Marktplatzangebote
2 Angebote ab € 15,88 €
  • Buch mit Leinen-Einband

Dieses grundlegende Buch eröffnet aus der Perspektive einer "Geschichte von unten" einen faszinierenden Einblick in Lebenswelt und Alltag der Juden vom 17. Jahrhundert bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. Von zentraler Bedeutung sind dabei die komplexen sozialen Beziehungen der Juden untereinander als auch mit ihrer nichtjüdischen Umwelt. Erstmals stehen in dieser wegweisenden Darstellung individuelle Erfahrungen, Hoffnungen und Ängste der "kleinen Leute" im Mittelpunkt des Interesses. Vom 17. Jahrhundert bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts erfuhren Juden im deutschsprachigen Raum soziale…mehr

Produktbeschreibung
Dieses grundlegende Buch eröffnet aus der Perspektive einer "Geschichte von unten" einen faszinierenden Einblick in Lebenswelt und Alltag der Juden vom 17. Jahrhundert bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. Von zentraler Bedeutung sind dabei die komplexen sozialen Beziehungen der Juden untereinander als auch mit ihrer nichtjüdischen Umwelt. Erstmals stehen in dieser wegweisenden Darstellung individuelle Erfahrungen, Hoffnungen und Ängste der "kleinen Leute" im Mittelpunkt des Interesses. Vom 17. Jahrhundert bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts erfuhren Juden im deutschsprachigen Raum soziale Ausgrenzung und Integration ebenso wie organisierte Verfolgung. Die Autorinnen und Autoren dieses umfassend angelegten Buches zeichnen diesen vielschichtigen Prozess nach und beschreiben anschaulich die Alltagsbedingungen und individuellen Wahrnehmungen der jüdischen Minderheit. Sie schildern nicht nur das Leben in der Stadt, sondern widmen sich ebenso den Lebensbedingungen auf dem Land. Dabei werden die religiöse Praxis und das Gemeinschaftsleben gleichermaßen berücksichtigt wie die "Binnenstrukturen" der Familien und die Adaption des bildungsbürgerlichen Habitus. Im Mittelpunkt stehen jedoch die individuellen Erfahrungen der Menschen: Wie nahmen Juden die historischen "Wechselbäder" von Emanzipation und Ausgrenzung wahr, wie wurden sie verarbeitet und welchen Sinn konnten sie den oft radikalen Veränderungen ihres Lebens geben? Die wechselhafte Geschichte der Juden in Deutschland im Wandel der Jahrhunderte nicht auf eine bloße Geschichte des Antisemitismus reduziert zu haben, ist dabei das große Verdienst dieser vom Leo-Baeck-Institut initiierten und von Marion Kaplan herausgegebenen Arbeit. Der konsequente "Blick von unten" legt zudem eine Vielfalt jüdischer Lebenswelten offen, die gängige - auch historiographische - Stereotype korrigiert.
Autorenporträt
Marion Kaplan, geboren 1946 in den USA, ist die Tochter jüdischer Emigranten. Sie lehrt als Professorin für Geschichte an der City University of New York. Ihr Buch "Jüdisches Bürgertum" wurde in den USA mit mehreren Preisen ausgezeichnet. Marion Kaplan lebt in New York City.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.05.2003

Ein Korrektiv, quer zur Sehgewohnheit

Nach dem fulminanten Buch von Amos Elon "Zu einer anderen Zeit. Porträt der jüdisch-deutschen Epoche 1743 bis 1933" (F.A.Z. vom 11. April 2003) fällt nun ein weiteres Werk zur jüdischen Alltagsgeschichte auf, das einen Rückblick auf eine Zeit versucht, in der die Juden in Deutschland nicht nur Opfer waren. Das Buch steht quer zu der zionistischen Geschichtsschreibung in Israel, in der die deutschen Juden vorwiegend als unterdrückte Juden in Deutschland, als Opfer dargestellt werden. Als Korrektiv zu einer solchen Darstellung sollte es denn auch gelesen werden (Marion Kaplan [Hrsg.]: "Geschichte des jüdischen Alltags in Deutschland". Vom 17. Jahrhundert bis 1945. Herausgegeben im Auftrag des Leo Baeck Instituts. C. H. Beck Verlag, München 2003. 638 S., 20 Abb., geb., 39,90 [Euro]).

Die in Kaplans Sammelwerk vorgestellte Geschichte des jüdischen Alltags wird von vier Autoren in vier Epochen beschrieben: Von 1618 bis 1780 (Robert Lieberles), 1780 bis 1871 (Steven M. Lowenstein), 1871 bis 1918 (Marion Kaplan) und von 1918 bis 1945 (Trude Maurer). Die drei ersten Beiträge sind für dieses Buch aus dem Englischen übersetzt worden. Jede der vorgestellten Epochen behandelt sechs Themen: das Umfeld, die Familie, die Bildung, das Wirtschaftsleben, die Religion und die sozialen Beziehungen. Neben den zahlreichen gedruckten Quellen sind auch mehr als achtzig ungedruckte Erinnerungen und Tagebücher, die meisten aus dem Archiv des Leo Baeck Instituts in New York, ausgewertet worden. Im siebzehnten Jahrhundert lebten etwa 60000 Juden in den deutschen Staaten, 1910 zählte man schon 615000 Deutsche mosaischen Glaubens. Während der gesamten Berichtszeit wohnten sie vorwiegend in Städten (1910 lebten allein in Berlin 144000 Juden, der Anteil der jüdischen Studenten an den preußischen Universitäten betrug vierzig Prozent).

"Jüdische Frauen brachten (ebenso wie nichtjüdische Frauen) ihre Kinder zu Hause zur Welt." Dieser Satz ist charakteristisch für das vorgestellte Alltagsleben, auch wenn nicht immer der Verweis in Klammern auf die Nichtjuden hinzugefügt wird, zum Beispiel hier: "Von ihren Lehrern konnten jüdische Schüler sowohl Drangsalierung als auch Zuwendung erfahren." Was heißt "jüdischer" Alltag? "Manche Männer verbrachten ihre freie Zeit mit Trinken, Karten- oder Würfelspiel." Neben solcher Art Aussagen stehen in dieser Geschichte "von unten" mikroskopische Hinweise: "Im Jahr 1848 wurden in Lissa 450 Schüler von sechs Lehrern unterrichtet." Oder: "Im Jahr 1797 waren 923 von den 1599 Schneidern in Südpreußen Juden." Diese detaillierten Hinweise werden verstärkt mit Beispielen. 1815 fragte ein Lehrer der jüdischen Schule in Strausberg die Kinder: "Liegt Warschau in Preußen?" Oder: Während der Zeit des Nationalsozialismus lebte "in Westfalen Frau Spiegel mit ihrem fünfjährigen Töchterchen unter falscher Identität offen auf einem Bauernhof".

Die allgemeinen Aussagen machen deutlich, daß der jüdische Alltag in Deutschland dem deutschen Alltag sehr ähnlich war; die Beispiele und mikroskopischen Hinweise sollen aber daran erinnern, daß zwischen beiden Lebensweisen doch ein Unterschied bestand. Diesen als repräsentativ für das Judentum zu formulieren, fällt jedoch schwer, da immer die lokalen und zeitlichen Unterschiede der in den Studien gebrachten Fallbeispiele berücksichtigt werden müssen. Und außerdem sind viele der gebotenen Beispiele nicht typisch "jüdisch": Wenn Isidor Hirschfeld aus einem westpreußischen Dorf nach Berlin zieht und bemerkt, Berlin sei "das höchste für einen Provinz-Kommis", dann ist der Name des Betreffenden zwar jüdisch, aber nicht seine Aussage.

Das Buch ist voll mit unendlich vielen Informationen und Details. Da diese aber nicht systematisch mit dem christlichen Alltag in Deutschland in den Berichtszeiten konfrontiert und verglichen werden, sagen sie oft wenig aus. Die jeweiligen Abschnitte über die "Umwelt" und das "Wirtschaftsleben" sind in dieser Hinsicht noch die erhellendsten. Generell kann diese Geschichte des jüdischen Alltags gekennzeichnet werden als die wechselreiche Geschichte von Akzeptanz und Ablehnung der Juden in Deutschland. Sie lebt von den Interaktionen zwischen Christen und Juden, weswegen die Sozialgeschichte eigentlich die Alltagsgeschichte weitgehend bestimmt. Die jüdische Alltagsgeschichte war immer eine Alltagsgeschichte in Deutschland. Der typisch "jüdische" Alltag wird ersichtlich immer dann, wenn die Ritualvorschriften das Leben regeln ("die Familie", "die Religion"). Doch gerade dieses jüdische Leben führte zu Konflikten mit den Christen, da die Juden hierdurch als "andere" gesehen wurden.

Die Darstellung des jüdischen Alltags will bewußt "der Tendenz entgegentreten, die Geschichte der Juden und Deutschen vom Holocaust her rückwirkend zu deuten". Eigentlich ist diese Geschichte der jüdischen Deutschen eine Erfolgsgeschichte von den Anfängen der Verachtung und Demütigung bis hin zur "uneingeschränkten politischen Teilhabe" in der Weimarer Republik. Diese Erfolgsgeschichte widerlege, so die Autoren, "die allzu vereinfachende Auffassung, der deutsche Antisemitismus habe in seiner Entwicklung geradewegs ,von Luther zu Hitler' geführt". Jacob Katz hatte 1980 seine jüdische Sozial-Geschichte zwischen 1700 und 1933 betitelt "From Prejudice to Destruction". Das Vorurteil gegenüber den Juden und die Vernichtung des deutschen Judentums wird auch in der "Geschichte des jüdischen Alltags" beschrieben, doch zeigt dieses Buch sehr deutlich, daß "Vorurteil und Vernichtung" nicht die einzigen Aspekte der jüdisch-deutschen Geschichte sind.

FRIEDRICH NIEWÖHNER

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Stefanie Schüler-Springorum stellt diesen Band als "alltagsgeschichtliche Ergänzung" zu einer großen, vom Leo-Beck-Institut herausgegebenen Gesamtdarstellung des jüdisch-deutschen Lebens dar - auch dieser Band, so merkt die Rezensentin an, wurde vom Baeck-Institut in Auftrag gegeben. Insgesamt schreibt die Rezensentin eine überaus positive Rezension des Bandes. Besonders lobt sie die "Kühnheit" Trude Maurers, die die Jahre vor und nach 1933 in einem einzigen Kapitel darstellt und so wohl eine Kontinuität der Entwicklung unterstellt - allerdings merkt die Rezensentin an, dass durch diese Konstruktion das Gewicht der Weimarer Republik zu klein erscheint. Sehr schön findet die Rezensentin auch die Aufmerksamkeit des Bandes für geschlechtsspezifische Besonderheiten des jüdischen Alltagslebens - eine Pioniertat, die sich der in diesen Dingen bewanderten amerikanischen Herausgeberin Marion Kaplan verdankt, wie die Rezensentin anmerkt. Als einzigen Nachteil bedauert sie, dass dem Band eine gewisse Beliebigkeit eigene. Normalerweise begnügten sich alltagsgeschichtliche Studien mit Mikroanalysen, das heißt sie beschränken sich auf Einzelbiografien oder ein Dorf, einen Betrieb. Hier ist der Rahmen doch sehr viel weiter gefasst. Aber die Rezensentin hält es hier mit der Herausgeberin, die diesen Band als "ein Vorwort und einen Anstoß" verstanden wissen will - hier gibt es noch viel zu forschen!

© Perlentaucher Medien GmbH
…mehr