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Dieses Buch ist eine ergreifende Liebeserklärung zwischen größter Zartheit und tiefem Schmerz: Eine Heranwachsende erlebt, wie sich ihre Mutter, verstrickt in den Fängen einer seelischen Erkrankung, immer weiter von der realen Welt entfernt. Herzvirus ist die Geschichte der Autorin, die mit über dreißig Jahren Abstand nochmals einen Annäherungsversuch an diese prägende Kindheitserfahrung und ihre damals entschwundene Mutter wagt. In erschütternden, aber feinfühlig erzählten Erinnerungsbildern entwickelt sich das Drama des Lebens einer ungewöhnlichen Frau. Sie lebt mit ihren Fantasien an den…mehr

Produktbeschreibung
Dieses Buch ist eine ergreifende Liebeserklärung zwischen größter Zartheit und tiefem Schmerz: Eine Heranwachsende erlebt, wie sich ihre Mutter, verstrickt in den Fängen einer seelischen Erkrankung, immer weiter von der realen Welt entfernt.
Herzvirus ist die Geschichte der Autorin, die mit über dreißig Jahren Abstand nochmals einen Annäherungsversuch an diese prägende Kindheitserfahrung und ihre damals entschwundene
Mutter wagt. In erschütternden, aber feinfühlig erzählten Erinnerungsbildern entwickelt sich das Drama des Lebens einer ungewöhnlichen Frau. Sie lebt mit ihren Fantasien an den Rändern der Wirklichkeit, ängstlich beobachtet und bewundert von ihrer Tochter. Sie wächst mit einer
Mutter auf, die vieles auf ihre ganz eigene Weise tut, Konventionen missachtet, in Büchern, Musik und Filmen lebt, aber in zwanghaften Gedanken Briefkästen sprengt oder andere
Menschen zu vergiften meint - bis zu dem Punkt, an dem es kein Zurück mehr gibt. Herzvirus zeichnet das Psychogramm einer Beziehung nach, in der Schrecken, Wahn und Freiheit
so nahe beieinanderliegen, dass sie sich bisweilen nicht voneinander unterscheiden. Die 1970/80er-Jahre zwischen Aufbruch und Ernüchterung sind hier Spiegel innerer und
äußerer Umwälzungen: die Musik, die Literatur, die Unruhen auf den Straßen, die reale Bedrohung durch Umweltkatastrophen wie Tschernobyl und Schweizerhalle.
Autorenporträt
Bettina Spoerri ist in Basel aufgewachsen, studierte in Zürich, Berlin und Paris Literaturwissenschaft, Philosophie und Musikwissenschaft, arbeitete nach einem längeren Aufenthalt in Israel als wissenschaftliche Assistentin am Deutschen Seminar der Universität Zürich und promovierte zum Thema literarische Todesdarstellungen. In u.a. einer Post-Doc-Arbeit beschäftigte sie sich mit transnationaler und kosmopolitischer Literatur. Sie ist Mitherausgeberin des Buches Diskurse in die Weite. Ihr erster Roman Konzert für die Unerschrockenen erschien 2013 bei Braumüller. Bettina Spoerri arbeitet heute als freie Autorin, Filmkritikerin, Kulturvermittlerin und leitet das Aargauer Literaturhaus. Vgl. auch www.seismograf.ch
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.11.2016

An den Rändern der Fieberkurve
Der schmale Grat zwischen Normalität und Wahnsinn: Bettina Spoerri schildert in "Herzvirus" das Drama eines Kindes mit manisch-depressiver Mutter

Drei Jahrzehnte nach dem Tod ihrer Mutter räumt die Tochter deren Wohnung aus, verpackt die Requisiten eines Lebens in Bananenkisten, "die Mappe aus dem Zeichenunterricht, Ordner und schriftliche Arbeiten aus der Studienzeit, ein alter Mantel, ein kleiner Teppich, ausrangiert, aber noch nicht entsorgt, weil ich mich nicht endgültig habe davon trennen können". Der Dachboden erscheint als idealer Ort für spontane Imagination, das Aufflackern längst vergessen geglaubter Erinnerungsbilder: Bergsonsche Momente einer mémoire involonté, die dann später, in eine lose chronologische Reihenfolge gebracht, zum Roman umgearbeitet werden: "Der trockene Geruch des Estrichs setzt sich auf meinem Gaumen fest, ich stoße eine Dachluke auf, ein Lichtstrahl fällt in das Staubgewirbel um mich herum. Ich halte mich an einem der tiefen Querbalken fest, ein Splitter bleibt in meiner Handfläche hängen."

Suggestiv und spielerisch lässt Spoerri vor dem inneren Auge des Lesers eine Kindheit in den sechziger und siebziger Jahren wiederauferstehen, die zuerst zauberhaft erscheint, als eine "Welt voller Wundertiere und Monster". Zwar ist sie als Jüngste von drei Geschwistern viel allein - die beiden älteren Brüder erlebt sie als Einheit, der Vater wohnt längst nicht mehr bei der Familie -, aber das Mädchen weiß sich zu beschäftigen, denn es hat von klein auf die Liebe der Mutter zur Literatur übernommen, liest sich quer durch Kinder-, Jugend- und später auch "Erwachsenen"-Literatur. Wann immer Zeit und Geld da sind, geht die Mutter mit den drei Kindern ins Kino: das Mädchen begeistert sich für E.T., aber auch für Dustin Hoffman und Jessica Lange.

Aber es ist eben nicht nur eine Welt der Wundertiere, sondern auch eine, in der die Mutter sich immer wieder rätselhaft verhält, ihre Laune von einem auf den anderen Moment vollkommen umschlägt. Mit den Jahren verstärken sich die Indizien, dass da etwas nicht stimmt: Warum haben die Eltern sich getrennt? Weshalb die vielen Umzüge, von einem kleinen Schweizer Ort in den nächsten, so dass die Geschwister sich immer aufs Neue orientieren, Freunde finden müssen? Woher rührt die übergroße Furcht der Mutter vor Insekten? Und diese abrupten Stimmungsschwankungen, die euphorischen Schübe? Schwer einzuschätzen für das Mädchen, das lernen muss, immer häufiger mit einer ihm fremden, schwierigen Frau umzugehen. Als Jüngste in der Familie ist sie noch früher als die Brüder zur Selbständigkeit verdammt, zwangsweise früh zu Eigenverantwortung erzogen. Das Mädchen reagiert mit Fleiß und Selbstbeherrschung, die üblichen Revolutionsgesten der Pubertät fallen weg.

Entlastung beim Älterwerden bietet weiterhin der Sprung in die Phantasiewelt von Literatur und Film, in der sie Trost und Ablenkung findet. Nun gleicht dieser Versetzungsakt auch immer mehr einer Abkehr von der oft als überfordernd wahrgenommenen Wirklichkeit. Immer häufiger werden die Schreckensmomente, wenn die Mutter sich ändert, die Welt gleichsam umkippt, zu einem Horrorfilm: "Jetzt ist alles anders; ich weiß nie, wann sie diese völlig Fremde ist, eine unheimliche Frau, die ich nicht kenne und die mich nicht kennt." Mit der Zeit wird klar: Die Heranwachsende lernt vor allem eines: Aus dem Leben zu fallen ist einfach.

Die Diagnose der Mutter, manisch-depressiv, steht aber auch ein für die gesellschaftliche Niedergedrücktheit einer Generation von Frauen, die von Freiheit und Emanzipation zwar begeistert sind, die Ideale aber noch nicht so weit verinnerlichen konnten, dass ihr Alltag leichter würde, ihre Schuldgefühle wegfielen. Rückblickend erweist sich die erste, von der Mutter selbstgemachte Stoffpuppe, die das Mädchen Bettina Hanti-Tanti tauft, als Metapher. Benannt ist sie nach Humpty Dumpty aus "Alice hinter den Spiegeln", dem zeitlosen Klassiker, der die Welt der Phantasie ja auch als absurdes Zerrfeld erkennt und ausgerechnet dem Eiermännchen Humpty, das beim kleinsten Fall zerschellen kann, die Macht zuspricht, Wörtern genau die Bedeutung zu geben, die ihm gerade passt.

Der Leser altert gleichsam mit der Hauptfigur, Sprache und Bewusstsein öffnen sich, bis zuletzt eine abstrakte Einordnung der Krankheit der Mutter in den Begrifflichkeiten der Psychologie steht. Die sprachliche Sensibilität, die vielen gelungenen poetischen, in bilderreicher Sprache imaginierten Szenen sind es, die das Buch - auch wenn die Autorin sich zuvor in einen quasi autobiographischen Pakt mit dem Leser begeben hat - zum Roman machen. Im Vergleich zu Spoerris umfangreicherem Debütroman "Konzert für die Unerschrockenen" (2013), für den sie ebenfalls aus ihrer eigenen Familiengeschichte schöpfte, ist ihr zweites Buch weit mehr als Kammerspiel inszeniert, konzentriert sich auf Ausschnitte - und gerade das macht "Herzvirus" so intensiv.

Der schmale Grat zwischen Normalität und Wahnsinn wird in der Erzählung fein ausbuchstabiert. Immer wieder muss die Grenze neu gezogen werden von der Tochter, werden die "Anzeichen" für den möglichen Krankheitssturz der Mutter gedeutet, damit man überhaupt mit ihr leben kann. Sensibel geht die Autorin vor, zeigt, dass Schlagworte nie genügen und Krankheitsdiagnosen - die hier in den beiden kurzen Schlusskapiteln als bipolare Störung erklärt werden - das Leid und das Leben nicht tief genug erfassen.

Zuletzt hält auch der Versuch der Mutter, ihren Kindern immer wieder ein normales Familienleben zu ermöglichen, nicht lange. Als die Patchworkfamilie zerbricht, fühlt sich die Mutter schuldiger denn je. Ihre Krankheit verschlimmert sich, und die älter gewordene Tochter, die längst Begriffe kennt für die mütterlichen Symptome, seien es "Hypomanie", "Manie", "Depression", sucht doch immer noch nach einer Bezeichnung, die die Mutter nicht ganz verschwinden lässt.

Es ist letztlich ein "Herzvirus", an dem die Mutter stirbt. Wie alles sprachliche Begreifen kann auch diese Metapher nur eine Annäherung sein für die zarte, einzigartige Beziehung zum allernächsten Menschen. Spoerris Verdienst ist es, die Krankheit der Mutter nicht mehr als bloße Fallgeschichte zu sehen, sondern auch das Wunderbare und Erschreckende der Kindheit und der Bindungen in der Familie wirklich erlebbar zu machen. Mutter und Tochter sind immer Heldinnen ihrer Geschichte und Opfer der Umstände zugleich. So hat die Mutter, wie die Autorin zuletzt resümiert, deren Bipolarität als das "Auf und Ab einer Fieberkurve" begriffen, als "Koordinatensystem, welches das Gefühl von Orientierung in einem Raum vermittelt, der einer der Verlorenheit ist". Ein erzählerisches Sondieren, das seine Leser - im besten Sinne - berührt.

SILKE SCHEUERMANN

Bettina Spoerri: "Herzvirus". Roman.

Verlag Braumüller, Wien 2016. 287 S., geb., 21,90 [Euro].

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