Marktplatzangebote
2 Angebote ab € 4,00 €
  • Broschiertes Buch

Port-au-Prince 2010: Das Anwesen der wohlhabenden Familie Bernier ist vom Erdbeben verschont geblieben, aber die Katastrophe erschüttert ihr Leben dennoch. Alexandre, der älteste Sohn, leidet an Schizophrenie. Die Anstalt, in der er 40 Jahre gelebt hat, muss schließen, die Familie hat 48 Stunden, um ihn nach Hause zu holen. Seine Rückkehr verändert das Leben aller Hausbewohner, von der über achtzigjährigen Mutter bis zum Dienstpersonal. Verschüttete Erinnerungen treten wieder zu Tage, hinter den Konflikten in einer Familie treten die Risse der haitianischen Gesellschaft zutage.

Produktbeschreibung
Port-au-Prince 2010: Das Anwesen der wohlhabenden Familie Bernier ist vom Erdbeben verschont geblieben, aber die Katastrophe erschüttert ihr Leben dennoch. Alexandre, der älteste Sohn, leidet an Schizophrenie. Die Anstalt, in der er 40 Jahre gelebt hat, muss schließen, die Familie hat 48 Stunden, um ihn nach Hause zu holen. Seine Rückkehr verändert das Leben aller Hausbewohner, von der über achtzigjährigen Mutter bis zum Dienstpersonal. Verschüttete Erinnerungen treten wieder zu Tage, hinter den Konflikten in einer Familie treten die Risse der haitianischen Gesellschaft zutage.
Autorenporträt
Kettly Mars, geboren 1958 in Port-au-Prince, Haiti, erhielt eine klassische Schulbildung und arbeitete als Verwaltungsangestellte. Ab den 90er Jahren wurde sie in Haiti als Lyrikerin bekannt. Es folgten Prosawerke, die internationale Anerkennung fanden.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 23.02.2016

Nach oben offene Schockwellen-Skala
In ihrem neuen Roman „Ich bin am Leben“ schildert Kettly Mars die Folgen des Erdbebens in ihrer Heimat Haiti
Das Erdbeben, das im Januar 2010 die Region um Haitis Hauptstadt Port-au-Prince verwüstete, mehr als 300 000 Opfer forderte und zwei Millionen Haitianer zu Obdachlosen machte, war eine weitere Station in der langen Abfolge von Menschenhand oder durch die Natur verursachter Katastrophen, welche die seit 1804 erste freie Sklavenrepublik der Welt geprägt haben. Die haitianische Autorin Kettly Mars beschrieb damals in ihrem Roman „Vor dem Verdursten“, wie die weitgehend zerstörte Innenstadt von Port-au-Prince von Obdachlosen bevölkert und die hastig errichteten Hilfscamps schon bald zu Brutstätten der grassierenden Cholera-Epidemie wurden, und zum Rückzugsgebiet für Kriminelle, Kinderhändler und andere Profiteure der Katastrophe.
  Fünf Jahre später deutet Kettly Mars in ihrem neuen Roman „Ich bin am Leben“ immerhin eine Zukunft des Landes an, wie ungewiss und trübe sie auch sein mag. Die Hilfsorganisationen sind längst wieder abgezogen, die von Bill Clinton versprochenen Milliarden-Hilfen ist nie angekommen. „Nach dem Schock gab es eine Welle der Solidarität“, sagt Kettly Mars über die Zeit nach dem Beben. „Wir wollten damals daran glauben, dass unser Land, unsere Gesellschaft endlich aufsteht. Aber es gab keine Führungspersönlichkeit, die den Moment genutzt hätte, zum Zusammenhalt aufzurufen, keinen politischen Appell.“
  Die haitianische Gesellschaft ist traditionell gespalten zwischen den Nachfahren der Kolonialherren aus Spanien und Frankreich und den Abkömmlingen der aus Westafrika importierten Sklaven. Kettly Mars verdichtet diese Konstellation im Schauplatz ihres Romans, dem Anwesen der großbürgerlichen Familie Bernier. Es ist, anders als viele Villen der Hauptstadt, vom Beben verschont geblieben, dennoch zeitigt die Katastrophe auch hier ihre Folgen. Das Heim, in dem Alexandre, der älteste, an Schizophrenie leidende Sohn der Familie seit vierzig Jahren lebt, wird wegen der Cholera-Epidemie geschlossen, die Berniers müssen ihn nach Hause holen. Er spricht kaum ein Wort, in einem Bungalow neben dem Herrenhaus hängt er allein seinen Fantasien nach, aber seine Rückkehr schürt in der Familie diffuse Ängste vor seiner Krankheit und ruft Erinnerungen an die Vergangenheit herauf.
  Nach dem Tod des Familienoberhauptes Francis Bernier, der seine gesellschaftliche Stellung und seinen Posten als Präsident der Anwaltskammer bereits unter der Diktatur der Duvaliers verlor, hält seine Frau Eliane den bürgerlichen Lebensstandard durch den Verkauf von Landgütern aufrecht. In inneren Monologen rekonstruiert die alternde Hausherrin den Machtkampf zwischen ihrem verstorbenen Ehemann und dem kranken Sohn Alexandre: dessen Kampf gegen die Diktatur, seine Verhaftung und Misshandlung durch die Geheimpolizei und die klammheimliche Abschiebung in die Psychiatrie zum Schutz seiner selbst und der Familie.
  Alexandres Schwester Marylène wiederum hat wie so viele Künstler und Intellektuelle ihre Heimat rechtzeitig verlassen und eine internationale Karriere als Malerin gemacht. Seit ihrer Rückkehr nach Haiti kehrt sie die Überreste der dreißigjährigen Schreckensherrschaft und die Scherben der einst stolzen Familie Bernier zusammen. So unaufgeregt wie eindringlich zeigt Kettly Mars, die selbst die ersten dreißig Jahre ihres Lebens unter dem Duvalier-Regime verbrachte, was die Angst vor der Geheimpolizei in der Intimität einer Familie anrichtete, wie man sich mit der Diktatur arrangierte oder eben nicht und dabei um sein Leben fürchten musste. In ihrem Roman braucht es das schwerste Beben in der Geschichte des amerikanischen Kontinents, um die verschwiegene Vergangenheit wieder ans Tageslicht zu bringen.
  Auch die größtenteils noch heute unter archaischen Umständen lebende Landbevölkerung Haitis, die der schlimmsten Armut im Hinterland zu entkommen und in der Hauptstadt ein Auskommen zu finden versucht, hat ihren Platz in diesem Familien- und Gesellschaftsroman. Ecclésiaste, der Pfleger des schizophrenen Alexandre, ergreift eines Tages die Flucht vor den beängstigenden Symptomen des Patienten, die ihn an die Verhexungen und Flüche erinnern, von denen die Alten in seinem Dorf ihm erzählten. Die junge Norah wiederum, die der Malerin Marylène Modell steht, ist ein Mädchen aus dem Volk, das sich mit kleinen Jobs und Liebeleien über Wasser hält und mit einem ebenso kritischen wie berechnenden Blick auf die großbürgerliche Familie ihre erotischen Reize profitabel einzusetzen weiß.
  Wie Kettly Mars die verkrusteten Strukturen der haitianischen Gesellschaft im Mikrokosmos des Anwesens der Berniers spiegelt, ist ein beeindruckendes Stück Literatur aus einem Land, das trotz einer Analphabeten-Quote von über achtzig Prozent eine äußerst lebendige literarische Szene unterhält. Die Vielstimmigkeit und die kaleidoskopische Collage sich überlagernder Handlungsstränge prägt wie bei nicht wenigen Autoren aus Haiti auch bei Kettly Mars das Erzählen. Kapitel für Kapitel wechselt sie die Erzählperspektive, verwebt Individuum, Gesellschaft und Vergangenheit zu einem System kommunizierender Röhren und deckt Schicht um Schicht die verborgenen Erinnerungen, verschwiegenen Dramen und Ängste auf.
  Bis zum Ende wird das Schweigen nicht gebrochen, doch immerhin scheint die Rückkehr des kranken Alexandre eine emotionale Erstarrung zu lösen. „Ich bin am Leben“ – das sind die einzigen Worte, die Kettly Mars am Ende des Romans dem schizophrenen Alexandre in einem klaren Moment in den Mund legt. Sie lässt damit ein ganzes Volk sprechen, das sich ungeachtet aller Unglücke und Rückschläge die Hoffnung auf eine bessere Zukunft nicht nehmen lässt.
CORNELIUS WÜLLENKEMPER
Die ältere Generation ist
abgetreten, aber die Erinnerung
an die Diktatur schwelt weiter
    
    
    
            
Kettly Mars: Ich bin am Leben. Roman. Aus dem Französischen von Ingeborg Schmutte. Litradukt Literatureditionen, Trier 2015.
128 Seiten, 12,90 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Tief beeindruckt hat Cornelius Wüllenkemper Kettly Mars' Roman "Ich bin am Leben" gelesen, der am Beispiel der großbürgerlichen Familie Bernier von den Folgen des Erdbebens im Jahre 2010 und den erstarrten Strukturen in Haiti erzählt. Im Gegensatz zum Vorgänger-Roman "Vor dem Verdursten" erkennt der Kritiker hier zwar erste Anzeichen von Hoffnung, liest aber auch erschüttert, wie wenig der versprochenen Hilfsangebote Haiti letztendlich erreichten. Zugleich erlebt er in diesem eindringlichen Familien- und Gesellschaftsroman den Untergang der Familie Bernier unter dem Duvalier-Regime und beobachtet gebannt, wie das Erdbeben und die Rückkehr des schizophrenen Sohnes Alexandre das anhaltende Schweigen und die emotionale Erstarrung aufzubrechen beginnen. Wie ruhig, vielstimmig und bewegend die haitianische Autorin davon erzählt und wie gelungen sie individuelle mit gesellschaftlichen Schicksalen verwebt, ringt dem Rezensenten höchste Anerkennung ab.

© Perlentaucher Medien GmbH