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Claudia Piñeiro schickt eine Parkinson-Erkrankte auf familiäre Spurensuche
Ungeheuer mühsam geht es voran, zäh und beschwerlich, so ganz anders, als sie es die längste Zeit ihres Lebens gewohnt war. Einen Schritt nach vorn, ach was, nur ein paar elende Zentimeter sind es. Dann das andere Bein nachziehen, auch dies mit der Geschwindigkeit einer Schildkröte. Nichts geht mehr, die Nerven geben die Anweisungen aus dem Hirn nicht weiter, und wenn, dann mit reichlicher Verspätung. Was eigentlich Bewegung sein müsste, ist nun kaum mehr als ein mühsamer Kampf gegen die Starre des Körpers. So ist es, wenn man an der Parkinsonschen Krankheit leidet.
Die oft beschworenen Vorzüge der Entschleunigung kommen nicht einmal ansatzweise zutage in diesem dichten Porträt, das die argentinische Autorin Claudia Piñeiro von einer älteren, mit den Geißeln einer der meistgefürchteten Zivilisationskrankheiten geschlagenen Dame zeichnet.
Die Dame hätte eigentlich allen Grund, möglichst schnell zum Ziel zu kommen, das heißt, die Strecke aus dem Zentrum von Buenos Aires an dessen Peripherie in deutlich kürzerer Zeit zurückzulegen, als ihr möglich ist. So aber zerfließen die Stunden in gespenstischer Langsamkeit, gerade so, als tropften sie aus einer jener Traumuhren von Salvador Dalí.
Nichts geht voran, und das, obwohl es doch einen Mord aufzuklären gilt. Nämlich den Mord an der Tochter, den die Polizei zum Suizidfall erklärt hat, womit sie aus Sicht der Mutter irrt. Denn ihr Kind wurde an einem stürmischen Tag aufgeknüpft an einem Strick im heimischen Kirchturm gefunden. Schon die Umstände sprechen gegen die Selbstmordthese, denn die Tochter, weiß die Mutter, ging bei Gewitter nie in die Kirche. Schließlich hatte sie immense Angst vor Blitzeinschlägen.
Wenn es aber kein Freitod war, wer hat sie dann ermordet? Eine Bekannte der Mutter könnte es wissen, eine Frau, die zugleich auch - so scheint es jedenfalls - eine Freundin der Tochter war. Allerdings muss die Mutter, als sie endlich am Zielort angekommen ist, feststellen, dass die vermeintliche Freundin der Tochter so entgegenkommend nun gar nicht ist.
Es wird nicht die einzige Illusion sein, die sich an diesem Tag verflüchtigt. Vor allem das Verhältnis von Mutter und Tochter erscheint im Zeitlupenlauf der Ermittlung in neuem Licht: Allmählich beginnt die Kranke zu begreifen, wie es um ihr Verhältnis zur Verstorbenen tatsächlich stand. Nicht immer sehen Eltern und Kinder ihre Beziehung ja auf gleiche Weise. Immerhin: Elena, so der Name der Mutter, weiß fortan Bescheid.
Damit wäre das meiste gesagt, hätte Claudia Piñeiro die späte Einsicht der Mutter nicht auf höchst raffinierte Weise vorbereitet. Der größte Teil des Romans beschreibt die Reise der Mutter durch den Stadtraum von Buenos Aires. Und dass sie so langsam vorankommt und fürchten muss, die Zeit bis zur Einnahme der nächsten Medikamente zu verpassen, dass überhaupt die Pillen den Rhythmus ihres Lebens vorgeben - all das nimmt der Leser am Ende des Romans ganz anders wahr als zu dessen Beginn.
Die durch die Krankheit erzwungene Langsamkeit lässt die Lektüre ein wenig zäh werden, aber der Roman ist zu kurz, um diese Zähigkeit ins Unerträgliche zu steigern. Vielmehr wird diese Verlangsamung zum Stilprinzip: So nimmt der Leser die Welt durch die Augen einer Kranken wahr - und entdeckt am Ende, welche Macht die Pathologie besitzt, nicht nur über das Leben der von ihr Betroffenen, sondern auch über das der anderen.
Parkinson ist ansteckend, lernt der Leser, jedenfalls als psychischer Infekt. Und wenn man nicht aufpasst, ist es darum auch in dieser Form eine Krankheit zum Tode. Umso erfreulicher, dass aus all der Lähmung ein bewegender Text entsteht.
KERSTEN KNIPP
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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