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Der "Selbstmörderzirkus" - moderne russische Lyrik über die Kehrseite des Größenwahns. Gedichte von Alexander Blok, Anna Achmatowa, Ossip Mandelstam, Marina Zwetajewa, Wladimir Majakowski, Sergej Jessenin, Daniil Charms u. a. In der Übersetzung von Alexander Nitzberg, dazu Kurzessays, in denen die selbstmörderischen Verflechtungen ihres Lebens aufgedeckt werden.

Produktbeschreibung
Der "Selbstmörderzirkus" - moderne russische Lyrik über die Kehrseite des Größenwahns.
Gedichte von Alexander Blok, Anna Achmatowa, Ossip Mandelstam, Marina Zwetajewa, Wladimir Majakowski, Sergej Jessenin, Daniil Charms u. a.
In der Übersetzung von Alexander Nitzberg, dazu Kurzessays, in denen die selbstmörderischen Verflechtungen ihres Lebens aufgedeckt werden.
Autorenporträt
Alexander Nitzberg, geb. 1969 in einer Künstlerfamilie in Moskau, 1980 nach Deutschland aus. Studium der Germanistik und Philosophie an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf. Er ist freier Schriftsteller und Publizist. Des Weiteren unterrichtet er an der Heinrich-Heine-Universität und verfasst Lyrik, Prosa, Essays, Dramen und übersetzt aus dem Russischen. Er ist Mitglied im P.E.N.
Rezensionen
"Der Band ist eine Fundgrube vergessener Mitläufer, Randfiguren und Sternschnuppen der russischen Moderne, die neben den großen Namen wie Brjussows oder der Achmatowa auftauchen. Viele dieser Autoren verdanken ihr Wiederauftauchen in der Literaturgeschichte dem neuerwachten Entdeckerdrang der letzten Jahre nach dem Fall der ideologischen Restriktionen der Sowjetzeit. Alexander Nitzberg serviert sie gebündelt um das Motiv des Selbstmordes, in dem er ein Charakteristikum des russischen Lyrik des silbernen Zeitalters erblickt.

Nitzberg, der zweisprachige Dichter und Übersetzer, unternimmt es, die spezifischen Kunstmittel der russischen Poesie im Deutschen wiederzugeben. Die überraschenden Reime, mit denen er aufwartet, und die für die russische Poesie typischen lautsemantischen Operationen verleihen seinen Übersetzungen einen frischen Ton, der sich weiter von den Konventionen der deutschen Dichtersprache entfernt, als es bei den meisten deutschen Übersetzern der Fall ist."
Frankfurter Allgemeine Zeitung

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.04.2004

Die Selbstmord-Brüder
Dämonen und Daktylen: Neue Anthologien russischer Lyrik

In der üppigen Menge russischer Literatur, die vor und nach der letzten Frankfurter Buchmesse mit dem Länderschwerpunkt Rußland über uns hereingebrochen ist, sind auch einige Lyrikanthologien auszumachen. Es ist also über der nach wie vor dominierenden Erzählliteratur nicht in Vergessenheit geraten, daß auch die russische Poesie stets ein gewichtiges Wort mitzureden hatte. Oft als Korrektiv zu den sozialpsychologisch und ideologisch überfrachteten Romanen, immer als die ästhetisch geformte Botschaft, die dank ihrem klanglichen Raffinement, ihrer rhythmischen Vielfalt und dem schier unerschöpflichen Wortreichtum des Russischen für die Kenner stets der bessere Teil dieser Literatur war.

Die Frage, ob und wie man die Schönheit, die Besonderheit und die semantische Vielschichtigkeit russischer Lyrik in fremde Sprachen vermitteln könne, hat Philologen und Übersetzer seit den Tagen Puschkins umgetrieben. Und wenn sich Übersetzer unermüdlich bemühen, die großen Lyriker - Puschkin, Lermontow, Blok oder Majakowskij - in deutschen Versen wiedererstehen zu lassen (die sogenannten Interlinearübersetzungen in schlichter oder schlechter Prosa bieten ja nichts als den Wortsinn der Verse, die aus einem poetischen Vorgang resultieren); wenn auch das eine oder andere russische Gedicht in der Übersetzung prächtig gelungen scheint (etwa Rainer Maria Rilkes ebenso eigenartige Wiedergabe der letzten Verse Lermontows), so hat sich doch bei uns kein angemessenes Bild der russischen Lyrik ergeben.

Natürlich sollen die redlichen Übersetzer und Nachdichter nicht geschmäht und ihre wackeren Bemühungen nicht geschmälert werden. Aber was tun mit dem Wortmaterial des Kirchenslawischen, das jeweils ins Erhabene, Abstrakte oder Poetische weist? Was mit den Konsonantenwiederholungen, die ein tragendes, die Semantik lenkendes Kunstmittel der russischen Poesie darstellen? Was mit den mehrschichtigen semantischen Abläufen in den Gedichten Bloks oder Mandelstams? Oft sind es nur noch dürftige Schemen der Originale, die uns in den Übersetzungen entgegentreten. Besonders dann, wenn der Übersetzer nicht einmal erkannt hat, welche Dominanzen der Form und des Inhalts ein Gedicht geprägt haben. So wird man ein älteres belehrendes Gedicht, etwa aus dem reichen Fundus russischer Versfabeln, wohl vom Inhalt her transferieren müssen; das virtuose Spiel von Klang und Gedanken bei Puschkin im adäquaten Verbinden beider Dimensionen; ein futuristisches Experiment hingegen in der Wiederholung der Versuchsanordnung mit dem Sprachmaterial der Zielsprache. Die hier anzuzeigenden Bände russischer Lyrik zeugen durchweg von einem soliden Standard des Übersetzerhandwerks. Einige Übersetzungen sind als mustergültig anzusehen.

Die Auswahl der Bände setzt, abgesehen von Ulrich Schmids Anthologie "Sternensalz", den Schwerpunkt in der Moderne. In der Tat war das silberne Zeitalter der russischen Literatur, die postrealistische Epoche von etwa 1890 bis 1917, eine Hochblüte der Poesie, die in vielem an das goldene Zeitalter der Puschkin-Zeit anknüpfte. Die Dichtercénacles der Symbolisten, der Akmeisten, der Kubo- und Egofuturisten schufen, sich gegenseitig aufs heftigste befehdend, ein überreiches Spektrum der Poesie, das von der Wiedergewinnung längst verblaßter Traditionen bis zur brutalsten Innovation reichte.

Der Band "Mein Rußland im Gedicht" von Karl Dedecius trägt ein anrührendes, persönliches Gepräge. Der großartige Vermittler der polnischen Literatur in Deutschland, Gründer des Deutschen Polen-Instituts in Darmstadt und Herausgeber der "Polnischen Bibliothek", hat zu verschiedenen Zeiten mit beachtlichem Geschick auch russische Poesie übertragen. Acht Autoren - Puschkin und Lermontow, Blok und Achmatowa, Jessenin und Majakowskij, Brodskij und Ajgi - sind in seinem Band mit immerhin mehr als hundert Gedichten vertreten. Als junger Mensch begann er 1943 im russischen Lazarett in Stalingrad, Verse von Lermontow zu übersetzen. Eine russische Ärztin hatte ihm ein zerfleddertes Broschürchen mit dessen Gedichten zugesteckt. Dem unvertrauten Russischen näherte er sich, ohne Grammatik und Wörterbuch, von zwei ihm bekannten slawischen Sprachen her. Unter den Mißlichkeiten der Gefangenschaft wurde das Übersetzen zur Medizin, die das Überleben möglich machte. Überleben durch Übersetzen - so beschreibt es Karl Dedecius in seinem kurzen Vorwort.

Unter den Texten, die er übertrug, befinden sich, ungeachtet der sehr persönlichen Auswahlkriterien, einige der bekanntesten Gedichte der russischen Literatur: Puschkins "An Tschaadajew", Lermontows "Mein Dämon", Bloks von der asiatischen Gefahr kündende "Skythen", Jessenins Abschiedsverse, Majakowskijs Jubiläumsgedicht, ein schulterklopfender Dialog mit Puschkin, sein "Gespräch mit dem Steuerinspektor über die Dichtkunst" sowie Brodskijs "Große Elegie für John Donne", jene einzigartige Evokation allumfassender Welthaltigkeit, die im Augenblick des Todes dahinschwindet.

Der Band "Selbstmörder-Zirkus" von Alexander Nitzberg ist eine Fundgrube vergessener Mitläufer, Randfiguren und Sternschnuppen der russischen Moderne, die neben den großen Namen Brjussows oder der Achmatowa auftauchen. Viele dieser Autoren verdanken ihr Wiederauftauchen in der Literaturgeschichte dem neuerwachten Entdeckerdrang der letzten Jahre nach dem Fall der ideologischen Restriktionen der Sowjetzeit. Alexander Nitzberg serviert sie gebündelt um das Motiv des Selbstmordes, in dem er ein Charakteristikum der russischen Lyrik des silbernen Zeitalters erblickt. In der Tat: Der Dichterselbstmord war ein grassierendes Phänomen in Rußland, vor der Oktoberrevolution aus existentiellen, danach aus politisch-ideologischen Gründen. Erschrecken und Ratlosigkeit erfaßten die Gesellschaft, als sich Jessenin 1925 erhängte und Majakowskij sich fünf Jahre später erschoß.

Nitzberg stellt die Suizidgefährdeten und die Selbstmörder mit einschlägigen Texten vor. Brjussow beschwört, auf Nachrichten über die Zunahme der Selbstmorde in Rußland reagierend, in dem Gedicht "Der Dämon des Suizids" die verführerische Macht dieses treuen Freundes, "wenn, den Verstand hypnotisierend, er / mit feinen Fäden uns bestrickt". Aus unglücklicher Liebe zu der Schaupielerin Glebowa-Sudejkina gelobt der Husarenleutnant Wsewolod Knjasew, dem heiteren Tod frisch entgegenzuziehen. (Anna Achmatowa hat die tragische Affäre später in ihrem "Poem ohne Held" poetisch umrankt.) Jessenins Ende mit dem Strick am Heizungsrohr löste nicht nur eine sarkastische Elegie seines Freundes Anatolij Marienhof aus, sondern auch Majakowskijs Abrechnung mit dem von der Revolution enttäuschten Defätisten und Hooligan: "Unsre Erde kann nicht eben viel Genuß versprechen. / Wirke, und die Zukunft gibt ihn her. / Es ist leicht, am Leben zu zerbrechen, / Leben zu ermöglichen ist schwer." Majakowskij zerbrach wenige Jahre darauf selbst an einer tragischen Mischung von verzweifelter Liebesenttäuschung, künstlerischen Mißerfolgen und ideologischer Ausgrenzung.

Alexander Nitzberg, der zweisprachige Dichter und Übersetzer, unternimmt es, die spezifischen Kunstmittel der russischen Poesie im Deutschen wiederzugeben. Die überraschenden Reime, mit denen er aufwartet, und die für die russische Poesie typischen lautsemantischen Operationen verleihen seinen Übersetzungen einen frischen Ton, der sich weiter von den Konventionen der deutschen Dichtersprache entfernt, als es bei den meisten deutschen Übersetzern der Fall ist. Nicht umsonst hat er seine Anthologie Peter Rühmkorf gewidmet - "vom anderen Ende des Hochseils".

Noch entschieden weiter geht in diese Richtung Oskar Pastior mit seinen Übersetzungen und Texten zu Velimir Chlebnikow. Chlebnikow gehört zu den größten Erfindern im Bereich des dichterischen Wortes. Auf allen Ebenen der Sprache - Lexik, Wortbildung, Phonetik, Syntax - experimentierend, schuf er seine neue "Sternensprache", die der Leser oder Hörer nur in unbestimmten Assoziationen aufnehmen kann. Seine Wortumbildungen (Paronomasien), Wurzelflexionen, Krebsgedichte (Palindrome) wie auch seine Rückgriffe auf heidnisch-slawische Mythologie und seine historischen Zahlenspekulationen haben seinerzeit die Dichter der Avantgarde angestachelt. Hierzulande wurden sie, dank der 1972 von Peter Urban initiierten Werkausgabe, zu einem Impuls neoavantgardistischer Strömungen. Oskar Pastior hat seine damals beigesteuerten Übersetzungen in einem gesonderten Bändchen mit einigen Begleittexten und einer CD mit eigenen Deklamationen jetzt neu vorgelegt.

Aber sind es Übersetzungen? Den Wortlaut der poetischen Mitteilung zu übersetzen wäre sinnlos, denn sie ist lediglich das Ergebnis der Anwendung eines experimentellen Verfahrens. Also: das Verfahren mit deutschem Sprachmaterial durchspielen? Dann ergäbe sich ein Zieltext, dessen Bedeutung mit der des Ausgangstextes nichts mehr gemein hätte. Pastior versucht, zwischen dichterischem Verfahren und Sekundärsemantik zu vermitteln. Die Ergebnisse klingen im Deutschen, nicht anders als im Russischen, absonderlich genug. Die Verse über den "Grashüpfer" enden wie folgt: "tschiribombös profelurte kikieglitz / o schwansam / teich auf!"

Die Anthologie "Sternensalz", herausgegeben und kommentiert von dem Berner Slawisten Ulrich Schmid, ist thematisch gegliedert. Von poetologischen Gedichten über Bilder der russischen Heimat und Liebeskonstruktionen bis hin zu Gottvertrauen und Gottverlassenheit reicht die Spanne der Themen, die in Gedichten von verschiedenen Übersetzern präsentiert werden. So reizvoll es dem Anthologisten erscheinen mag, die besten Gedichte in den besten Übersetzungen zu versammeln, er handelt sich damit eine gewisse Disparatheit der Übersetzersprache ein. Rilke steht neben Enzensberger, Hans Baumann neben Rolf-Dieter Keil, Ludolf Müller neben Hugo Huppert, Paul Celan neben Ralph Dutli. Lesbar und aufschlußreich indes sind alle der angebotenen Gedichte. Und gut ausgewählt.

Ulrich Schmid begründet sein Konzept in der Einleitung mit der "idealtypischen Gleichzeitigkeit" der russischen Lyrik. Die Gedichte Puschkins etwa überraschten durch ihre Modernität nicht weniger als die Mandelstams durch ihre klassische Form. Immer wieder hätten russische Dichter den Gedanken einer literarischen Evolution abgelehnt und sich der Subsumierung unter einen "Ismus" widersetzt. Ahistorizität bilde ein wichtiges Element des Selbstverständnisses der russischen Poesie. Hinzu komme die enorme Wertschätzung der Poesie in Rußland, ihr Primat vor der "verachteten Prosa". Solche Überlegungen sind bedenkenswert und nicht nur apologetisch im Hinblick auf das anthologische Unterfangen. Aber sind sie überhaupt nötig? Vielgestalt und Gedankentiefe der russischen Poesie werden in diesem Band glücklicherweise ahnbar, auch wenn der volle Klang der russischen Verse nicht überall zu vernehmen ist.

REINHARD LAUER

Karl Dedecius: "Mein Rußland in Gedichten". Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2003. 272 S., br., 10,- [Euro].

"Selbstmörder-Zirkus". Russische Gedichte der Moderne. Herausgegeben und übersetzt von Alexander Nitzberg. Verlag Reclam Leipzig, Leipzig 2003. 190 S., br., 8,90 [Euro].

"Rußland lesen". Herausgegeben von Swetlana Geier. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2003. 6 Bde., Kass., zus. 39,90 [Euro].

Oskar Pastior: "Mein Chlebnikov". Deutsch/russisch. Urs Engeler, Basel/Weil am Rhein 2003. 64 S., CD-Audio, geb., 24,- [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Zwei Dinge hält Reinhard Lauer in seiner Mehrfachbesprechung von neuen mustergültigen Übersetzungen russischer Lyrik fest: Russische Gedichte sind erstens noch viel besser als russische Romane, zweitens leider kaum zu übertragen. An beidem gibt unser Rezensent dem "klanglichen Raffinement", der "rhythmischen Vielfalt" und dem "schier unerschöpflichen Wortreichtum des Russischen" die Schuld. Da kommt ihm ein zweisprachiger Dichter wie Alexander Nitzberg gerade recht. Er warte mit überraschenden Reimen und lautsemantischen Operationen auf, die seine Übersetzungen zwar von den "Konventionen der deutschen Dichtersprache" entfernen, dafür umso frischer klingen, wie Lauer informiert. Der Band versammelt Gedichte der russischen Moderne, die alle um das Motiv des Selbstmords kreisen und der Rezensent betrachtet ihn als eine "Fundgrube vergessener Mitläufer, Randfiguren und Sternschnuppen."

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