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Kategoriale Grenzkonstruktionen wie gesund/krank oder Leben/Tod dienen der Orientierung und Entscheidungsentlastung in der Medizin. Nun ergeben sich nicht zuletzt im Zuge des biowissenschaftlichen Fortschritts Überforderungen dieser institutionalisierten Entscheidungskonventionen und damit neuartige Entscheidungs- und Gestaltungszwänge.

Produktbeschreibung
Kategoriale Grenzkonstruktionen wie gesund/krank oder Leben/Tod dienen der Orientierung und Entscheidungsentlastung in der Medizin. Nun ergeben sich nicht zuletzt im Zuge des biowissenschaftlichen Fortschritts Überforderungen dieser institutionalisierten Entscheidungskonventionen und damit neuartige Entscheidungs- und Gestaltungszwänge.
Autorenporträt
Alexander Bogner, geb. 1969, arbeitet am Institut für Technikfolgen-Abschätzung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Arbeitsschwerpunkte: Wissenschafts- und Technikforschung, Methoden empirischer Sozialforschung.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.02.2006

Frauen fragen, Ärzte antworten
Alexander Bogner über Grenzen der pränatalen Diagnostik

In den vergangenen Jahren ist heftig über die Zulassung der Präimplantationsdiagnostik (PID) gestritten worden. Von größerer praktischer Bedeutung als diese Untersuchungsmethode, die schon aus Kostengründen allenfalls in einigen hundert Fällen pro Jahr in Betracht käme, ist die Pränataldiagnostik (PND). Darunter versteht man die Untersuchungen und Tests, die während der Schwangerschaft über die Entwicklung des Fötus angestellt werden.

Ultraschalluntersuchungen in verschiedenen Stadien der Schwangerschaft, der Triple-Test - eine Blutuntersuchung bei der schwangeren Frau, bei der nach Hinweiszeichen für eine Normabweichung gesucht wird - und gegebenenfalls eine Fruchtwasseruntersuchung, bei der Zellen des Ungeborenen gewonnen und dann analysiert werden, gehören zum Standardprogramm der medizinischen Betreuung Schwangerer. Indessen stellen sich dabei ähnliche ethische Probleme wie bei der PID. Dieser wird vorgeworfen, sie führe zu einer Eugenik durch die Hintertür. Gilt das gleiche nicht auch für die PND? Ermöglicht nicht auch sie eine Selektionspraxis, die auf der Unterscheidung zwischen lebenswürdigem und lebensunwürdigem Leben beruht?

Was Philosophieprofessoren, Bischöfe und Justizminister zum Thema der Humangenetik zu sagen haben, ist bekannt. Wie aber reflektieren die in ihrer täglichen beruflichen Praxis mit der PND befaßten Mediziner selbst ihr Handeln? Dieser Frage ist der Wiener Soziologe Alexander Bogner nachgegangen. Die Interviews, die er geführt hat, lassen sich auch als ein eindruckvolles Kapitel der Medienforschung lesen. Seine Gesprächspartner tun in der Tat das, was man von intelligenten Zeitungslesern erwarten kann: Zur Rechtfertigung der pränatalen Diagnostik bedienen sie sich aus dem Arsenal der in der öffentlichen Diskussion zusammengetragenen Argumente. Vor allem bestehen sie darauf, daß strikt unterschieden werden müsse zwischen den von ihnen bereitgestellten Informationen und deren Verwendung, sei es durch die Politik oder die einzelne schwangere Frau. Ob diese beispielsweise auf die Diagnose eines Down-Syndroms mit dem Entschluß zur Abtreibung reagiert oder ob sie beschließt, das Kind auszutragen, ist - so die Quintessenz des Arguments - allein ihre Angelegenheit und nicht dem Verantwortungsbereich des Arztes zuzurechnen.

Dieser Selbstinterpretation seiner Gesprächspartner schließt Bogner sich erstaunlich unkritisch an. Seiner Auffassung nach ist die Humangenetik dadurch gekennzeichnet, daß sie dem traditionellen Paternalismus der Medizin, der in der Sicherheit wurzle, die bestmögliche Lösung für ein eindeutiges Problem zu liefern, den Boden entzieht. "In jenem Kontinuum von lebensfähigen Behinderungen, die quantitativ den größten Teil der Pränataldiagnostik ausmachen, lassen sich auf der Basis medizinischen Wissens allein keine ,Zäsuren' schaffen, die an eine bestimmte Handlungsstrategie gebunden wären." Deshalb komme es in diesen Fällen zu einer "eminenten Aufwertung der Ethik" und zu einer "neuen Symmetriebeziehung zwischen Arzt und Patient".

Der Arzt könne gegenüber der Schwangeren Überlegenheit zwar im Hinblick auf sein medizinisches Fachwissen, nicht aber in bezug auf seine moralische Urteilsfähigkeit in Anspruch nehmen. "Die expertielle Gestaltungsmacht löst sich auf" und wird - so Bogner - im Namen der Moral auf die Schwangere selbst verlagert. Die Folge sei eine "Relativierung des Expertenstatus bei gleichzeitigem Anwachsen der sozialen Bedeutung von Expertenwissen".

Als Analyse eines semantischen Befundes ist dies sicherlich richtig. Aber was ist der von Bogner diagnostizierte Autonomiezuwachs auf seiten der Schwangeren praktisch wert? Hier erscheint ein eher soziologisch orientierter Ansatz ergiebiger, wie ihn zum Thema der Pränataldiagnostik etwa Elisabeth Beck-Gernsheim in zahlreichen Veröffentlichungen ausgearbeitet hat. Bogner erkennt zwar, daß die biopolitische Individualisierung für die betroffenen Individuen selbst problematisch ist. Einerseits seien diese "durch die Vermittlung von genetischem Wissen aufgefordert und gezwungen, Verantwortung zu übernehmen", andererseits realisiere sich die ihnen zugemutete Entscheidungsautonomie in einem sozialen Raum, der durch zahlreiche institutionelle Regeln und Zwänge strukturiert und begrenzt sei. Bogner versäumt es aber, diesen Zwängen näher nachzugehen, um so das tatsächliche materielle Substrat der Autonomierhetorik zu ermitteln.

Anknüpfungspunkte für eine solche Untersuchung gäbe es zur Genüge. Kann etwa ein Arzt, der sich von der strengen Haftungsrechtsprechung des Bundesgerichtshofes - Stichwort: "Kind als Schaden" - bedroht weiß, es wirklich riskieren, sich auf jene Rolle als "objektiver, unparteiischer Aufklärer" zurückzuziehen, die ihm Bogner im Vorgriff auf eine "zukünftig sich etablierende Beratungsmedizin" zuschreibt? Wird ein um seine wirtschaftliche Existenz besorgter Arzt nicht vielmehr, um auf Nummer Sicher zu gehen, bei ungünstiger oder zweifelhafter Diagnose den Schwangerschaftsabbruch nahelegen?

Noch instruktiver wäre es, zu untersuchen, wie ausgeprägt jenseits der Sonntagsreden und Allgemeinplätze die gesellschaftliche Akzeptanz behinderten Lebens tatsächlich ist. Konkret gefragt: Wie hoch ist der Anteil der Schwangeren, die ihr mit dem Down-Syndrom oder einem anderen genetischen Defekt behaftetes Kind nicht abtreiben lassen? Haben sich nicht längst soziale Erwartungshaltungen eingespielt, die in solchen Fällen zumeist nur eine Entscheidung plausibel erscheinen lassen, nämlich den Abbruch der Schwangerschaft?

Bogner beschränkt sich demgegenüber auf ein Plädoyer für den "Ausbau zivilgesellschaftlicher Foren", die eine Reflexion "auf jene handlungsleitenden Diskurse, Begriffe, Menschenbilder" forcieren könnten, "die uns die Normalisierung von Humangenetik und Pränataldiagnostik als ganz normal erscheinen lassen". Was er sich darunter im einzelnen vorstellt, verrät er leider nicht.

Was man ohnehin vermutet hätte - daß die medizinischen Experten ihre Tätigkeit nicht anhand esoterischer Privatphilosophien, sondern weitgehend im Einklang mit den gesellschaftlich bereitgestellten Deutungsmustern reflektieren -, hat man somit nach der Lektüre von Bogners Buch schwarz auf weiß. Was man gern gewußt hätte - wieviel die Rede von der Patientenautonomie in der Praxis wert ist -, weiß man hingegen noch immer nicht.

MICHAEL PAWLIK

Alexander Bogner: "Grenzpolitik der Experten". Vom Umgang mit Ungewißheit und Nichtwissen in pränataler Diagnostik und Beratung. Verlag Velbrück Wissenschaft, Weilerswist 2005. 242 S., br., 28,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Hart ins Gericht geht Rezensent Michael Pawlik mit dem Konzept und der Fragestellung des Soziologen Alexander Bogner. Seine Interviews mit Medizinern zur moralischen Bewertung der Pränataldiagnostik ergäben nicht mehr als man ohnehin erwarten könne, nämlich die Argumente der öffentlichen Diskussion in den Medien. Wenn die Mediziner, so der Rezensent, Abtreibung als "Angelegenheit allein" von Eltern ansehen würden, sei dies verständlich, wenn sich aber auch der Autor der "Selbstinterpretation seiner Gesprächspartner" anschließe, mahnt der Rezensent dies als "erstaunlich unkritisch" an. Denn die "Autonomierhetorik" von einer "neuen Symmetriebeziehung zwischen Arzt und Patient" verlange nach einer soziologisch kritischen Analyse der realen materiellen, gesellschaftlichen und institutionellen Zwänge, unter denen die vermeintlich autonomen Entscheidungen von Müttern getroffen werden müssten. Als Beispiele verweist der Rezensent auf die materiellen Sorgen der "unparteiischen" Ärzte und auf die "tatsächliche Akzeptanz behinderten Lebens". Auch wenn der Autor für einen "Ausbau zivilgesellschaftlicher Foren" eintrete, möchte der Rezensent gerne genauer wissen, was darunter und auch unter einer "Normalisierung von Humangenetik und Pränataldiagnostik" zu verstehen sei.

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