre all jener werden sollte, die den Lateinunterricht aus unseren Schulen verbannen wollen. Die Digitalisierung der Apostolischen Bibliothek gerät zur Burleske über das Geschäftsgebaren des Vatikans – die Geschichte ging aber gut aus, wie jeder glückliche Benutzer dieses Instituts bezeugen kann.
Die bewegendste Geschichte betrifft die Südseeinsel Kitawa nahe Neuguinea. Hier gab es noch jüngst keinerlei Schriftkultur, keine Fremdsprachenkontakte. Ein Ethnologe musste diese Kultur wie ein Robinson erfahren, der sich auf der Insel aussetzen lässt. Der Italiener Giancarlo Scoditti hat dies geleistet und als erster und letzter eine Gesellschaft kennengelernt, die ihre Überlieferungen teils in den kunsthandwerklichen Formen des rituellen Kanubaus bewahrte, teils an einzelne Personen delegierte: So bekam jeder eine bestimmte Geschichte übereignet, die er im Gedächtnis aufheben und an einen Nachfolger weiterreichen sollte.
Die Schrift ist das Medium des Vergessens, wusste bereits der platonische Sokrates. Stilles Geschichten kommen immer wieder an den Punkt, wo sich Festhalten und Vergessen überschneiden. Ein Nachwort, das erfreulich frei bleibt vom medientheoretischen Blablabla, zieht die Summe dieser Reisen und fragt nach den Folgen der jüngsten Informationsrevolutionen für die Demokratie. Mit der Vermehrung und Verfügbarmachung schwindet auch die Gemeinsamkeit des Wissens. Darum muss man nicht nur surfen, sondern auch reisen und mit den Hütern der Traditionen selber sprechen.
GUSTAV SEIBT
ALEXANDER STILLE: Reisen an das Ende der Geschichte. Deutsch von Karl- Heinz Siber. Verlag C.H. Beck, München 2002. 440 Seiten, 24,90 Euro.
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"Dieses Sachbuch gehört vor allem in die Hände junger Leser, die sich voller Wissbegier in den Endlosigkeiten des World Wide Web zu verlieren beginnen. Der amerikanische Journalist Alexander Stille entführt uns in die uralte Welt vor dieser jüngsten informationellen Revolution." (Gustav Seibt, Süddeutsche Zeitung) "Ein fesselndes und empfehlenswertes Buch." (Valentin Groebner, Neue Zürcher Zeitung)