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Ein heiterer Badestrand, der vom Verbrechen, dessen Bühne er baldwird, nichts vermuten lässt, bis sich dunkle Ahnungen breitmachenund es zu spät ist. Eine Schwangere, die einen unstillbaren Neidauslöst, und ein Champagnerkorken, der damit Schluss macht: Liebe,Neid, Hass sind die Gefühle, die von Dörte Lyssewski in diesemsouveränen, abgründigen Prosadebüt ausgelotet werden. Ihre vonsicherer, weicher und präziser Sprache getragenen Erzählungensind voller Empfindungsreichtum und Tiefenschärfe, mit denen siedie Conditio humana auslotet. In den vier dunkel schillerndenErzählungen ist der Tod als…mehr

Produktbeschreibung
Ein heiterer Badestrand, der vom Verbrechen, dessen Bühne er baldwird, nichts vermuten lässt, bis sich dunkle Ahnungen breitmachenund es zu spät ist. Eine Schwangere, die einen unstillbaren Neidauslöst, und ein Champagnerkorken, der damit Schluss macht: Liebe,Neid, Hass sind die Gefühle, die von Dörte Lyssewski in diesemsouveränen, abgründigen Prosadebüt ausgelotet werden. Ihre vonsicherer, weicher und präziser Sprache getragenen Erzählungensind voller Empfindungsreichtum und Tiefenschärfe, mit denen siedie Conditio humana auslotet. In den vier dunkel schillerndenErzählungen ist der Tod als Bedingung des schönen Scheins allgegenwärtig.Ängste, wie die vor dem Sterben, aber auch die Sehnsuchtdanach - beide von untergründiger und doch quälender Intensität -sind Begleiter allen Handelns. So scheinen die in ihren Zwängengeschilderten Menschen wie Vulkane: gleichsam erloschen, malerischund still. Doch irgendwann, genau dann, wenn man sich ganzsicher fühlt, geschieht das Ungeheure.
Autorenporträt
Dörte Lyssewski, geboren 1966 in Winsen, wurde als Schauspielerin bekannt. Nach zahlreichen Filmrollen und Engagements u. a. an der Schaubühne Berlin und am Schauspielhaus Zürich ist sie seit 2009 Ensemblemitglied des Wiener Burgtheaters. Sie erhielt viele Preise, zuletzt den Nestroy-Preis 2012.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.07.2015

Ich bin immer auf der Suche

Spaß am Denken und ein fulminantes Debüt: Eine Begegnung mit der Burgschauspielerin Dörte Lyssewski, die ihr erstes Buch veröffentlicht hat.

In manchen Ländern, etwa in Frankreich", sagt Dörte Lyssewski, "ist es ganz normal, dass ein Schauspieler nicht nur Theater spielt oder Filme dreht, sondern auch Regie führt, Bücher schreibt, vielleicht ein Restaurant betreibt oder Wein aus eigenem Anbau verkauft. In Deutschland oder Österreich ist das anders. Da ruft solche Vielfalt höchstens Naserümpfen oder Misstrauen hervor. Warum bloß?" Sie hat ja so recht: Denn wer traut einem Schauspieler wirklich zu, ein lesbares Buch zu verfassen, das über biografische und dienstliche Anekdoten hinausgehen würde? Oder überzeugend selbst Regie - immerhin eine Profession, die man studieren kann - zu führen? "Das ist so ungerecht", ergänzt Lyssewski: "Wenn wir Schauspieler etwas können, ist das normalerweise, Texte genau und gründlich und mit viel Phantasie zu lesen, um sie auf der Bühne als Spielmaterial zu nutzen. Wäre das nicht eigentlich die Grundlage für eine vernünftige, seriöse Inszenierung?"

Die gestandene, renommierte Schauspielerin liebt ihren Beruf mit seinem reproduzierenden Spektrum, der ihr abverlangt, auf der Bühne oft Abend für Abend die unterschiedlichsten fremden Worte so zu sprechen, als kämen sie aus ihrem tiefsten intellektuell-emotionalen Inneren. Aber sie hat entdeckt, dass sie auch eigenschöpferische Seiten hat. Die elementare Beschäftigung mit Sprache und die Fähigkeit zur Anverwandlung von Texten versteht sie inzwischen als Grundlage, um sich selbst schriftstellerisch artikulieren zu können. Vor ein paar Jahren hat Dörte Lyssewski deshalb zu schreiben begonnen, doch alles erstmal in der Schublade verschwinden lassen - schließlich fühlte sie sich hauptsächlich als Schauspielerin und war auf Reaktionen wie die oben geschilderten nicht erpicht. Jetzt war für sie die Zeit allerdings reif, und "aus innerer Notwendigkeit" hat sie ihr erstes Buch veröffentlicht: ein souveräner, beeindruckender, begeisternder Band mit vier Erzählungen unter dem Titel "Der Vulkan oder Die Heilige Irene" (Matthes & Seitz, Berlin 2015. 188 S, geb., 19,90 [Euro].)

Es sind kunstvoll ausgelotete, präzise formulierte und wunderbar spannende Geschichten über Ausnahmezustände, in die drei Frauen und - abgrundtief traurig wie völlig unsentimental - ein alter, kranker Hund geraten. Surreale Einschübe von extremer emotionaler Wucht, in denen das Geschehen sich zu alles und jedes sprengenden Eruptionen verdichtet, brechen die Oberfläche der Welt auf, führen bis zu dionysischen Orgien in einem harmlosen Urlaubsparadies. Es brodelt gehörig unter der Fassade von Mensch und Natur und niemand weiß, wann sich der Überdruck Luft machen wird.

Dörte Lyssewski wurde 1966 in Winsen bei Hamburg geboren, debütierte 1989 an der ruhmreichen Berliner Schaubühne am Lehniner Platz, die Peter Stein immer noch prägte, obwohl er die künstlerische Leitung bereits niedergelegt hatte. Es war die Zeit, in der sich Schauspieler wie Regisseure den Stücken weniger durch private Assoziationen und flüchtiges Scannen näherten, sondern ausgiebige Recherchen betrieben, um die jeweiligen Autoren, deren Leben, Arbeit, Epoche historisch-kritisch zu erforschen. Was da als Programmhefte in der Schaubühne verkauft wurde, waren oft stattliche, hochwertige Materialsammlungen philologisch-wissenschaftlichen Zuschnitts. Dörte Lyssewski genoss diese stückbegleitenden Studien, war sie zum Theater doch, wie sie betont, über die Literatur gekommen. Sie liebt die Dichter und die Dichtkunst und wird nicht müde, ihnen mit Energie und Leidenschaft zu dienen. Ohne Bücher kann sie nicht sein, wie ihre aktuelle Wohnung in Wien und ihre ehemalige in Berlin zeigen, in der sie - wie jetzt zu unserem Gespräch - immer mal wieder zu Besuch ist, weil dort weiterhin ihr früherer Lebensgefährte, der Schauspieler Ernst Stötzner, zu Hause ist. Die beiden sind einander nach wie vor freundschaftlich und geistig verbunden, und auch wenn sie nicht genau weiß, wie die Kaffeemaschine in seiner Küche funktioniert, ist das, was dabei herauskommt und wir schwarz und ohne Zucker trinken, ganz ordentlich.

Seit 2009 ist sie Mitglied im hochkarätigen Ensemble des Burgtheaters und nach Wien gezogen. Dort war ich mit ihr 2012 zu einem Interview für diese Zeitung in einem Kaffeehaus unweit des Akademietheaters verabredet, wo während der Wiener Festwochen für die Uraufführung von Peter Handkes "Die schönen Tage von Aranjuez" geprobt wurde. Ich musste ein bisschen warten, weil alle Beteiligten samt dem Regisseur Luc Bondy in ihrer Euphorie nicht auf die Uhr gesehen hatten. Dörte Lyssewski kam aufgekratzt lächelnd hereingefegt, bat um Entschuldigung für die Verspätung, wollte gern im Raucherbereich sitzen, wo sie sich eine Zigarette anzündete und einen großen Fruchtsaft bestellte. Alle Gäste hatten neugierig aufgeblickt, als die hochgewachsene, schlanke Rotblonde schwungvoll durch das Lokal eilte: Eine Erscheinung, ohne viel dafür zu tun. Von ihren eigenen literarischen Versuchen war damals noch mit keiner Silbe die Rede, stattdessen redete sie mit ihrer leuchtenden Altstimme über die Sprech-Spiel-Erfahrungen bei Handkes Stück: "Wie er es vermag, Gedanken und Gefühle so komplex zu beschreiben, das darf man ja nicht schmälern. Auf dieser Gratwanderung befinden wir uns gerade!" Jedes Wort klang gaumenklar in einer Mischung aus norddeutschem "Piefchinesisch", wie die Wiener sagen, und wienerischem Vokal-Overkill, wie es die Deutschen mögen.

Ohne dass sie sich selbst so bezeichnen würde, kann man Dörte Lyssewski mit Fug und Recht eine entschiedene Grenzgängerin nennen. Denn sie spielt nicht nur auf höchstem Niveau im deutschsprachigen Raum Theater, sie hat dies auch auf Französisch getan, als sie Luc Bondy 2005 nach Paris zur Uraufführung von Botho Strauß' "Viol" ("Schändung") einlud. Sie wusste, wie ablehnend das französische Publikum gegenüber Fremdsprachlern reagieren kann, doch es ging alles gut, sie blieb kein einziges Mal hängen und wurde gefeiert. Außerdem lässt sie sich immer wieder gern auf Musiktheaterproduktionen ein, wirkte etwa in den Sprechpartien von Debussys " Le Martyre de Saint-Sébastien", Honeggers "Jeanne d'Arc au bucher", Mozarts "Zauberflöte", Boesmans "Yvonne, Princesse de Bourgogne" oder "La Haine" von Victorien Sardou und Jacques Offenbachs mit.

Aber eigene Texte vorzutragen ist für sie trotz aller vielfältigen Erfahrungen etwas ganz anderes. Niemals habe sie solches Lampenfieber verspürt wie bei der Buchvorstellung von "Der Vulkan oder Die Heilige Irene" in Berlin. Der Verlag Matthes & Seitz hatte Freunde des Hauses eingeladen und für eine angenehme Atmosphäre gesorgt. Dörte Lyssewski fürchtete dennoch, ihr würde die Stimme wegbleiben. Das geschah nicht, nun freut sich auf die nächsten Auftritte.

So ungewöhnlich der Schritt von außen erscheinen mag, mit dem sie sich zur Autorin entwickelt hat, so folgerichtig ist er für sie selbst: "Ich sehe das als Ergänzung. Eigentlich bin ich immer auf der Suche - nur mit verschiedenen Mitteln. Ich vermute, wenn ich singen oder malen könnte, würde ich das auch tun, weil es wieder ein anderer Ausdruck wäre für das, was mich bewegt, was mich interessiert oder woran ich mich abarbeiten möchte: das Empfinden der Welt - und darüber Geschichten zu erzählen." Es ist nicht die Angst vor der Leere, die sie umtreibt, sondern die Lust an der Fülle, wenn sie sagt: "Ich würde gern tausend andere Dinge machen, die mich noch näher an das heranführen, was die Welt zusammenhält."

Suchen, weitermachen, nicht genügsam sein: Genauso ergeht es den Frauen in ihrem Buch, die es irgendwie aus dem Alltag geschleudert hat. Die eine ist von ihrem Freund verlassen worden, mit dem - und nur mit dem! - sie ein Kind haben wollte. Allein tritt sie die ursprünglich gemeinsam gebuchte Urlaubsreise an - ausgerechnet nach Samos, der Insel der griechischen Göttin Hera, wo es überall von Fruchtbarkeitssymbolen wimmelt. Eine andere Frau liebt ihren Bruder, der von ihr nichts mehr wissen will, nachdem sie ihm ihr Begehren gestanden hat. Die Erzählung heißt "Byblis", wie die mythologische Figur in den "Metamorphosen" des Ovid, der Ähnliches widerfuhr. Dörte Lyssewski zitiert bewusst die alten Griechen und deren Sagenkosmos, weil sie ihren Figuren eine literarische Fallhöhe geben möchte. "Das Absolute daran hat mich gereizt. Denken und Handeln haben bei ihnen Konsequenzen. Das ist Schicksal! Da gibt es keine Wahl. Deshalb ist es tragisch. Wenn es eine Wahl gibt, ist es nicht tragisch. Dann empfiehlt man ,Schlaf mal drüber' oder ,Mach 'ne Therapie!' Bei den alten Griechen hingegen gab es keine Therapiemöglichkeit."

Auch ihrer heutigen Byblis "geschieht es", dass sie sich in den Bruder verliebt - "das hat sie sich nicht ausgesucht". Weil sie einerseits nicht mehr leben, sich andererseits nicht töten kann, löst sie sich, wie ihre historische Verwandte, irgendwann in einem Strom von Tränen auf: "Es gab nichts mehr vor ihr, nichts hinter ihr. Von der ewigen Gegenwärtigkeit war sie in der Unendlichkeit angelangt. Kein Rückblick, keine Vorausschau." Bei Lyssewski passiert dies im Libanon, wo immer noch Zedern stehen, die mit ihren fünftausend Jahren älter sind als das meiste um uns herum. Das hat sie inspiriert, "damit rückt der Mythos näher".

Sie kennt die Schauplätze ihrer Texte gut, ob die Vulkaninsel Santorin, Samos, kleine österreichische Dörfer oder mancherlei unwirtliche Städte. Mehr biografische Bezüge gibt es allerdings nicht, sie hält strikt Abstand zwischen sich und der Literatur. Man merkt, dass sie sich Zeit gelassen hat, dass sie die Geschichten durchdringen wollte, nicht schnell ausplaudern. Sie hat sie zuerst mit Kugelschreiber in französische Schulhefte geschrieben, die sie stapelweise einkauft, wenn sie in Frankreich ist, weil sie deren enge Lineatur so liebt, denn "das weiße, leere Blatt macht mir Angst". Zum Beweis zieht sie ein Heft aus der Handtasche, "die sind so leicht, man kann sie einfach einstecken", blättert auf, und ich sehe die mit fließenden Schriftzügen gefüllten Seiten, denn sie sammelt, notiert, entwirft bereits Material für neue Texte.

Obgleich die Hauptpersonen der Erzählungen in ihrem Schmerz, ihrer Isolation und Verlorenheit verstörend und merkwürdig anmuten und die anderen drum herum meist skurril bis befremdlich wirken, zeichnet Dörte Lyssewski sie alle mit hoher Empathie. Spiegelt sich darin die Herangehensweise der Schauspielerin, die alle Figuren, die sie darstellt, zutiefst verstehen, verteidigen, ja lieben muss? "Nein", antwortet sie, "ich würde auch so schreiben, wenn ich keine Schauspielerin wäre. Diese Osmose gehört zum Schreiben dazu. Man denke nur daran, wie Flaubert - als Mann - die Perspektive vom Emma Bovary einnahm oder Tolstoi die von Anna Karenina. Große Dichter können sich in alle möglichen Figuren einfühlen. Ich möchte mich mit solchen Genies nicht vergleichen, aber ich verstehe den Ansatz. Dieses Hineinversetzen in andere hat mich schon als Kind an der Literatur fasziniert und tut es heute noch."

Der Kaffee wird kalt, der Aschenbecher füllt sich. Dörte Lyssewski strahlt und lacht und plauscht und redet, als wäre die ganze Welt ein Sprachspiel. Seit einem Jahr unterrichtet sie am Wiener Max-Reinhardt-Seminar. Was sie den Schauspielstudenten aus ihrem weiten Arbeitsfeld vermitteln will? "Vor allem dies", ruft sie in den sonnendurchfluteten Raum, "den Spaß am Denken! Wenn man den einmal kennengelernt hat, kann man damit nicht mehr aufhören, ob beim Frühstück oder vorm Einschlafen. Denken kann man immer und überall!"

IRENE BAZINGER

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.11.2015

Jeder stirbt für sich allein, auch ein Buch
Die Schauspielerin Dörte Lyssewski hat einen erstaunlichen Debütband vorgelegt – einen, der sich liest wie ein Spätwerk
Können Bücher sterben? Zum Beweis dafür ist Dörte Lyssewskis Band „Der Vulkan oder Die Heilige Irene“ mit vier in tiefer Finsternis verbundenen Erzählungen vortrefflich geeignet. Wie eine Bestatterin zieht die Autorin langsam einen dunklen Vorhang vor ihre Prosa und die Welt. Denn Dörte Lyssewski sieht schwarz. Da sind kaum noch Spuren von irgendeiner Art Lebendigkeit zu finden.
  Schon auf den ersten Seiten findet man sich auf einer Insel wieder, die über Jahrhunderte von einem wütenden Vulkan heimgesucht wurde. Sie ist verwüstet. „Selbst die Friedhöfe wirkten verwaist. Es gab nicht viele, die hier starben.“ Aber auch die Zivilisation zerstört die Insel durch surreale Bacchanale in zum Hotelgelände umgewandelten Höhlen, in denen Schwefeldämpfe zu Weihrauch werden.
  In größtmöglicher Lebensferne ereignet sich das Numinose. Wenn man das Buch nach abermals zwanzig Seiten wieder einmal erschöpft beiseite legt, hat man das Gefühl, es habe sich selber zugeklappt. Es wolle gar keine Leser, jedenfalls keine Lebenden. Jeder stirbt für sich allein, auch ein Buch. Dörte Lyssewskis Debüt als Erzählerin liest sich wie ein Spätwerk, ein Schlussstrich unter ihre Arbeit, die stets um schreibende Genauigkeit bemüht, allzu adjektivisch überfrachtet und dazu stets um Literarizität bemüht ist. Sie kämpft darum, uns ihren Albtraum als Wahrheit zu vermitteln, das Ende als des Pudels Kern. Es ist insofern ein erstaunliches Debüt, weil nirgendwo ein Anfang auszumachen ist.
  Dörte Lyssewski ist eine bekannte Schauspielerin, die mit Regisseuren wie Peter Stein oder Luc Bondy gearbeitet hat und seit Jahren am Wiener Burgtheater spielt. Ihr Bildungshintergrund bestimmt ihre Prosa genauso wie ihr Desinteresse am derzeit Gängigen. Und sie setzt auch nicht auf Autobiografisches, wie es bei ersten Arbeiten oft üblich ist, sondern zielt über den Tag hinaus.
  Sie erzählt von alleinreisenden Frauen, schickt sie in verlassene Landschaften oder in Klöster und macht aus der Enttäuschung ein Prinzip. An einer Frau, die in der Flugzeugkabine sitzend noch die schlichte Anmut zu verkörpern schien, entdeckt sie bei der Grenzkontrolle die wahre Person: der Körper unförmig, unrein die Haut, schlecht und schief die Zähne. Vom Schönen ist wieder einmal das Wahre geblieben, diesmal ein Fall für den Dentisten.
  „Byblis“ ist fast schon ein Kurzroman und führt aus einer Bruder-Schwester-Liebe in eine unwirtliche Welt, in Orte, die schweigen. „Sie verlor ihr Interesse an der Welt. Sie stürzte tiefer und tiefer in die Einsamkeit. Nichts und niemand hielt sie.“ Eigentlich war für sie der Grund zum Verreisen die fast zügellose Leidenschaft für ihren Bruder. Aber für Leidenschaft ist in dieser Sterbewelt kein Platz, und so verschwindet er schon bald aus der Erzählung. Was übrig bleibt, ist ein Hauptwort dieses Buches: Leere.
  „Der Weg“ ist die schönste Geschichte des Buches. Sie handelt von einem Hund. Selbstverständlich ist er todkrank, und Eiter läuft aus ihm heraus, während Nebelschwaden über dem Fluss hängen, der das Dorf durchzieht. Der Hund muss erleben, wie der Nachbarbauer Tiere mit Elektrostäben in einen Transporter treibt, Tiere, die ihren schmalen Platz im Stall noch nie verlassen durften. Er hört ihr „Todesgebrüll“ und „dem Hund schossen heiße Tränen in die Augen und rannen die Lefzen hinab.“
HELMUT SCHÖDEL
Dörte Lyssewski: Der Vulkan oder Die Heilige Irene. Erzählungen. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2015. 188 Seiten, 19,90 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Völlig bezirzt kommt Rezensentin Eva Behrendt zurück von ihrem Besuch bei der Schauspielerin Dörte Lyssewski, die gerade ihren ersten Erzählband veröffentlicht hat. Es geht, schreibt sie, in den vier Geschichten um den Tod, gesehen aus der Perspektive eines Kettenhundes, um eine frisch Getrennte, die im einsamen Urlaub von ihrem Kinderwunsch überwältigt wird, um Touristen "der globalen Mittelklasse", die sich auf einer griechischen Insel gegenseitig abschlachten, und um eine Frau, die sich nach der inzestuösen Liebe zu ihrem Bruder in eine Quelle verwandelt. Kulturpessimismus und Zivilisationsekel scheinen groß geschrieben, liest man die Schilderungen der Rezensentin. Die ist jedoch äußerst angetan, vor allem von der Sprache Lyssewskis, die altmodische Formulierungen mit zeitgenössischen mischt.

© Perlentaucher Medien GmbH