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Wer war Eleke Scherwitz? SS-Untersturmführer und KZ-Kommandant oder ein zweiter Schindler und großer Sohn des jüdisches Volkes? Anita Kuglers Recherche führt den Leser durch eine Welt voller Grauzonen und Widersprüche. Die Nöte und Katastrophen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verdichten sich in der kurzen Lebensspanne eines Einzelnen.
1948 wird der Regionalleiter für die Betreuung der Opfer des Nationalsozialismus, Dr. Eleke Scherwitz, in München als mutmaßlicher Kriegsverbrecher verhaftet. Statt, wie behauptet, KZ-Häftling, sei er SS-Untersturmführer und Kommandant eines
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Produktbeschreibung
Wer war Eleke Scherwitz? SS-Untersturmführer und KZ-Kommandant oder ein zweiter Schindler und großer Sohn des jüdisches Volkes? Anita Kuglers Recherche führt den Leser durch eine Welt voller Grauzonen und Widersprüche. Die Nöte und Katastrophen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verdichten sich in der kurzen Lebensspanne eines Einzelnen.

1948 wird der Regionalleiter für die Betreuung der Opfer des Nationalsozialismus, Dr. Eleke Scherwitz, in München als mutmaßlicher Kriegsverbrecher verhaftet. Statt, wie behauptet, KZ-Häftling, sei er SS-Untersturmführer und Kommandant eines KZ-Außenlagers in Riga gewesen. Nicht er habe sich in Lebensgefahr befunden, sondern 1944 drei jüdische Häftlinge nach einem Fluchtversuch erschossen. Der Beschuldigte bestreitet die Vorwürfe. Er sei selbst Jude, habe den ihm unterstellten Häftlingen das Leben gerettet. Das Gericht glaubt ihm nicht und verurteilt ihn. Seine jüdische Herkunft beweise seine "niedrige Gesinnung", denn "die Tötung eigener Rassegenossen" sei "besonders verwerflich". Wer ist dieser Eleke Scherwitz wirklich? Ein Betrüger und NS-Verbrecher, wie es die Mehrheit der Zeitzeugen 1948 behauptet? Ein zweiter Schindler und großer Sohn des jüdisches Volkes, wie es heute fast alle Überlebenden der Shoah in Lettland beschwören?

Scherwitz hat drei Geburtsorte, vier Geburtsdaten, zwei Nationalitäten, zwei Religionszugehörigkeiten, zwei Familiennamen mit unterschiedlichen Vornamen und die jeweils passenden Lebensläufe dazu. Anita Kugler ist einer faszinierenden Biographie auf die Spur gekommen. Sie hat in Lettland, in Israel, in den USA Zeitzeugen befragt, hat in deutschen, israelischen und osteuropäischen Archiven geforscht und ist auf Augenzeugenberichte gestoßen, die atemlos machen.
Autorenporträt
Anita Kugler, Buchhändlerin, Historikerin, Journalistin, war bei der 'tageszeitung' viele Jahre für das Politische Buch und zeitgeschichtliche Themen zuständig. Buchveröffentlichungen über Zwangsarbeit und amerikanische Automobilkonzerne im Dritten Reich. Anita Kugler ist deutsch-baltischer Herkunft und stolz darauf, vom Museum 'Juden in Lettland' (Riga) zum Mitglied 'Nummer 2' ernannt worden zu sein.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.01.2005

Dünner als Seidenpapier
Die "Spur" eines jüdischen SS-Untersturmführers

Anita Kugler: Scherwitz. Der jüdische SS-Offizier. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2004. 758 Seiten, 29,90 [Euro].

Laut Verlagsankündigung ist Anita Kugler einer "ganz und gar unglaublichen Biographie auf die Spur gekommen". Das Schicksal des "jüdischen Offiziers" Scherwitz sei einmalig, weil sich in seinem Leben die Katastrophen und Absurditäten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verdichteten. Die Biographie sei "wissenschaftlich genau, dabei spannend wie ein Krimi und verstörend von der ersten bis zur letzten Seite". Wird das Buch diesen vielfältigen Ansprüchen gerecht? Schafft es neues Wissen? Die Faktenlage zur Biographie der Hauptperson, die sich abwechselnd Eleke oder Elias Sirewitz, später auch Fritz Scherwitz, manchmal mit, manchmal ohne Doktortitel nannte, war für die Autorin "dünner als chinesisches Seidenpapier". Wann, wo und von welcher Mutter der vermeintlich "jüdische SS-Offizier" geboren wurde, konnte sie aus Dokumenten nicht belegen. Nach eigenen Angaben sei er 1903 als Sohn eines Tischlermeisters in Ostpreußen zur Welt gekommen. In den Wirren des Ersten Weltkriegs habe er nicht nur seine Eltern, sondern auch alle persönlichen Urkunden verloren. Im November 1933 trat Fritz Scherwitz als Mitglied Nr. 241935 in die SS ein.

Wenn man seinem Lebenslauf folgen kann, den er 1935 zur "Erlangung der Verlobungsgenehmigung" einreichte, will er 1920 in einem Freikorps beim Grenzschutz in Ostpreußen gedient und dann als Werkzeugmacher gearbeitet haben. Außerdem gab er an, katholischer Konfession zu sein. Da Scherwitz keinen Ahnennachweis vorlegen konnte, das Rasse- und Siedlungshauptamt der SS die eingereichten Unterlagen als "ungenügend" bezeichnete und deshalb umfängliche Nachforschungen zu seiner Herkunft anstellte, verzögerte sich die Bearbeitung seines Heiratsgesuches um fast drei Jahre. Schließlich wurde die Eheschließung 1938 genehmigt, aber nur "auf eigene Verantwortung", weil eine "erbgesundheitliche Beurteilung" gemäß Heiratsbefehl des Reichsführers SS nicht möglich gewesen sei. Ziel des Heiratsbefehls war die Bildung einer "erbgesundheitlich wertvollen Sippe deutscher nordisch-bestimmter Art". Bei Kriegsbeginn 1939 soll Scherwitz zunächst einem Polizeireservebataillon im besetzten Polen zugeteilt worden sein. Genauere Angaben fehlen ebenso wie zu den folgenden Stationen seiner Polizeikarriere. Relativ gesichert scheint nur zu sein, daß er im September 1941 nach Riga (Lettland) versetzt wurde und dort das KZ-Außenlager "Lenta" leitete, seit 1943 als Fachführer im Rang eines SS-Untersturmführers (entspricht dem Rang eines Leutnants). Einige der im Lager beschäftigten jüdischen Handwerker nannten ihn später "Beschützer und Lebensretter", andere bezichtigten ihn der Korruption und des Mordes.

Nach 1945 behauptete Scherwitz, in Wahrheit Jude und Antifaschist zu sein, der nur zum eigenen Schutz der SS beigetreten sei. Unter amerikanischer Besatzung begann er eine neue Karriere, die ihn vom "Verfolgten" des NS-Regimes zum Treuhänder für jüdisches Eigentum und Regionalleiter für die Betreuung der Opfer des Nationalsozialismus in Oberschwaben führte - bis ihn seine SS-Vergangenheit einholte. Das Schwurgericht München verurteilte ihn 1950 wegen Totschlags dreier Häftlinge zu sechs Jahren Zuchthaus. Seine "jüdische" Herkunft wirkte strafverschärfend, weil das Gericht die "Tötung eigener Rassegenossen" als "besonders verwerfliche Tat" qualifizierte.

Fragwürdig bleibt vor allem der Titel des Buches: Trotz intensiver Archivstudien und zahlreicher Zeugenbefragungen ist es der Autorin nicht gelungen, die tatsächliche Herkunft ihres "Helden" nachzuweisen. Im Epilog ihrer Biographie kommt sie zu dem Schluß, daß die von Scherwitz nach 1945 beanspruchte jüdische Abstammung "bis heute ungewiß" sei. Nicht minder fragwürdig erscheint der Terminus "SS-Offizier" im Titel. Er geht auf bürokratische Usancen der amerikanischen Anklagevertreter bei den Nürnberger Prozessen zurück, die die Personalunterlagen der SS-Führer unter dem Kürzel SSO (= SS-Officer) im Berlin Document Center rubriziert hatten. Vor 1945 ist der Begriff "SS-Offizier" in der Nomenklatur des SS-Personalhauptamtes nicht anzutreffen. Die von Heinrich Himmler, dem Reichsführer SS, ideologisch gewollten und auch im Sinne Hitlers politisch durchgesetzten Unterschiede zwischen SS-Führern und Offizieren der Wehrmacht (hinsichtlich Rekrutierung, Ausbildung und Funktion) werden von der Autorin vernachlässigt. Die Bezeichnung des Lagerführers Scherwitz als "SS-Offizier" ist auch deshalb irrig, weil nicht wenige SS-Führer sich nach dem Zweiten Weltkrieg als "Offiziere" ausgaben, um dann mit Hilfe der Rechtsbestimmungen zu Artikel 131 Grundgesetz Versorgungsansprüche zu begründen. So spannend Anita Kugler die singuläre Lebensgeschichte des Fritz Scherwitz alias Eleke Sirewitz auch darstellt, ihr Buch vermittelt nur wenig gesichertes Wissen.

HANS-JÜRGEN DÖSCHER

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 27.01.2005

Täter oder Opfer?
Ein jüdischer SS-Offizier
Die Lebensgeschichte des Eleke/Elke/Elias (Fritz) Scherwitz/Sirewitz gehört gewiss zu den bizarrsten Viten zur Zeit des Nationalsozialismus. Dass sich im Orden unter dem Totenkopf ein Jude befand und im System unauffällig mitschwamm, ist ebenso ungewöhnlich wie einmalig. Ein jüdischer SS-Mann, der ein falsches Leben im richtigen führt - oder ein richtiges Leben im falschen. Als er im April 1948 verhaftet wird, lautet der Vorwurf, Scherwitz sei „SS-Untersturmführer” gewesen, habe in Riga das Konzentrationslager Lenta geleitet und dort zwei Menschen ermordet. Der Beschuldigte ist der Verfolgtenbetreuer für die Opfer des Nationalsozialismus, der Regionalleiter für Schwaben.
Wer dieser Mann wirklich war, dies hat Anita Kugler, die bei ihren Recherchen auf einen Wust von Widersprüchen stieß und alles tat, um das Schicksal ihres Protagonisten aufzuhellen, nicht herausfinden können. Einiges doch: Der Mann hat zahlreiche Juden vor dem sicheren Tod bewahrt und die ihm unterstellten Morde nicht begangen. Hat er sich ausgerechnet im Büro des Staatskommissars für rassisch, religiös und politisch Verfolgte in Bayern versteckt, damit keiner auf seine Spur kommt? Hat er eine Täter- in eine Opferbiografie umcodiert? Vergangenheitsbewältigung durch Identitätswechsel? All das hat es gegeben.
Der Fall Scherwitz ist in jeder Hinsicht ein Novum: ermittlungstechnisch, rechtshistorisch und zeitgeschichtlich. Dass die Hauptperson ausgerechnet ein Jude ist, gehört zu den Pointen, die man sich nicht ausdenken kann. „Elke Sirewitz” wird 1950 vom Landgericht München, das von der jüdischen Herkunft des Angeklagten überzeugt ist, wegen Totschlags zu einer Gesamtstrafe von sechs Jahren Gefängnis verurteilt. Das Urteil wirft ein bezeichnendes Licht auf die deutsche Nachkriegsjustiz: Strafverschärfend fällt nämlich ins Gewicht, so die Urteilsbegründung, dass die Tötung „eigener Rassegenossen niedrige Gesinnung” zeige und besonders „verwerflich” sei. Was will uns dieses Urteil sagen? Es bedeutet im Umkehrschluss, dass es keine niedrige Gesinnung zeige und nicht besonders verwerflich gewesen sei, wenn Juden von Deutschen erschossen werden. Wäre Scherwitz kein Jude gewesen, wären die strafverschärfenden Gründe nicht ins Gewicht gefallen und er wäre wohl auch - wie andere Nazi-Großverbrecher - irgendwann begnadigt worden. Es war also ein antisemitisch motiviertes Urteil. Mit der Verurteilung eines Juden als Kriegsverbrecher ließ sich die Kollektivschuldthese kontern. Der Fall Scherwitz demonstriert: Nicht nur die Deutschen hatten ihre Naziverbrecher, sondern nun erwiesenermaßen auch die Juden. Die aberwitzige Logik des Urteils führt zu dem Schluss, die schlimmsten Antisemiten seien die Juden selbst gewesen.
Im Epilog lässt Kugler Entlastungszeugen zu Wort kommen und Scherwitz Gerechtigkeit widerfahren, weil sie überzeugt ist, diesem Mann sei viel Unrecht geschehen. Sie stellt ihn gar auf eine Stufe mit Oskar Schindler.
LUDGER HEID
ANITA KUGLER: Scherwitz. Der jüdische SS-Offizier. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2004. 758 Seiten, 21,40 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension

 Des Lobes voll ist die Historikerin Susanne Heim über dieses nach umfangreichen Recherchen entstandene Buch der Ex-taz-Redakteurin Anita Kugler. Die Autorin zeichnet darin das von vielen Rätseln, ja einem "Gestrüpp aus Gerüchten, Lügen, Anschuldigungen, Hochstapelei oder Teilwahrheiten" umwitterte Leben des Fritz (oder Eleke ?) Scherwitz nach, der als Leiter eines KZ-Außenlagers in Riga vielen Juden das Leben retten konnte. Ob er selbst Jude war - wie er nach dem Krieg behauptete -, muss ungeklärt bleiben. Fest steht, dass ihm im zunehmend konservativen Nachkriegsdeutschland keine Gerechtigkeit widerfahren ist. Die Chuzpe, mit der er sich zu Unrecht als Verfolgter ausgab, wurde ihm zum Verhängnis, zur von ihm angestrebten Rehabilitation ist es nie gekommen. Anita Kugler, die auf 650 Seiten dieses Leben aufrollt, verstehe es nicht nur, lobt Heim, die Geschichte des Fritz Scherwitz "spannend wie einen Krimi" zu erzählen, sondern auch noch den Ansprüchen der Historikerzunft gerecht zu werden.

© Perlentaucher Medien GmbH