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Unerklärlich: Ein Traumbuch von Nagib Machfus
Das letzte zu Lebzeiten veröffentlichte Werk des ägyptischen Literaturnobelpreisträgers Nagib Machfus trägt den assoziationsreichen Titel eines Buchs der Träume. Wer aber symbolische Traumdeutungen erwartet, wie sie seit dem antiken Artemidoros von Daldis geschrieben werden, psychologische Selbstanalysen in freudscher Tradition oder etwa eine kulturhistorische Sammlung wie das Buch der Träume des Jorge Luis Borges, wird enttäuscht. Der im Sommer 2006 verstorbene Machfus meint es ganz wörtlich mit den Träumen; bei seinem Buch handelt es sich um eine Sammlung oft sehr schlichter Traumnotate in knapper, kurzer Form. Von dem, was andere mit solchen Traumprotokollen verbinden, wenig: kaum kausale Erklärungsversuche, wenig sinnstiftende Bezüge zur Realität, keine Interpretationen. Machfus schreibt realistische Träume auf, mit all ihren Diskontinuitäten und wilden Unerklärlichkeiten, ihrem Mangel an Logik und sinnhaftem Zusammenhang.
Allein schon dieser Beschreibungsweise ist es geschuldet, dass viele Träume eher wie Albträume wirken; das Fehlen von erklärbaren Zusammenhängen ist unheimlich und beunruhigend. Immer wieder läuft der Erzähler mit seinen Handlungen, Emotionen und Reaktionen ins Leere und lässt auch den Leser mit ins Leere laufen, gefangen in jener körperlosen Welt, die keine erkennbaren Gesetze zu haben scheint. In Machfus' Traumuniversum herrscht ein latentes Gefühl der Bedrohung; viele Träume handeln auch ganz konkret von Überfällen, Ängsten, hoffnungslosen Situationen.
Aus der Entstehung des Traumbuchs lässt sich das verstehen: Die Traumtexte gehen auf jene letzten Jahre in Machfus' Leben zurück, in denen er sich nie mehr ganz von einem Attentat erholte, das ein religiöser Fanatiker 1994 gegen ihn verübte. Machfus überlebte knapp, konnte in der Folge aber aufgrund von Nervenschäden nur noch unter Schwierigkeiten und für kurze Zeitspannen schreiben. Der Albtraumcharakter der Traumtexte findet hier seine Begründung, ebenso die Kurzform. Im arabischen Original erschienen sie seit 1999 als wöchentliche Kolumne im Magazin "Nisf Al-Dunya", unter dem Titel "Ahlam Fatrat Al-Naqaha" ("Träume aus der Zeit der Rekonvaleszenz").
Es ist ein radikal subjektives Werk, wie es wohl nur jemand mit der moralischen und ästhetischen Autorität des 1911 Geborenen schreiben darf, der quasi im Alleingang den arabischen Roman geformt und durch mehrere literaturhistorische Epochen geführt hat: von seinen Anfängen mit altägyptischen Historienromanen unter dem Einfluss von Sir Walter Scott in den dreißiger Jahren über seinen modernen Sozialrealismus der vierziger Jahre bis hin zu seinen symbolisch-phantastischen Erzählungen der sechziger, siebziger Jahre und seinen späteren Experimenten mit gänzlich aufgelösten Formen. Die Aufnahme westlicher Einflüsse war dabei immer genauso wichtig wie das Spielen mit dem orientalischen Märchenton; irgendwo dazwischen stand die engagierte Beschäftigung mit der arabischen Moderne und ihren politischen Verwerfungen.
Das Traumbuch bildet hier keine Ausnahme, es ist voller zum Teil sehr voraussetzungsreicher Bezüge auf Ägypten. Vor allem bildet es die soziale Realität des zwanzigsten Jahrhunderts ab, die Struktur von Machfus' Heimatstadt Kairo, die Klientelwirtschaft in den Ministerien, in denen er jahrzehntelang als Beamter sein Geld verdiente, die Alltagstraditionen, die Höflichkeitsrituale und Einladungsformen. Historische Gestalten tauchen aus der Tiefe der Zeit auf; Rider Haggard, Mythopoet des kolonialen Afrika, läuft über Pyramidenhügel. Nacherzählen lassen sich die Träume kaum, dazu fehlt es ihnen an narrativer Geschlossenheit. Die Bilder aber, die sie herstellen, sind von hoher Suggestivkraft.
CATHERINE NEWMARK
Nagib Machfus: "Das Buch der Träume". Aus dem Arabischen übersetzt von Doris Kilias. Unionsverlag, Zürich 2007. 192 S., geb., 16,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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