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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.02.2009

Mit Gottes Bleistift

Seit der Staatsgründung 1804 macht Haiti vor allem durch Tragödien von sich reden. Das Land ist bitterarm, gleichwohl gibt es eine lebendige Kulturszene - ein literarischer Streifzug durch die Insel.

Literatur aus und über Haiti hat es schwer im deutschen Sprachraum, wo die Frankophonie als Brücke fehlt. Kreolische Wörter wie "Lavalas", Erdrutsch oder Überschwemmung, sind hierzulande unbekannt: So hieß die Massenbewegung, die den Armenpriester Aristide ins höchste Staatsamt katapultierte - und wieder hinaus. Nur wenige wissen, dass Haiti die zweitälteste Republik Amerikas ist, wo, anders als in den Vereinigten Staaten, nicht Kolonialherren, sondern Sklaven ihre Freiheit und Unabhängigkeit erkämpften. Napoleons Niederlage in Saint Domingue, die Frankreich seiner wertvollsten Kolonie beraubte, kommt in unseren Geschichtsbüchern nicht vor, obwohl sie der Niederlage in Russland vergleichbar ist und Napoleon zwang, seine Expansionspläne ad acta zu legen und Louisiana an die Vereinigten Staaten zu verkaufen. Seit befreite Sklaven 1804 die Inselrepublik gründeten und auf ihren alten indianischen Namen tauften, ist Haiti ein gescheiterter Staat, der nur durch Boat-People, Aids, Hungerrevolten und Hurrikane Schlagzeilen macht und faktisch unter UN-Vormundschaft steht. Die Kehrseite der materiellen Armut ist der Reichtum der vom Voodoo-Kult inspirierten Kunst, Musik und Literatur, die Port-au-Prince neben Havanna zur Kulturmetropole der Karibik werden ließen.

Wer sich aus erster Hand informieren möchte, der findet in den von Peter Trier übersetzten Büchern des Litradukt Verlags reiches Anschauungsmaterial. Aus der auf mehrere Titel angewachsenen Buchreihe seien hier zwei herausgegriffen. "Und wenn Haiti den USA den Krieg erklärt?" von Georges Anglade ist eine brillante Politsatire, die auf der ebenso verblüffenden wie einleuchtenden Idee beruht, unter Haitis Kontinentalschelf würden ergiebige Ölvorkommen entdeckt, die den Habenichts über Nacht zum Zankapfel der Weltpolitik machen. Das Ganze ist nur ein Bluff, um Washington zu militärischem Eingreifen zu bewegen, damit, ähnlich wie im Irak und anderen Aggressionszielen, ein Geldsegen auf Haiti niedergeht: "Alle blickten starr zum Himmel in der Hoffnung auf ein Zeichen oder sonst etwas, seien es auch Bomben oder Fallschirmjäger. Wählerisch sein kam nicht in Frage, man nimmt, was runterkommt, mitsamt den dazugehörigen Kollateralschäden."

Georges Anglade ist gelernter Geograph und war Minister unter Jean-Bertrand Aristide, den er nach dessen Sturz ins nordamerikanische Exil begleitete. Der Autor kennt sich aus in den Kulissen der Politik und karikiert die Schwächen der Mächtigen mit ins Schwarze treffendem Humor: "Er konnte sich des Gedankens nicht erwehren, dass Petroleum ein Öl mit Wunderheilungskräften war, wert, in den Läden von Lourdes verkauft zu werden." Dass die Sache nicht gut enden wird, ist von der ersten Seite an klar, aber die abstrusen Verwicklungen und der hanebüchene Höhepunkt, auf den der Konflikt zusteuert, sollen hier nicht verraten werden.

Aus anderem Holz geschnitzt ist der Roman "Gottes Bleistift hat keinen Radiergummi" von Louis-Philippe Dalembert, der Haiti in jungen Jahren verließ und als nomadisierender Schriftsteller in Paris ebenso wie in Rom und Tel Aviv zu Hause ist. Die im Roman geschilderte Rückkehr aus dem Exil wird zur Suche nach der verlorenen Kindheit auf den Spuren eines väterlichen Freunds, der von Beruf Schuhputzer war und sich Faustin I. nannte - in Anlehnung an den gleichnamigen Kaiser Haitis um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts. "Jeden Abend setzte er sich, bewaffnet mit einem Hanfseil und einem zum Angelhaken gebogenen Nagel, ans Flussufer, um den Mond zu angeln, der sich darin spiegelte." Der soziale Abstieg vom Imperator zum Clochard drückt den Niedergang Haitis, das im Roman Salbounda (Dreckloch) heißt, von der Perle der Antillen zum Hinterhof der Karibik aus. Die Ironie liegt darin, dass der frühere Kaiser nach seiner Rückkehr aus dem Exil im Hafenviertel von Port-au-Prince verschüttging, wo sein Wiedergänger als Schuhputzer arbeitet und die Erinnerung an Haitis glorreiche Vergangenheit mit Alkohol betäubt.

Die Devise von Faustin I., "Bajonette sind aus Eisen, Verfassungen aus Papier", hatte auch für dessen diktatorisch regierende Nachfolger Gültigkeit, insbesondere für "Papa Doc" Duvalier, im Roman "Der Ehrenwerte" genannt, unter dessen Schreckensregime der Autor aufwuchs, bevor er Haiti den Rücken kehrte. Schon damals schien es, als sei der Tiefpunkt erreicht, doch erst nach dem Sturz der Diktatur ging das Land den Bach hinunter, buchstäblich und nicht im übertragenen Sinn: Die Arbeitslosigkeit ist so hoch wie die Analphabetenrate, und das Durchschnittseinkommen liegt bei einem Dollar am Tag. Haiti rangiert am unteren Ende jedweder Statistik, wie der Autor ohne erhobenen Zeigefinger und ohne selbstgerechte Empörung konstatiert, in einer poetischen Prosa, die dem großen Gedicht von Aimé Césaire "Cahier d'un retour au pays natal" näher steht als der "Recherche" von Proust: "Sie hatten die letzte Kurve ihres Menschenweges genommen. Sie mussten das Licht nicht löschen, denn es gab keins. Vielleicht hatte es in ihrem Leben niemals eins gegeben. Sie mussten auch die Tür nicht schließen, es gab nichts zu stehlen in diesen Baracken, die über keine Tür verfügten. Sie waren einer nach dem anderen gegangen. Ohne eine Adresse oder eine Nachricht zu hinterlassen ..."

HANS CHRISTOPH BUCH

Georges Anglade: "Und wenn Haiti den USA den Krieg erklärt?" Aus dem Französischen von Peter Trier. Litradukt Literatureditionen Peter Trier, Kehl 2007. 100 S., br., 9,90 [Euro].

Louis-Philippe Dalembert: "Gottes Bleistift hat keinen Radiergummi". Roman. Aus dem Französischen von Peter Trier. Litradukt Literatureditionen Peter Trier, Kehl 2008. 200 S., br., 16,80 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Ein klein bisschen nach Prousts "Recherche" klingt es für Hans Christoph Buch, wenn sich der Kosmopolit Louis-Philippe Dalembert in seinem Roman auf die Suche nach einer verlorenen Kindheit in Haiti macht. Buch entdeckt in der Geschichte um den Schuhputzer Faustin I. eine Parabel auf den Niedergang des Inselstaates. Lesbar erscheint diese Prosa dem Rezensenten aufgrund ihrer Poesie (hier fühlt sich Buch eher an Cesaire erinnert denn an Proust) und weil der Autor es fertig bringt, sein marodes Land ohne Zeigefingermentalität oder sonstwie geartete Selbstgerechtigkeit zu beschreiben.

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