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Jonas Mekas arbeitete mit Andy Warhol, George Maciunas, John Lennon und vielen anderen zusammen. In New York prägte er das New American Cinema, aber zum Filmemachen kam er relativ spät. 1944 mussten Mekas und sein jüngerer Bruder Adolfas vor den Nazis fliehen, weil sie Flugblätter vervielfältigt hatten. Sie wurden für acht Monate in ein Arbeitslager in Elmshorn gesperrt. Aufgrund der sowjetischen Besetzung konnte er nach dem Krieg nicht in seine Heimat nach Litauen zurückkehren und galt als "displaced person", er lebte in DP-Lagern in Wiesbaden und Kassel. Ende 1949 emigrierte er mit seinem…mehr

Produktbeschreibung
Jonas Mekas arbeitete mit Andy Warhol, George Maciunas, John Lennon und vielen anderen zusammen. In New York prägte er das New American Cinema, aber zum Filmemachen kam er relativ spät. 1944 mussten Mekas und sein jüngerer Bruder Adolfas vor den Nazis fliehen, weil sie Flugblätter vervielfältigt hatten. Sie wurden für acht Monate in ein Arbeitslager in Elmshorn gesperrt. Aufgrund der sowjetischen Besetzung konnte er nach dem Krieg nicht in seine Heimat nach Litauen zurückkehren und galt als "displaced person", er lebte in DP-Lagern in Wiesbaden und Kassel. Ende 1949 emigrierte er mit seinem Bruder nach New York. In seiner Autobiografie I Had Nowhere to Go beschreibt er das Überleben in den Lagern und die Ankunft in New York. Mekas erzählt eine universelle Geschichte, die eines Geflüchteten, der niemals zurückkehren kann und dessen Einsamkeit in der neuen Welt emblematisch für das menschliche Dasein ist: eine Jahrhundertbiografie, die erstmals auf Deutsch erscheint.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.12.2017

Keine Nachfrage
nach Dichtern
Jonas Mekas erzählt die Geschichte seiner Emigration
Es ist eine lange Reise, die – das Tagebuch vermerkt den Termin genau – am 19. Juli des Jahres 1944 beginnt. „Heute hat unser Zug Dirschau erreicht, in der Nähe von Danzig“, schreibt Jonas Mekas. „Wir sind den achten Tag unterwegs. Ich bin weder Soldat noch Partisan. Ich eigne mich weder körperlich noch geistig für so ein Leben. Ich bin ein Dichter.“ Jonas Mekas, geboren im Jahr 1922 im litauischen Semeniškiai, einer der bedeutendsten Künstler des amerikanischen Avantgarde-Films, hat sein Buch „I Had Nowhere to Go“, das die Geschichte seiner Emigration erzählt, nun auch auf deutsch veröffentlicht.
Dem Text liegen zwar Tagebücher zugrunde, „Ich hatte keinen Ort“ liest sich jedoch wie ein Bildungsroman, eine Erzählung in Etappen, die zwei Jungen auf dem Weg zum Künstler begleitet. Jonas Mekas ist als Zwanzigjähriger bereits Redakteur eines literarischen Wochenmagazins und in einer Untergrundgruppe aktiv, als er mit seinem Bruder Adolfas vor den Deutschen flieht. Auf dem Weg nach Wien – „zum Studium“ – werden sie aufgegriffen und in Arbeitslager verschleppt. Nach Kriegsende beginnt ihre Odyssee, als sogenannte „Displaced Persons“ gehören sie den Millionen an, die in Deutschland fest sitzen, nicht zurück können, nicht bleiben wollen, weil sie „keinen Ort mehr“ haben.
Jonas Mekas hat seine Aufzeichnungen kaum bearbeitet, sie jedoch in Kapitel unterteilt und mit Überschriften versehen, die an die langen Titel in englischen Romanen erinnern, in denen die Handlung in einem distanziertem Ton vorweggenommen wird: „Der Autor löst sich in seine Einzelteile auf und setzt sich wieder zusammen. Über den Modernismus. Erinnerungen an zu Hause. Sommerfliegen. In einem YMCA-Lager. Ein gewöhnlicher Tag im Mattenberger DP-Lager: Über litauische Volkslieder. Litauischer Pantheismus. Erinnerungen an zu Hause wallen immer wieder auf. Nach Amerika gehen oder nicht. Das fünfte Weihnachten fern der Heimat. Verzweiflung.“ Zudem hat Mekas ein Vorwort geschrieben, das die Zeit vor der Flucht im Erzählton reflektiert. Wie ein Roman setzt es ein mit dem Namen der Hauptfigur: „Wann immer ein litauischer Dichter oder Dramatiker einen Text mit historischem Hintergrund verfasst, heißt üblicherweise einer der Charaktere Mekas.“ Wer die biografischen Film-Essays des Künstlers kennt, dem ist diese Lakonie vertraut.
Das dezidiert Unsentimentale unterminiert die Erinnerungssucht des Werks, die unausgesetzte Suche von Jonas Mekas nach dem Verlorenen – als sei er, eigentlich ein Bauernjunge, nur zufällig hineingeraten in diese ganz große Bewegung der Literatur. Andererseits ist für die beiden Brüdern, die ihre Rucksäcke nicht mit Kleidern, Werkzeug oder Essen beschweren, weil Bücher ihnen alles ersetzen, jede Begegnung eine literarische, philosophische oder ästhetische Auseinandersetzung, ganz gleich ob sie in den Trümmern von Hamburger Fabriken auf das Kriegsende warten oder später von einem Lager ins nächste geschubst werden.
Tagsüber fällen sie Holz, arbeiten in Fabriken, auf Feldern oder in Ställen. Abends, in den Baracken, geht es um Literatur, um Lieder, Theaterprojekte. Nach Kriegsende studiert Mekas Philosophie in Mainz, erwägt aber, von einem Pfarrer aufgefordert, evangelische Theologie zu studieren. Kauft einen Fotoapparat, organisiert sich ein Radio, geht in die Oper. Er sucht „...aus Neugierde, nicht aus Notwendigkeit. Affen tun dasselbe. Ich spiele in einem Spiel der Zivilisation. Eine zeitweilige Unterhaltung.“
Dieses Auf-der-Stelle-Treten lesend zu begleiten, ist aufschlussreich. Weil man mitfühlen kann, dass der Krieg für Flüchtlinge erst dann vorbei ist, wenn es einen Ort gibt, an dem sie ankommen können. Doch wohin? „Jeder meldet sich für Kanada an. Hauptsächlich wird nach Schneidern, Schuhmachern, solchen Berufen gesucht. Es reicht, einen Knopf annähen zu können – du bist eingestellt. Noch keine Nachfrage nach Dichtern bisher“, schreibt Mekas, bevor die Brüder entscheiden, dass Israel der richtige Ort für sie ist. „Wir entschieden uns, als freiwillige Helfer beim Aufbau Israels anzumelden. Wir waren deshalb ganz aufgeregt, konnten nicht schlafen.“ Doch weil Adolfas und Jonas Mekas keine Juden sind, „gibt es kein Kontingent“ für sie, teilt man ihnen mit. „Dann möchten wir nach Ägypten“, zitiert Mekas die Unterhaltung mit dem verdutzten Beamten der Auswanderungsbehörde, „wir können zu Fuß von Ägypten nach Israel gehen“.
Wer sich hineinfühlen möchte in das Schicksal der vielen Millionen Vertriebenen, die heute nach Kriegen, ethnischen Säuberungen, Armut stranden, der muss dieses Buch lesen. Weil es direkt und unmittelbar ist, dem Leser aber auch erlaubt, mit Mekas anzukommen in einer Zeit jenseits des Verlustes: Amerika, kein Wunschziel, ist zunächst ernüchternd, bestätigt alle Vorbehalte der beiden intellektuellen Europäer: „Komm nach Amerika! Du wirst die Misere dieses einen großen Traumes erfahren: Kapitalismus. Das ist es wert.“ Lange bleibt New York dem arbeitslosen Mittzwanziger fremd, der sich langsam hinein tastet in seine Gefühle für die neue Heimat.
Es klingt fast banal, aber wo die Erinnerungen fehlen, kann Mekas nicht heimisch werden. Wo sie entstehen, mehr werden, wächst er hinein und konstatiert schon ein paar Monate später: „Ich erinnere mich jetzt daran, an diesen kalten Januar, wie ich auf die winterliche Skyline New Yorks schaute, die Stadt, die mich in meiner Einsamkeit aufgenommen hatte; ihre Straßen, Docks, Drugstores, die Papierfetzen, die im Januarwind die Allen Street entlang flogen... Das ist die Stadt, die ich gebaut habe, Stück um Stück, Erinnerung für Erinnerung, Straße für Straße, Gesicht für Gesicht, Schritt für Schritt. Wir sind zusammengewachsen, die Stadt und ich... Ich bin mir dessen bewusst, dass mein New York niemals wie das New York eines anderen Menschen sein wird.“
CATRIN LORCH
Jonas Mekas: Ich hatte keinen Ort. Tagebücher 1944 – 1955. Aus dem Englischen von Heike Geißler. Spectormag Verlag, Leipzig 2017. 576 Seiten, 22 Euro.
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