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Der zweite Band von Ulrich Bräkers sämtlichen Schriften bringt erstmals vollständig die Tagebücher der Jahre 1779-1788, aus Bräkers beruflich erfolgreichster und literarisch produktivster Lebensphase. Nach einer längeren Wirtschaftskrise setzt Ende der siebziger Jahre ein Aufschwung ein, der es dem Weber und Garnhausierer Bräker erlaubt, Heimarbeiter zu beschäftigen. Zur gleichen Zeit verändert sich seine Schreibhaltung: Die Ablösung vom Pietismus ermöglicht ihm einen freieren Blick auf sich und die Welt. Im Laufe dieser zehn Jahre wird er zum vielseitigen Schriftsteller, dessen Autobiografie in die Weltliteratur eingegangen ist.…mehr

Produktbeschreibung
Der zweite Band von Ulrich Bräkers sämtlichen Schriften bringt erstmals vollständig die Tagebücher der Jahre 1779-1788, aus Bräkers beruflich erfolgreichster und literarisch produktivster Lebensphase. Nach einer längeren Wirtschaftskrise setzt Ende der siebziger Jahre ein Aufschwung ein, der es dem Weber und Garnhausierer Bräker erlaubt, Heimarbeiter zu beschäftigen. Zur gleichen Zeit verändert sich seine Schreibhaltung: Die Ablösung vom Pietismus ermöglicht ihm einen freieren Blick auf sich und die Welt. Im Laufe dieser zehn Jahre wird er zum vielseitigen Schriftsteller, dessen Autobiografie in die Weltliteratur eingegangen ist.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.03.1998

Frieselfieber und sündige Seele
Die Tagebücher Ulrich Bräkers, des armen Mannes im Toggenburg / Von Hans-Jürgen Schings

Der 10. Mai 1771 war offenbar ein besonders schöner Tag. Unter diesem Datum schreibt Werther seinen berühmten Hymnus auf die All-Natur: "Wenn das liebe Tal um mich dampft . . ." Weit ausholende Wenn-Perioden führen vom Größten zum Kleinsten, zu den "Würmchen" und "Mückchen" im Grase, sammeln Motive von Klopstock und Leibniz, feiern pantheistisch die "Gegenwart des Allmächtigen" und das "Wehen des Alliebenden" bis zum Erliegen der Seele "unter der Gewalt der Herrlichkeit dieser Erscheinungen". Herrlicher können Natur, Sprache und Ich nicht leuchten.

Auch der arme Mann aus dem Toggenburg preist just diesen Tag: "jetzunder stellt uns gott alles auf das schönste vor augen, so weit man hört, steht alles erwünscht im felde, die welt wird neü, die erden verjüngt sich; die kornfelder stehen schön, der rebstock seye hübsch. die beüme stehen in voller blüthe und machen gutte hoffnung, die weisen (Wiesen) schmüken sich mit einem prächtigen kleide. o groser schöpfer der natur, wie bist du doch so herrlich in deinen werken; und so wunderbar in deinen wegen . . ." Eine bescheidene Stimme: schlichte Parataxe, keine Rede vom Ich, keine Entgrenzung. Mit biblischen Formeln richtet sie ihr Lob an den Schöpfer. "Das schöne meyen wetter", so ist der Tagebucheintrag überschrieben. Ein Landmann mustert die Natur in der Hoffnung, daß die Erde "uns die so nöthige nahrung hervor bringt". Er hat allen Anlaß dazu.

Werther ist ein offenbar begüterter junger Mann, dem namentlich sein Herz - "Bester Freund, was ist das Herz des Menschen!" - zu schaffen macht, dann auch die "fatalen bürgerlichen Verhältnisse". Der Toggenburger Ulrich Bräker bringt seine vielköpfige Familie mühselig als kleiner Baumwollverleger durch, mit Garnhandel, einer kleinen Weberei, die er in seinem Haus eingerichtet hat, mit einer Kuh und ein paar Geißen und einem kleinen Garten. Der Bau seines Hauses, von seiner Frau zur Bedingung der Ehe gemacht, lädt ihm eine Schuldenlast auf, an der er fast zehn Jahre trägt. Unter diesen Umständen trifft ihn die Teuerung, die 1770 in Mitteleuropa ausbricht, mit voller Wucht. Die Lebensmittelpreise steigen ins Unermeßliche, die Preise im Tuch- und Baumwollhandel stürzen ab. Hungersnöte und Seuchen greifen um sich, die rote Ruhr, das Fleck-, Friesel-, Brandfieber, die Taubsucht. In Wattwil stirbt ein Zehntel der Bevölkerung.

So hat der Eintrag vom 10. Mai nichts mit einer empfindsamen Idylle zu tun, er ist ein kurzes Aufatmen. Der Winter zuvor war der "schauervollste", den er je erlebt hat. Die Jahre 1770 und 1771 sind Hungerjahre. Das Tagebuch führt, Tag für Tag, die Misere vor Augen. So "traurigkeitsvol" der Mai 1771 beginnt, so angstvoll geht er zu Ende. Noch nie habe er die strenge Teuerung so empfunden wie jetzt, notiert er am 24. und 25. Mai: jch brauch wol 4 biß 5 fl. in eine wochen meine haußhaltung zuernehren; darzu ist der verdienst auß, das gewinnen ist dahin, es ist imer nichts dann verspillen: von meinen armen schuldneren kan ich nichts bekomen noch hoffen; u ich hingegen sol u muß wo ich schuldig bin immerdar zallen u geben; ich bin dise zeither in einer grosen gelt-angst, jch werde getriben u. gemahnet . . . : ich bin sehr bekümmert, u ob ich schon biß weillen, meine sorgen kan auff gott werffen, so kommen sey gar bald, und quelen mich mehr als zuvor . . ." Es kommt noch schlimmer. Im September bringt die rote Ruhr zwei seiner Kinder qualvoll zu Tode. "Mein sohn stirbt", heißt der Eintrag vom 13. September, zwei Tage später beschreibt er den Todeskampf.

Dagegen haben Werther und die Literatur einen schweren Stand. Längst vor Sartre weiß auch das Bräker. Jahre später, wieder in notvollster Lage, macht er seinem Herzen Luft: "Armer Werther! was hat dich ums Leben gebracht? Ach! ich wollte den Himmel zum Zeugen stellen, daß ich mehr Ursache hätte, als du. keine Lotte - nein bei Leyb keine Lotte." So steht es in einem kleinen fiktiven Dialog, den Bräker mit seinem "Büchelgen", dem Tagebuch, führt. Über Wochen vernachlässigt, fährt es ihm jetzt ins Wort: "Nun, hast den Sack bald ausgeläret . . . Ey so klag' denn fort bis genug - und bessere was du bessern kannst . . . Komm nur, und vertrau' mir, was du willst . . ." Werther schreibt sich mit seinen monologischen Briefen in den Tod hinein. Bräker benutzt das Schreiben als Waffe gegen sich selbst, gegen Schwermut und Unzufriedenheit, gegen geistliche Skrupel und leibliche Sorgen, gegen Hunger und Armut. Es ist eine fromme Waffe.

Dreißig Jahre, von 1768 bis zu seinem Tod 1798, führt Bräker Tagebuch. Etwa 3700 Quartseiten haben sich erhalten - Dokumente eines unerhörten Schreibdrangs und "Schreibhangs", wie er sagt, ganz und gar einzigartig für einen "gemeinen Mann", der die Schule nur wenige Wochen besucht hat und das Schreiben und Lesen allein seinem autodidaktischen Furor verdankt. Was treibt ihn? Warum verkriecht er sich tagtäglich in einen Winkel seines Hauses, versteckt er sich vor der wütenden Hausfrau, um Seite für Seite mit seinen ungelenk-kalligraphischen Zügen, "mit grosen zierlich gemachten buchstaben" zu bedecken? Als er damit beginnt, ist ihm die schöne Literatur so gut wie unbekannt, aber gleichwohl ein Greuel - "als da sind romanische, erdichtete liebes geschichten, huren geschichten, liebes, oder huren lieder, alle erlogne gottlosen erzehlungen und erdichtungen. alle schwartze kunst und zauber, oder teüffels blendbüchlein. alle pasquilantische, schmäl- und lester schrifften".

Zwar gibt es auch unschädliche weltliche Bücher, Adiaphora in der Sprache der Frommen, doch unnütz sind sie allemal. In Betracht kommen nur die Bibel, der Katechismus und die "zeügen der warheit". Und er zählt seinen Bücherbesitz auf: Johann Arndt, Samuel Lutz, Karl Heinrich von Bogatzky; später kommen Johann Henrich Reitz mit den "Historien der Wiedergeborenen" und die Briefe der Madame Guyon hinzu. Das sind kanonische Schriften der pietistischen Erbauungsliteratur. Daran nimmt sein "einfaltiges schreiben", sein "unmündiges lallen" Maß. Wohl beteuert er, er schreibe für seine Kinder, das Tagebuch solle "noch nach meinem tod, ein donner schlag sein in die hertzen meiner kinder". Zuallererst aber schreibe er für sich selbst - gegen sich selbst. Bekehrung heißt das Stichwort, das ihm der radikale Pietismus eingibt.

Die Folge ist, über ungezählte Seiten hinweg, "ein Sack voll Sündenbekenntnisse", deren bekehrungsnotwendiges Pathos mit den Realitäten kaum Schritt hält. Später wird Bräker das eine "erzwungene frömeley" und "einen gantzen hauffen mistischen quark" nennen, der ihm angesichts zentnerschwerer Sorgen das "gehirn verrukte". Langsam schreibt er sich davon los. Am Anfang zehrt die fromme Sichtweise alle Realitäten auf. Was zählt, ist allein die spirituelle Wirklichkeit der Seele und ihres Heilsweges. Lange sucht der Leser vergeblich nach dem konkreten Detail der Toggenburgischen Um- und Lebenswelt. Wenn es auftaucht, wird es im Handumdrehen zur Allegorie: "meine liblichen schulden die ich etwan schuldig bin, machen mir offt bang. aber was ist das zurechnen welches ich noch zubezahlen hab, gegen dem . . . welches ich meinem liebrichen schöpfer, erhalter, und erlöser schuldig bin". Wenn er seinen Magen mit einem englischen Salz purgiert hat, wünscht er sich gleich ein Salz, das "alle unreine bösen und eitelen gedanken herauß auß meinem hertzen laxieren" könne. Der anbrechende Frühling erinnert ihn an sein eiskaltes Herz und die Gnadensonne, der Beginn des Feldbaus an den eigenen Herzensacker. Das ändert sich, kaum merklich zunächst, dann aber unübersehbar, mit dem Einbruch der Teuerung im Sommer und Herbst 1770. Nicht, daß das geistliche Gerüst je zusammenbräche. Jetzt aber ist, auch ohne Allegorisierung, von Arbeit die Rede, von Lebensmitteln, vom Wetter, von schlechten Nachrichten, vom Schuldeneintreiben, vom Elend ringsum. Minutiös beschreibt Bräker den Verlauf der Seuchen. Und seitenlang notiert er auf Kreuzer und Gulden die Entwicklung von Lebensmittel-, Garn- und Baumwollpreisen. Ganz unvermittelt dringt die ökonomische Buchhaltung in die Buchführung der Seele ein.

Eine pietistisch korrekte Durchbruchs-und Bekehrungsgeschichte kommt nicht zustande. Noch weniger macht sich Bräker anheischig, für sein Leben den Leitfaden der Vorsehung zu beanspruchen, wie er das später bei Jung-Stilling sehen wird. Fern liegt ihm aber auch das Verfahren von Karl Philipp Moritz, der im "Anton Reiser" kritisch und erfahrungsseelenkundlich mit den Schwärmereien und Melancholien seiner Jugend abrechnet, in der aufgeklärten Hoffnung auf eine teleologische Rettung des Lebenslaufs. Bräker bleibt fromm. Der Falle der Selbstbeobachtung, die Kant aufgestellt hat, dem Versinken in "Schwärmerei und Wahnsinn", entgeht er durch sein Naturell, das ihm eine ganz unsentimentale Robustheit und Munterkeit beschert. Glückliche Umstände kommen hinzu. Er öffnet sich der Welt.

Denn die einsame und beharrliche Autorschaft des armen Mannes blieb nicht verborgen. Ermuntert von einem Freund, beteiligt er sich 1776 an einem Preisausschreiben der "Moralischen Gesellschaft" in Lichtensteig. Mit Arbeiten über Nutzen und Schaden des auswärtigen Kredits und über das Baumwollgewerbe - auch das kann er - erringt er die Prämie von einem Gulden. Mehr noch, die aufgeklärte Lesegesellschaft nimmt ihn, wenn auch gegen Widerstand, in ihre Reihen auf. Heißhungrig verschlingt er die Lektüre, die ihm da zur Verfügung steht. Nachbarn und Standesgenossen überschütten ihn freilich mit Hohn und Spott. "Meine Frau vollends speite Feuer und Flammen über mich aus . . . und gewann nun gar Ekel und Widerwillen gegen jedes Buch, wenn's zumal aus unsrer Bibliothek kam." Verstohlen nur schleicht er sich zu den Sitzungen. Aber jetzt greift der Schreibbesessene neu aus, rezensiert für sich literarische Neuerscheinungen, verfaßt kleine dramatische Dialoge, schreibt seine Gedanken über Shakespeares Stücke nieder und beginnt 1781 mit seiner "Lebensgeschichte". Der Pfarrer von Wattwil entdeckt das Manuskript und vermittelt es an den Zürcher Verleger Johann Heinrich Füssli. Nach einem Vorabdruck in Fortsetzungen erscheint 1789 die Buchausgabe: "Lebensgeschichte und Natürliche Ebentheuer des Armen Mannes im Tockenburg". Bräker wird, kaum weiß er, wie ihm geschieht, Literat und berühmt - eine Art edler Wilder der deutschen Literatur.

Den Humus der Autobiographie bilden die Tagebücher. Das wußte man, ohne es prüfen zu können. Zugänglich waren, verständlicherweise, nur redigierte Auswahlausgaben, so die Auszüge in Samuel Voellmys Bräker-Bänden von 1945. Spät erst verlangte die zünftige Philologie nach dem ganzen und authentischen Bräker - und das hieß: nach den Tagebüchern in ihrer vollen Breite. In den siebziger Jahren machte sich eine Gruppe Schweizer Germanisten ans Werk, angeregt von der Kantonsbibliothek Sankt Gallen, die den Großteil von Bräkers Handschriften besitzt. 1985 folgte die erste Großtat, die "Chronik Ulrich Bräker. Auf der Grundlage der Tagebücher 1770 bis 1798". Im Großformat, penibel gearbeitet und üppig kommentierend, beschreibt sie Bräkers letzte Lebensjahrzehnte buchstäblich (soweit irgend möglich) von Tag zu Tag - eine Ehre, die sonst nur den großen Klassikern zuteil wird.

Rechtzeitig zum zweihundertsten Todestag Bräkers im Herbst diesen Jahres liegt jetzt der erste Band der Gesamtausgabe vor, die auf fünf Bände veranschlagt ist. Er enthält die Tagebücher von 1768 bis 1778, beginnend mit dem gut hundertseitigen "wort der vermahnung", in dem sich der Tagebuchschreiber auf den religiösen Sinn seiner Aufzeichnungen einschwört, endend mit den Auszügen aus den verlorenen Tagebüchern 1775 bis 1778, wie sie in Füsslis Auswahledition von 1793 überliefert sind. Dem editionsphilologischen Anspruch auf diplomatische Wiedergabe gehorchen die Herausgeber, so weit es die rücksichtslosen Irregularitäten der Handschriften zuließen. Vor Bräkers Handhabung von Groß- und Kleinschreibung mußten sie kapitulieren; man entschloß sich zur "radikalen Kleinschreibung". Der kritische Apparat verzeichnet selbst die kleinsten Korrekturen in Bräkers Manuskript - anderes blieb ihm nicht zu tun. Der Kommentar soll im fünften Band folgen.

Nun also ist, in voller Breite, nachzulesen, wie Bräker die Jahre der größten Not bewältigt, die seine "Lebensgeschichte" nur gerafft darstellt. Die Aufmachung des Bandes könnte schöner nicht sein. Wer freilich gleich auf die kulturgeschichtliche Information aus dem Mund und aus der Perspektive des kleinen Mannes aus ist, muß sich mit viel Geduld wappnen und die nächsten Bände erwarten. Es könnte aber auch sein, daß er Sympathie für den Mann selbst gewinnt und seine "einfältigen" und frommen Versuche der Selbstbehauptung im Schreiben. Für die Mentalitätsgeschichte sind seine Aufzeichnungen ein außerordentliches Dokument. Hat der Leser durchgehalten, findet er zum 21. April 1776 folgende Sätze: "Wenn dann so an einem Morgen das Licht des Tags erscheint, der Thau noch auf den jungen Gräschen ruht; wenn unser enges Thälchen vom Jauchzen und Singen aller Bürger der Lüfte und Haine erschallt; wenn so die Knospen der Bäume sich öffnen, und ihre holde Blüthe aufgeht, und jedem Tag neue Wunder entspriessen, wem sollte nicht das Herz vor Wonne hüpfen!" Viel ist da geschehen. Der arme Mann im Toggenburg versucht sich in der Sprache und im Naturempfinden Werthers.

Ulrich Bräker: "Sämtliche Schriften". Band I: "Tagebücher 1768 bis 1778". Bearbeitet von Alfred Messerli, Andreas Bürgi zusammen mit Heinz Graber, Christian Holliger, Claudia Holliger-Wiesmann, Alois Stadler. C.H. Beck und Paul Haupt Verlag, München und Bern 1998. 786 S., geb., 148,- DM.

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