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Kirchenlieder und geistliche Lieder waren und sind in Vergangenheit und Gegenwart einem Millionenpublikum bekannt und oft auswendig vertraut. Dennoch hat es bisher keine repräsentative wissenschaftlich kommentierte Edition gegeben. Das Geistliche Wunderhorn präsentiert fünfzig große Kirchenlieder und geistliche Lieder, von Christ ist erstanden (11. Jahrhundert) bis Der Chaos schuf zu Menschenland (1990), in text- und melodiekritisch geprüften Fassungen mit poetischen, musikalischen und wirkungsgeschichtlichen Erläuterungen. Eine CD des Windsbacher Knabenchors, die diesem Band beiliegt, stellt…mehr

Produktbeschreibung
Kirchenlieder und geistliche Lieder waren und sind in Vergangenheit und Gegenwart einem Millionenpublikum bekannt und oft auswendig vertraut. Dennoch hat es bisher keine repräsentative wissenschaftlich kommentierte Edition gegeben. Das Geistliche Wunderhorn präsentiert fünfzig große Kirchenlieder und geistliche Lieder, von Christ ist erstanden (11. Jahrhundert) bis Der Chaos schuf zu Menschenland (1990), in text- und melodiekritisch geprüften Fassungen mit poetischen, musikalischen und wirkungsgeschichtlichen Erläuterungen. Eine CD des Windsbacher Knabenchors, die diesem Band beiliegt, stellt zwanzig dieser Lieder in neuen Aufnahmen vor.
"Des Knaben Wunderhorn" heißt die berühmte Sammlung alter deutscher Lieder, die Achim von Arnim und Clemens Brentano 1805 - 1808 in Heidelberg herausgegeben haben. Brentano soll später auch ein "Geistliches Wunderhorn" geplant haben. Seine Gedanken aufnehmend, möchte dieses Buch Kirchenlieder und geistliche Lieder einer aufgeklärten Öffentlichkeit als Kulturgut attraktiv machen, zu einem Zeitpunkt, da die Weitergabe der christlichen Überlieferung auf eine bisher nicht gekannte Schwundstufe reduziert scheint.
Fünfzig Lieder, darunter Es kommt ein Schiff geladen und Es ist ein Ros entsprungen, Morgenglanz der Ewigkeit und O Haupt voll Blut und Wunden, Wer nur den lieben Gott läßt walten und Stille Nacht werden in kritisch geprüften Fassungen ediert, ihre poetische und musikalische Struktur wird erläutert und ihr Schicksal erzählt. Der wichtigste Prüfstein der Liedauswahl war die poetische und musikalische Qualität. Große Namen finden sich unter den Textdichtern wie unter den Komponisten, Paul Gerhardt, Klopstock, Novalis oder Bonhoeffer ebenso wie Johann Sebastian Bach oder Franz Schubert.
Konfessionelle Gesichtspunkte durften nicht im Wege stehen. Die Sammlung enthält Lieder dezidiert katholischer Tradition (wie Maria Maienkönigin oder O du hochheilig Kreuze) ebenso wie solche dezidiert evangelischer Tradition (wie Nun freut euch, lieben Christen g'mein oder Gib dich zufrieden und sei stille).
Das " Geistliche Wunderhorn" kann als Intimgeschichte des Christentums gelesen werden, als Sammlung geistlicher Essays oder als hymnologische Fachliteratur. Es kann aber auch zum Singen oder Aufführen dienen. Es richtet sich an solche, die sich als Gläubige verstehen, aber mehr noch an die vielen, die das nicht mehr von sich sagen wollen oder können, an letztere in der Gewißheit, daß, was Jahrtausende wichtig war, nicht gänzlich veralten kann. Die beiliegende CD des Windsbacher Knabenchors bietet das Hörerlebnis zu dem, was das Buch will.
Autorenporträt
Hansjakob Becker ist Professor für Liturgiewissenschaft an der Universität Mainz.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.12.2001

Die stille Nacht der Utopien
Gesungenes Kulturgut: Das "Geistliche Wunderhorn" kommentiert deutsche Kirchenlieder

Der heilige Augustinus berichtet im neunten Buch seiner "Bekenntnisse" vom Entschluß, sein Leben zu ändern. Er läßt sich von Bischof Ambrosius im christlichen Glauben unterweisen und bereitet sich auf den Kircheneintritt vor. "Und nun wurden wir getauft, da schwand alle Unruhe wegen unseres vergangenen Lebens ... Wie hab' ich geweint bei deinen Hymnen und Gesängen ... Wahrheit träufelte in mein Herz, fromme Empfindungen wallten auf, die Tränen liefen, und wie wohl war mir bei ihnen zumute." Man sollte sich hüten, solche Passagen im Sinne romantisch-religiöser Empfindsamkeit zu verstehen. Der rhetorische Überschwang des Verzückten verdankt sich vielmehr einer Wallung aus "Wahrheit". Der hier weint, ist überzeugt, in der eigenen Biographie die Handschrift Gottes zu erkennen. Das Gefühl entspringt der Erkenntnis, nicht umgekehrt, und diese Erkenntnis kommt einer inneren Umwälzung gleich, die auch das äußere Leben grundlegend verändert.

Auch heute mag sich mancher, der sporadisch zur Kirche geht, gelegentlich eine Träne verbeißen, wenn er sich von Paul Gerhardts "O Haupt voll Blut und Wunden" oder Georg Neumarks "Wer nur den lieben Gott läßt walten" zum Mitsingen hinreißen läßt. Doch dürfte er weniger Freude über die Ankunft in der Wahrheit als vielmehr eine diffuse Rührung empfinden. "Wenn die Sammler kommen, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden", behauptet der Literaturwissenschaftler Hermann Kurzke im Vorwort zu diesem Buch, das denn auch weniger zum Singen als zum Schmökern und Studieren einzuladen scheint. Und in der Tat: Wo Lieder interpretiert statt gesungen werden, wo sie den Forscherdrang beflügeln, statt unmittelbarer Ausdruck kultureller Praxis zu sein, dort ist Spätzeit angebrochen. So war das schon bei jenem anderen "Wunderhorn", dem Sammelwerk Clemens Brentanos und Achim von Arnims, das den lyrischen Volkston pries, als dieser im Volk längst obsolet war.

Trauerarbeit am Traditionsbruch

Viele der hier vorgestellten Kirchenlieder sind immerhin noch bekannt und weiterhin in Gebrauch, wie denn überhaupt die Kirche der einzige Ort der säkularen Gesellschaft zu sein scheint, wo Gesang weder Spaßfaktor noch Traditionspflege um ihrer selbst willen ist, sondern Vollzugsform einer fragilen, aber weiterhin sich behauptenden Lebenswelt. Es klingt daher etwas verzagt, wenn das vorliegende Buch nach eigener Aussage nichts will, als "geistliche Lieder einer aufgeklärten Öffentlichkeit als Kulturgut attraktiv zu machen". Religiöse Tradition als schützenswertes (und schutzbedürftiges) Weltkulturerbe? Zuviel der Bescheidenheit.

Man kann den Autoren, so unterschiedlich ihre Zugänge und Methoden sind, nicht nachsagen, daß sie es sich leichtmachen. Theologen wie Ansgar Franz und Hansjakob Becker versuchen am Ende ihrer brillanten Analysen wenigstens diesen oder jenen Satz eines Liedes oder eine sich darin aussprechende Grundhaltung für den Gläubigen von heute zu retten. Solcher Minimalismus, getragen von dem Bemühen, herauszufinden, was uns das Alte heute noch zu sagen hat, führt freilich nicht selten dazu, daß etwa Luthers Rechtfertigungsterminologie etwas zu leichtfertig zugunsten eines vagen existentialistischen Jargons verabschiedet wird: "Es ist doch unser Tun umsonst, auch in dem besten Leben" - einzig in diesem Satz aus Luthers "Aus tiefer Not schrei' ich zu dir" verbinden sich für Becker Erfahrungen von Reformation und Moderne. Und nur von hier aus wäre die Relevanz des Liedes heute zu begründen. Ähnlich Franz, der sich an Luthers Höllen-Metaphorik abarbeitet mit dem Ergebnis, "Höllenangst" bedeute nicht Angst vor der Hölle, sondern Angst, die selbst die Hölle ist.

Hermann Kurzke läßt sich auf solches Auslesen von Einzelaussagen nicht ein. In Kurzkes Brust schlagen zwei Herzen, eines, das bewahren und weitergeben will, und eines, das verloren gibt: "Ob der Traditionsbruch zu heilen ist?" fragt er rhetorisch am Ende seiner Ausführungen zu dem Marienlied "Wunderschön prächtige" und gibt selbst die Antwort: "Wahrscheinlich ist es dafür zu spät." Die literarisch interessanten Epochen des Kirchenliedes enden für ihn ohnehin mit Novalis. Alles Spätere erscheint ihm als Aufguß oder Ghettokunst. Kurzkes Beiträge leisten Trauerarbeit. Das läßt sich an seiner Analyse von "Stille Nacht" studieren. Dieses Weihnachtslied "aus einfachsten ländlichen Verhältnissen" vom Anfang des neunzehnten Jahrhunderts gilt Kurzke als "Paradebeispiel für Kitsch", zugleich aber seiner Weltberühmtheit wegen als "Fascinosum".

Nachdem Kurzke zunächst mit kühler Präzision Elemente der Aufklärung und der Romantik in dem Lied ausgemacht hat, kennzeichnet er es im folgenden als Idyll im Schillerschen Sinn, das viel fürs Herz biete und wenig für den Geist. Die Rührung, die es auslöst, sei gerade nicht die Ergriffenheit von der Wahrheit, sondern Ausdruck lebensmüder und denkfauler Schöngeisterei. Kurzke geht so weit, dem Lied jegliche "religiöse" Wirkung abzusprechen, da es niemanden dazu veranlasse, sein Leben zu ändern. Kurzkes Beitrag scheint auf einen bitteren Schluß zuzusteuern, kommt aber am Ende auf den utopischen Gehalt des Liedes zu sprechen: "Es läßt eine andere Welt ahnen, wenn es erklingt ... Es trägt die Gloriole der unverwirklichten Träume des Lebens und heiligt damit die triste Gewöhnlichkeit, zu der die meisten verurteilt sind."

Was soll man also "anfangen" mit dem Alten und Altgewordenen, das doch vor allem vom Ende zu künden scheint? "Anfangen" - ein erstaunliches Wort in diesem Zusammenhang. Ausgerechnet die musikalischen "Praktiker" wie die Hymnologin und Chorleiterin Christa Reich und der Theologe und Liederdichter Jürgen Henkys zeigen, welche geistige Weite erforderlich ist, um Lieder gelten zu lassen oder gar zu würdigen, die zeitgenössischem Lebensgefühl diametral widersprechen. Wenn Christa Reich auch, wenigstens der Form halber, dem weltentsagenden Rührstück des Heinrich von Laufenberg aus dem fünfzehnten Jahrhundert "Ich wollt', daß ich daheime wär'" vom Standpunkt moderner Rechtgläubigkeit ein bißchen die Leviten liest, so bescheinigt sie ihm doch eine eigene Art von Größe. Denn der da singt, ist "ein Ich, dessen einziges Streben es war, ... auf Heimkehr hin zu leben".

Ein schonendes Prüfverfahren wendet auch Jürgen Henkys in seiner Besprechung von Paul Gerhardts "Gib dich zufrieden und sei stille" an. Ein leichtes wäre es, sich beim Singen der Melodien Jakob Hintzes oder Johann Sebastian Bachs zu erfreuen und die entsagungsvollen Worte auszublenden. Doch für Henkys ist entscheidend, wann ein Lied seine Zeit und "wo es seinen Ort hat". Er verweist auf Dietrich Bonhoeffer, der 1936 noch den kämpferischen Metaphern Luthers den Vorzug vor Gerhardts schmelzenden Barockstrophen gegeben hatte. 1944, nach dem gescheiterten Attentat auf Hitler, in einer Situation der Ausweglosigkeit, erwies Bonhoeffer dem Altvorderen in vermächtnisartigen Versen seine Reverenz: "... und legst das Rechte / still und getrost in stärkere Hand und gibst dich zufrieden". Beides hat seine Zeit, der Widerstand und die Ergebung, und es betreibt Menschenverkürzung, wer eines gegen das andere ausspielt.

Macht religiöser Erinnerung

Glaubensgut oder Kulturgut also? Die Frage, so unausweichlich sie scheint, eröffnet falsche Alternativen, denn, so Alex Stock: "Arbeit des Gedankens, die mehr sein will als rhetorische Stärkung der zeitgenössischen opinio communis, läßt das vom herrschenden Bewußtsein einer Zeit Zurückgestellte nicht einfach als das im Zuge des Fortschritts Überholte hinter sich, sondern begreift es als terra incognita neuer Entdeckungen." Ein kleiner Dreh des Denkens also, und die Frage "Was haben uns diese Lieder heute zu sagen?" wendet sich gegen uns selbst: Was wollen wir nicht wahrhaben, wenn uns unser Erbe so entrückt ist? Im Sinne Bonhoeffers könnte man sagen: ein Lied wie "Gib dich zufrieden" wirft ein Licht auf das, was "Gelingen" bedeuten kann, wenn menschliches Handeln nicht mehr möglich ist.

Als wolle das Buch der These Kurzkes vom Kirchenlied als epigonales (Sonder-)Kulturgut widersprechen, präsentiert es immerhin sieben Lieder aus dem zwanzigsten Jahrhundert, darunter Lothar Zenettis Neufassung des "Media vita in morte sumus", die sich in ihrem rezitativen Duktus ihrer Herkunft von einer mittelalterlichen Antiphon ebenso verpflichtet weiß wie der neuzeitlichen Neigung, angesichts des Todes der lapidaren Sentenz den Vorzug zu geben vor der vollmundigen Beschwörung.

"Was du ererbt von deinen Vätern hast, / Erwirb es, um es zu besitzen. / Was man nicht nützt, ist eine schwere Last", dämmert es Faust, ehe er am Ostermorgen unter der Last unerleuchteter Erkenntnis zu versinken droht. Schon führt er den Becher an die Lippen, der seinem Leben ein Ende bereiten soll, da tönt von irgendwoher das "Christ ist erstanden", jene Urstrophe des deutschen Kirchengesangs aus dem elften Jahrhundert, und beschwört Erinnerungen herauf, die den Müden ins Leben zurückrufen. Auch diese Träne ist nicht mehr die des von der Wahrheit aufgewühlten Augustinus. Aber sie zeugt von der unkalkulierbaren Macht religiöser Erinnerung. Da sie etwas birgt, das nicht zur Gänze verfügbar ist, bleibt Tradition dem Gläubigen "heilig".

Irgendwo zwischen Theologie und Kulturgeschichte angesiedelt, beschenkt das "Geistliche Wunderhorn" gläubige wie nichtgläubige Leser mit vielen heiklen Schätzen. Manches mag uns nicht sehr "heutig" erscheinen; anderes aber eröffnet einen Möglichkeitsraum, in dem sich unversehens das "singuläre Zustoßen" (Botho Strauß) eines Verses oder einer Strophe ereignen kann, so daß aus dem scheinbar Vergangenen eine reale Gegenwart aufscheint.

CHRISTIAN SCHULER

"Geistliches Wunderhorn". Große deutsche Kirchenlieder. Herausgegeben, vorgestellt und erläutert von Hansjakob Becker, Ansgar Franz, Jürgen Henkys, Hermann Kurzke, Christa Reich, Alex Stock unter Mitwirkung von Markus Rathey. Verlag C. H. Beck, München 2001. 568 S., 74 Abb., geb., mit einer CD des Windsbacher Knabenchors, 78,50 DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

"Christian Schuler unterstellt den Herausgebern und Autoren des kommentierten Bandes mit Kirchenliedern wohlmeinend ein zu viel an Bescheidenheit, da sie das Liedgut gänzlich von seinem religiösen Gebrauch ablösen und seine heutige Relevanz in der Funktion des "schützenswerten Weltkulturerbes" sehen. Der Literaturwissenschaftler Hermann Kurzke, einer der Herausgeber des Bandes, lade mit den Interpretationen der Lieder dann auch weniger zum Singen als zum "Schmökern" ein, schreibt der Rezensent fast ein wenig enttäuscht, möchte man meinen. Theologen, Chorleiter, Liederdichter und Literaturwissenschaftler kommen in "brillanten Analysen" zu Wort, so Schuler. Ganz gleich ob Glaubensgut oder Kulturgut, die Autoren beschenken, so Schuler, gläubige wie nichtgläubige Leser mit kulturellen "Schätzen" und eröffnen dem Leser einen neuen Zugang zu einer Gattung, von der man meinen würde, dass sie bereits der Vergangenheit angehöre. Aber das täuscht, meint Schuler begeistert.

© Perlentaucher Medien GmbH"