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Sich aus dem Staub machen. Frantz Morelli stürzt seine Matratze aus dem Fenster, zusammen mit Bündeln alter Manuskripte: biographische Skizzen, Wutausbrüche, Verwünschungen. Wer, fragt er, schüttet Treibstoff in die Watte, mit der die Wortführer auf der anderen Seite sich umgeben? Wer zündet sie an? Wer sorgt dafür, daß sie verschwinden?Ungeschrieben bleibt die Autobiographie, für die ihm ein gewisser Gregor Hellmann, ein Barpianist, dreitausend als Anzahlung bezahlt hat. Ungeschrieben, denn Morelli ist nicht mehr erreichbar. Hellmann klappert die Adressen ab, die ihm der betrügerische…mehr

Produktbeschreibung
Sich aus dem Staub machen. Frantz Morelli stürzt seine Matratze aus dem Fenster, zusammen mit Bündeln alter Manuskripte: biographische Skizzen, Wutausbrüche, Verwünschungen. Wer, fragt er, schüttet Treibstoff in die Watte, mit der die Wortführer auf der anderen Seite sich umgeben? Wer zündet sie an? Wer sorgt dafür, daß sie verschwinden?Ungeschrieben bleibt die Autobiographie, für die ihm ein gewisser Gregor Hellmann, ein Barpianist, dreitausend als Anzahlung bezahlt hat. Ungeschrieben, denn Morelli ist nicht mehr erreichbar. Hellmann klappert die Adressen ab, die ihm der betrügerische Ghostwriter in Form eines bis auf Einträge unter dem Buchstaben K ruinierten Telefonregisters hinterließ - Kaminski, Krohn, Kugelmann, Knallhardt, Korn, Klostermann, Krämer, Kálmán -, und hört sich Geschichten an, aus denen sich das Porträt eines Aufschneiders und Phantasten zusammensetzen ließe. Aber Morellis derzeitige Adresse? Fehlanzeige.Der unauffindbare Ghostwriter Morelli liefert nicht, sorgt aber dafür, daß der getäuschte Auftraggeber die Qualitäten eines freundlichen Geistes zu schätzen weiß. Dieser qualifiziert sich nicht nur als ferner Zauberer, sondern erweist sich als subtiler Kenner der Löschtaste. Alles bloß phantasiert?
Autorenporträt
Peter Neitzke ist Architekt, Autor, langjähriger Verlagslektor und Herausgeber. Er lebt in Zürich.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.05.2015

Was vom Adressbuch übrig blieb
Ästhetik des Untergangs: Peter Neitzkes Roman "Morelli verschwindet" über das Verhältnis von Kunst und Leben

Peter Neitzke starb am letzten Tag der diesjährigen Leipziger Buchmesse. Dort hatte sein Verlag gerade den Roman "Morelli verschwindet" präsentiert. Es ist erst der zweite, den Neitzke geschrieben hatte, beendet im Alter von sechsundsiebzig Jahren. Von Beruf Architekt und bekannt als ein westdeutscher Kommunist, der die Studentenbewegung zur Wiederbegründung der verbotenen KPD nutzen wollte, war er doch auch ein fanatisch neugieriger Leser. Und seit 2008, nach mehreren stadtsoziologischen Schriften, auch Romancier, Debütant im siebzigsten Lebensjahr mit "Schwarze Wände", in dem ein Architekt seine Bauten durch Sprengstoffattentate zerstört sieht - und sich damit arrangiert. Die Zusammenführung von ästhetischem und politischem Engagement war Peter Neitzkes lebenslanges Thema.

Peter Weiss ist sein Vorbild, auch typographisch, wie sein neuer Roman erweist. In "Morelli verschwindet" gibt es wie in der "Ästhetik des Widerstands" von Weiss keine Absätze; die einzelnen Kapitel bestehen aus bis in die letzten Winkel bedruckten Seiten, deren Text eine monolithische Kraft symbolisiert, die den Rang des Worts gegenüber der Gewalt behauptet. Frantz Morelli arbeitet in einem großen Architekturbüro, der an der Arbeitsatmosphäre ebenso leidet wie an den Aufträgen: "Könnte er sich zweiteilen, würd er, ja was würd er. Schreiben, glaubt er." Aber nur das, was ihn betrifft. Den Jazzmusiker Gregor Hellmann, den Morelli anheuern will, um sich seine Biographie schreiben zu lassen, betrügt er um die Anzahlung und verschwindet.

Aber das ist nur der Rahmen des Romans, sein erzählerischer Vorwand, um einen Text zu entwickeln, der essayistische Elemente mit impressionistischen, avantgardistische mit dokumentarischen verbindet, inklusive höchst sarkastischer Fußnoten, die aus dem Roman in die Realität ausgreifen. "Fundsachen" wiederum, kursiv gesetzt, bilden acht Kapitel, in denen Neitzke persönliche Reminiszenzen versammelt, die aus dem eigenen Erfahrungsraum in die Fiktion hineinragen. Er entwickelt aus diesem dialektischen Formspiel eine Erzählung ums Verhältnis von Kunst und Leben, in der nie angezweifelt wird, dass das eine ohne die andere nicht lebenswert ist. Und gleichzeitig ist das Leben der Maßstab, von dem die Kunst ihre wahre Bedeutung erst zugemessen bekommt: gegen die scheinbare Bedeutung von Beruf, Familie oder Gesellschaft. Morelli ist ein Einsamer, der ein neues Verständnis von Politischem und Künstlerischem lernen muss: Wahrheit darf sich nicht am Erfolg messen. Die Handlung spielt 2008, dem Jahr der Finanzkrise, was so wenig ein Zufall ist wie der einzige Anhaltspunkt, den Hellmann auf der Suche nach seinem verschwundenen Biographen besitzt: dessen Telefonverzeichnis, in dem nur noch die Einträge mit dem Buchstaben K enthalten sind.

Um Morelli zersetzt sich die Welt, und als Zufluchtsort wird am Ende die Transportkiste eines Konzertflügels taugen. Und die Literatur, wie sie Richard Hellfritz, ein alter Freund und kommunistischer Genosse Morellis, im Gespräch mit diesem als existentielles Prinzip beschreibt: "Du mußt einen Vertrag mit dir schließen und schreiben, wenn es dir ernst ist." Als Morelli ihn fragt, für wen er schreiben solle, antwortet Hellfritz: "Für dich. Nur für dich, für wen sonst, nicht für irgendjemand, der dein Buch drucken soll, oder für Leute, die es zufällig entdecken und vielleicht lesen."

So darf man sich auch die Entstehung von "Morelli verschwindet" vorstellen. Nur dass es ein Buch für uns geworden ist, die wir es zufällig entdeckt und gelesen haben.

ANDREAS PLATTHAUS.

Peter Neitzke: "Morelli verschwindet". Roman. Hablizel Verlag, Lohmar 2015. 141 S., br., 16,90 [Euro].

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