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Tarkowskis PferdeIn der Schönheit eines Pferdesauf einer sonnenbeschienenenWeide,an der ich im Zug vorüberfahre,wenige Tagenach dem Todes meines Vaters - sehe ich ihn plötzlich wieder. Ein Déjà-vu kann eine Flut von Erinnerungen auslösen, wie spätestens Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit literarisch beeindruckend belegt. Für Pia Tafdrup ist der Anblick grasender Pferde in der letzten Sequenz von Andrej Tarkowskis Film Andrej Rubljow ein solcher Moment: Nachdem sie Studenten in Jütland ihren Lieblingsfilm gezeigt hat, erblickt sie auf der Rückfahrt zufällig das gleiche Motiv…mehr

Produktbeschreibung
Tarkowskis PferdeIn der Schönheit eines Pferdesauf einer sonnenbeschienenenWeide,an der ich im Zug vorüberfahre,wenige Tagenach dem Todes meines Vaters - sehe ich ihn plötzlich wieder. Ein Déjà-vu kann eine Flut von Erinnerungen auslösen, wie spätestens Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit literarisch beeindruckend belegt. Für Pia Tafdrup ist der Anblick grasender Pferde in der letzten Sequenz von Andrej Tarkowskis Film Andrej Rubljow ein solcher Moment: Nachdem sie Studenten in Jütland ihren Lieblingsfilm gezeigt hat, erblickt sie auf der Rückfahrt zufällig das gleiche Motiv aus dem Zugfenster und plötzlich "ist mein Vater zugegen" - der kurz zuvor gestorben ist. Tafdrup schildert das Erlebnis im Titelgedicht des vorliegenden Bandes, das gleichzeitig das Schlussgedicht ist. Danach stürzen die Erinnerungen auf sie ein, und sie schreibt diesen klar-analytischen wie ergreifenden Zyklus über Demenz und Tod des verehrten Vaters: die Gespräche mit ihm, die Erinnerungen an ihre Kindheit und Jugend, seine zunehmende Verwirrtheit und ihre eigene Hilflosigkeit. Pia Tafdrup gehört zu den bedeutendsten Lyrikern Dänemarks. Viele ihrer Gedichte erschienen in deutscher Übersetzung in Zeitschriften und Anthologien. Tarkowskis Pferde ist ihre erste Buchveröffentlichung in deutscher Sprache.
Autorenporträt
Pia Tafdrup, geb. 1952 in Kopenhagen, studierte Dänisch und Sportwissenschaft in Kopenhagen, wo sie auch lebt. Sie debütierte 1981 und schrieb bis heute zwei Romane und 17 Gedichtbände. Sie ist Mitglieder der Dänischen Akademie und erhielt u.a. den Literaturpreis des Nordischen Rates und den Nordischen Preis der Schwedischen Akademie.

Peter Urban-Halle, geb. 1951 in Halle/Saale, studierte Germanistik und Skandinavistik in Berlin und Kopenhagen. Er lebt als Literaturkritiker und Übersetzer in Berlin. Er erhielt u.a. den Förderpreis den Europäischen Übersetzerpreises Offenburg und den Dänischen Übersetzerpreis.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 23.01.2018

Mindestens eine Wunde hat der Körper immer
Aus der Dunkelkammer: Pia Tafdrups Gedichtband „Tarkowskis Pferde“
Es fehlt nicht viel, und wir können dem, was wir salopp „Demenzliteratur“ oder auch „Alzheimer-Literatur“ nennen, den Status eines eigenen Genres zuerkennen. Wenn ein Mensch seine Erinnerungen und sein Gedächtnis verliert, in einem langsam oder rasch fortschreitenden Prozess, scheint es für diejenigen, die ihn lieben, hilfreich zu sein, diesen Vorgang literarisch zu verarbeiten und so etwas von der Persönlichkeit des Erkrankten festzuhalten, die ihnen unaufhaltsam entgleitet.
Gewiss spielt dabei eine Rolle, dass das Demenzleiden oft Äußerungen und Verhaltensweisen hervorbringt, in denen sich eine eigene poetische Dimension entdecken lässt. Im deutschsprachigen Raum gehören Arno Geiger, Martin Suter und Gerhard Köpf zu den bekanntesten Autoren, die sich des Themas erzählend angenommen haben. In der Sphäre der Lyrik fühlen sich bislang vor allem die Slam-Poeten zuständig: „Geblitzdingst“ heißt ein vor anderthalb Jahren erschienener Band, der auch die komische Seite des Phänomens beleuchtet .
In Dänemark hat Pia Tafdrup, 1952 geboren und eine der bekanntesten Lyrikerinnen des Landes, vor zwölf Jahren mit dem Gedichtzyklus „Tarkowskijs heste“ ihrem verstorbenen und zuvor lange demenzkranken Vater ein literarisches Denkmal gesetzt. Der Band „Tarkowskis Pferde“, einfühlsam übertragen von Peter Urban-Halle, ist nach zahlreichen in Zeitschriften oder Anthologien verstreuten Texten nun das erste Werk der Autorin, das vollständig auf Deutsch vorliegt. Aus dem Nachwort des Übersetzers erfahren wir, dass eine Wohnung im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg der „Geburtsort“ des Zyklus’ war. Dort, in der „Dunkelkammer in der Immanuelkirchstraße“ (so lautet der erste Gedichttitel), entstand etwa einen Monat nach dem Tod des Vaters ein Großteil der Entwürfe, unter dem Ansturm von Reminiszenzen und Emotionen, die das Persönliche ins Mythische überhöhen: „Soll Eurydike ihren/ toten Vater holen – / wie Orpheus singen/ vom Verlornen?/ Eurydike, die Erinnerung,/ die Eruption./ Eh die Schlange in der Sonne/ zuschnappte,/ hatte Eurydike doch ein Leben.“
Diese Gedichte, die in freien Versen den Raum zwischen Transzendenz und physisch-sinnlicher Erfahrung bespielen, scheuen das Pathos nicht, sondern gehen wie selbstverständlich damit um. Mit dem gleichen entschlossenen Zugriff vergegenwärtigen sie die schwindende Alltagstauglichkeit eines Bewusstseins, in das sich die Dichterin immer wieder hineinzuversetzen sucht, um den rätselhaften und bedrohlichen Vorgang zu verstehen: „So simple Dinge wie Brieftaschen/ sind plötzlich futsch,/ und Hut und Handschuh verschwunden/ spurlos wie Regen auf Wasser./ Das Licht zögert./ Und wo sind Adresse und Telefonnummer/ der Eltern meiner Mutter?/ (sie sind ja tot).“
Siebzehn Gedichtbände hat Pia Tafdrup veröffentlicht, außerdem Dramen, Hörspiele und zwei Romane. In den Achtzigerjahren gehörte sie zu jener Gruppe junger dänischer Lyriker, die der Kritiker Erik Skyum-Nielsen als „Körpermodernisten“ bezeichnete, weil in ihren Texten der Körper als letzter existenzieller Freiraum, als Erlösungsmedium und als „Feld des Fatalen“, wie es im Nachwort heißt, von zentraler Bedeutung ist. Davon kündet auch diese kleine Szene, die sich der Dichterin ins Gedächtnis geschrieben hat: „ Mindestens eine Wunde hat der Körper immer, / sagte mein Vater vorm Spiegel,/ wo er seinen Schlips band,/ als ich zum ersten Mal/ Blut strömen sah/ aus meinem aufgeschlagenen Knie./ – Mindestens eine Wunde hat der Körper immer,/ ist, wie ich mich erinnere, der erste ganze Satz,/ den mein Vater an mich richtete,/damals als ich eben angefangen hatte,/ die Welt kennenzulernen.“
Der letzte Satz des Vaters auf dem Sterbebett lautet: „Es tut weh.“ Am Ende des Gedichts ist von Andrej Tarkowskis Film „Andrej Rubljow“ die Rede, dem sich der Titel des Zyklus’ verdankt. In dessen Schlussbildern erscheinen Pferde als wirkmächtiges Symbol des Erinnerns, allerdings wurde bei den Dreharbeiten ein leibhaftiges Pferd planvoll verwundet und getötet, was den Regisseur für manche in ein ungutes Licht rückte. Hier aber wird besänftigend, fast beschwörend die Filmfigur des Griechen Theophanes zitiert, der „nach allen erdenklichen Qualen/ ausruft:/ – Trotzdem ist es so schön,/ und nun schneit es.“
Die Natur und die Jahreszeiten, Schnee und Wind, Wasser und Licht, weiße Birkenstämme und „eisrote Blätter“, das alles ist in Pia Tafdrups Gedicht-Erzählung gegenwärtig, wie es der Lyriktradition Skandinaviens entspricht. Hier gewinnt es besondere Leuchtkraft aus der Lebenserfahrung. Die Dichterin wuchs auf dem Land auf, nördlich von Kopenhagen, wo ihre Familie ein Gut besaß. Was sich aus dem Bewusstsein des Vaters kontinuierlich verflüchtigte, hat sie in ihrem Erinnerungsbuch vor dem Vergessenwerden und Verschwinden bewahrt, sich damit wohl auch zum Instrument eines Vermächtnisses gemacht, das er nicht mehr formulieren konnte.
Pia Tafdrups jüdische Eltern waren 1943 nach Schweden geflohen. Ihr Vater Finn und seine Geschwister kämpften dort in einer Widerstandsbrigade. Das Verhältnis der Familie zu Deutschland blieb problematisch (davon zeugt das Gedicht „Schöne Rosi“, zweisprachig wiedergegeben wie etwa ein Drittel des Zyklus’). So dürfte es von einigem Gewicht sein, dass der Erinnerungsstrom, aus dem der Band hervorging, in Berlin einsetzte. Doch Pia Tafdrup, offenkundig geprägt von der großen Inger Christensen, hat nie mit politischer Lyrik geliebäugelt. In ihrer Skizze für eine Poetik erläuterte sie 1991 die „ästhetische und metaphysische Dimension“, nach der ihr Dichten strebt. Es geht ihr um Leben und Tod, um Seelenzustände und Körperwahrnehmungen, letztlich um die „Suche nach dem Absoluten“. Vor mystischem Nebel schützen sie dabei ein ausgeprägtes Formbewusstsein und ein klarer, analytischer Geist. Eine eigensinnige Mischung, die so vielleicht nur aus dem Norden kommen kann.
KRISTINA MAIDT-ZINKE
Für Pia Tafdrup der „Sänger des Verlorenen“: Orpheus.
Foto: mauritius images
Pia Tafdrup: Tarkowskis Pferde. Gedichte. Aus dem Dänischen von Peter Urban-Halle. Stiftung Lyrik Kabinett, München 2017. 118 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.01.2018

Die Brücke zum Gestern ist gesprengt

Die Toten reden mit und trotzen der Zeit: Pia Tafdrups Gedichte beschreiben die Demenz ihres Vaters als Verlusttabelle der Erinnerung.

Wenn ein Mensch sein Gedächtnis verliert, fällt er in sich selbst zurück, wird Teil jener "Vergessenheitsbibliothek", die für die dänische Lyrikerin Pia Tafdrup mit der Demenz und schließlich dem Tod des eigenen Vaters zusammenfällt. Zugleich ist das große Ausgelöschtwerden eines Menschen auch der paradoxe Moment, in dem für andere die Essenz seines Lebens sichtbar wird. Die Demenz und der endgültige Abschied des Vaters verlangen Tafdrup wiederum eine hochkonzentrierte Hingabe an die gemeinsam durchschrittene Existenz ab. Was bleibt von einem nahen Menschen, wenn er nichts mehr zu seinem eigenen Gedenken beitragen kann?

Die 1952 in Kopenhagen geborene Pia Tafdrup, die zu den wichtigsten dichterischen Stimmen ihres Landes zählt, hält dieser Frage mit großer Geduld stand. Unweigerlich stellt sich der Eindruck ein, dass sich in dieser Situation des wie mit einer Axt gefällten väterlichen Gedächtnisses die Rollen vertauschen. Die Tochter, voller Fürsorge und Aufnahmefähigkeit, versucht bei jeder Regung den Vater zu lesen, ihn und seine Bedürfnisse zu verstehen, so wie er es einst getan hat, als sie noch ein Kind und der Wärme seiner wissenden Hände bedürftig war. Die Intensität dieses seelischen Gesprächs zwischen Vater und Tochter ist derart stark, dass stellenweise nur noch die akribische Benennung des einst gemeinsam Erlebten den Schmerz aushaltbar macht - wie in dem Gedicht "Notschrei", in dem es heißt: "Die Brücke zum Gestern ist gesprengt, mein Vater / hat keine Erinnerung daran, / dass wir Stauden pflanzten in sein Beet, / die Blumen sind ein Nichts, ein blankes Negativ."

So trostlos diese Szene erst erscheint, so reich wird sie im Blick der Tochter, wenn klar wird, dass dem Vater zwar die Brücken zu seiner Vergangenheit nicht mehr zur Verfügung stehen, ihn dafür aber eine Art imaginäre Korrespondenz beschäftigt: Sein toter Bruder, seine tote Schwester, seine tote Mutter sind allgegenwärtig; die Toten reden mit, haben als in Bildern Auferstandene Anteil am geheimen Leben des Vaters. Da sie nun genauso wenig wie Tafdrups Vater an die Zeit gebunden sind, dürfen sie im Chor seiner inneren Stimmen mitsprechen. Was wir Lebenden eine "tröstende Lüge" nennen, erscheint in Wirklichkeit in unserer inneren Bildwelt als miteinander verbunden - die Toten haben ihr eigenes Archiv im ins Vergessen driftenden Vater abgelegt. Er scheint es mit seiner Sehnsucht zu aktivieren.

Vielleicht, so lassen sich diese Gedichte lesen, gilt das für alles Vergangene, das die guten Seiten unseres inneren Lebensbuches beschriftet hat. So stellt sich die Frage, ob nicht die an Demenz erkrankten Menschen uns in letzter Konsequenz das Gleiche wie die Toten erzählen - was sie verlieren, droht auch uns als Verlust und Schicksal. Wir können zwar unser Leben immer anders denken, als es ist, aber immer nur in Verknüpfung mit jenen, die wie wir in der Zeit leben oder gelebt haben. Pia Tafdrup zeigt mit ihren poetischen, nie herzlosen Sezierungen, auf welche Weise sich die konkrete Zeit auflösen und in ein persönliches Zeitempfinden verschieben kann, wenn ein naher Mensch sich aus dem Uhrwerk ausklinkt, das einst Orientierung verschafft hat.

Diese Gedichte sind nicht nur ein Requiem für den geliebten und verehrten Vater, sondern auch ein Spiegel für die Lebenden und Gesunden. Der Kranke zeigt dem Gesundgebliebenen die Wege des eigenen Blicks. Zugleich wird die Wirkung des Sehens und Gesehenwerdens offenbar, die Welt vor der Veränderung des eigenen Bewusstseins - es ist eine Welt, in der die Chronologien mehr zählen als die inneren Wärmelinien eines von Erinnerung entkoppelten Menschen. Das lyrische, hier wache und Anteil nehmende Ich kann seine Autonomie nur tastend leben. Manchmal ist das nur mit einer Frage möglich, die es sich erlaubt, solange der Vater noch am Leben ist: "Verwandelt sich mein Vater / nicht mehr in den, / den ich kenne?" Statt aber auf Antworten zu warten, vertraut es sich einem Tier aus der väterlichen Erinnerung an und hält fest: "Durch eine unterirdische Passage / lass ich den Hund herein hier - / warum / ist es nötig / zu verstehen? / Ich streichle den Hund, gebe ihm Wasser zu trinken."

In der Imaginationskraft der Tochter steigt mit der Zugewandtheit auch die metaphysische Fähigkeit des Standhaltens, und die Zeit darf schmelzen: "... ist morgen bereits gestern?" Der zutiefst humane und also liebende Blick der Tochter auf die eigenen und die väterlichen inneren Landschaften führt dazu, dass die scheinbar versiegelte Erinnerung ihre eigene Verfassung aufgeben und wieder fließen kann. Die Denkrichtungen sind nun genauso wie die Rollen ausgewechselt, wenn ein vertrauter Mensch sich an andere, für den Gesunden uneinnehmbare Koordinaten hält, ja sich aus dem vertrauten Gefüge losreißt, so, wie sich in Andrej Tarkowskis Filmen (ganz besonders in "Andrej Rubljow") die Pferde losreißen und in die Unendlichkeit der Imagination auswandern; sie treten über eine Schwelle, hinter der das Vertraute nicht mehr existiert, wie wohl auch im Inneren eines Menschen, der uns vergessen hat - es wird nun nichts mehr mitgeteilt.

Immer wieder zeigt Pia Tafdrup an kleinen bewegenden Situationen, welche Prozesse im Denken und im Leben in Gang gesetzt werden, wenn nicht mehr die Struktur der Zeit die Beziehungen zwischen den Menschen gliedert. "Ob zwei Stunden / oder zwei Minuten vergangen sind, / ist das entscheidend, / solange Schutz gesucht wird / in einer glasklaren Erinnerung aus der Kindheit." Ein Rückgriff auf Erlebtes scheint also unvermeidlich. Das Tochter-Ich setzt letztlich den Unterschied, es nimmt die Bäume zum Anlass, um mittels Jahreszeiten über Orientierung nachzudenken: "Sie leuchten / in seinem Gehirn, / die weißen Stämme der Birken, / heroisch aufrecht / oder ruhig schwankend." Der Mensch, so bleibt am Ende ungeschönt zu erkennen, wird entwurzelt wie ein Baum, wenn er sein Gedächtnis verliert. Besonders bedeutsam für die Dichterin ist dabei die Tatsache, dass sich ihr das Netzwerk ihrer eigenen Erinnerungen bei einem Aufenthalt in Berlin zeigt, einer Stadt, zu der sie eine besondere Beziehung hat wie zu Deutschland überhaupt. Ihre Eltern musten als Juden 1943 die Flucht nach Schweden ergreifen. Der Vater, ein gebildeter Mann und Kenner der deutschen Poesie, den das lyrische Ich zum Gravitationszentrum dieses Gedichtbandes erwählt, wurde mit seinen Geschwistern im Exil Mitglied einer dänischen Widerstandseinheit und war dann nach dem Krieg Landgutbesitzer nördlich von Kopenhagen. Die so im Gedächtnis der Tochter abgelegte Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts spricht stets mit, besonders in ihrem hellwachen Blick.

Dieses denkende Sehen ist sich darüber im Klaren, dass das, was für die Tochter "Gegenwart" ist, eine Zukunft sein wird, die ihr Vater niemals kennenlernen wird. Ist diese Auslöschung eine Erlösung? Darüber sagt Pia Tafdrup nichts, da die direkte und persönliche Beziehung zum Vater im Vordergrund steht. Nun, gen Ende seines Lebens, bleiben auch ihr nur noch die innere Zeit, die gelebten Essenzen, die einzelnen Liebkosungen - nackte Augenblicke, die die Dichterin als innere Funken der Stille beschreibt und die nicht jenseits der eigenen Hingabe überleben können. Alles geht seinen Gang, ". . . weiter stürzen die Sterne / von Jahrmillionen / ist es dieses Jetzt - / die früheste Morgenstunde, / abgebeizt und durchsichtig." Dieses Gedicht, "Verlusttabelle", hebt besonders hervor, wie das Element der Dichtung arbeitet, wenn es die Schwebezustände zwischen Verstehen und Vergessen auffängt, auch die Tyrannei der äußeren Zeit wird dabei sichtbar, die gnadenlos weiterläuft und sich nicht mit den inneren Landschaften des Menschen aufhält: "Mein Vater vergeht wie Tage / fliehen." Und dennoch kann zumindest das lyrische Ich von sich sagen: ". . . es gibt Schritte / über die Logik hinaus, / Sonnensysteme aus Unerklärbarkeiten. Obwohl er doch lebt, / such ich nach / meinem Vater in meinem Vater."

Rettung kommt in der metaphysisch in jeder Hinsicht zugespitzten Situation ausgerechnet von einer Katze, also einem sprachlosen Wesen, dessen Gedächtnis uns aber gleichermaßen Terra incognita ist, wie das auch bei einem an Alzheimer erkrankten Menschen der Fall ist. Über die rauhe Zunge des Tieres, die Tafdrups Hand schleckt, heißt es, sie sage ihr: ". . . ich soll nicht ertrinken / in einer salzigen Träne, / die Katze macht einen Buckel, Zeit, ihr Futter zu geben."

Pia Tafdrups Buch ist von schmerzlicher Schönheit, durchströmt von einer Innigkeit der Hingabe und Wahrnehmung, wie sie nur dem poetischen Momentum aneignet, in dem das Aufscheinen der Welt mit ihrem Abschied einhergeht und so aufzeigt, dass die unvergänglichen Dinge mehr weh tun können als jeder andere im Verlauf des eigenen Lebens für wahr gehaltene Schmerz. Das Wort "Vater" etwa existiert allem Verlust zum Trotz weiter als "vielfarbige Erinnerung", in die die Tochter selbst für immer eingeschmolzen ist, gerade weil es heißt: "Ich habe meinen Vater an ihn selbst verloren."

MARICA BODROZIC

Pia Tafdrup: "Tarkowskis Pferde". Gedichte.

Aus dem Dänischen und mit einer Nachbemerkung von Peter Urban-Halle. Stiftung Lyrik Kabinett, München 2017. 117 S.,

geb., 22,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Wie die dänische Dicherin Pia Tafdrup die Demenz ihres Vaters in einem lyrischen Gespräch festhält, hat Marcia Bodrozic tief bewegt und beeindruckt. Als intensiv und schmerzhaft beschreibt die Rezensentin die hier vermittelte Erfahrung vom Verlöschen der Erinnerung. Die imaginäre Korrespondenz der Autorin, poetisch und liebevoll, ist für Bodrozic auch ein Spiegel für die Lebenden und Gesunden und Beispiel für die "metaphysische Fähigkeit des Standhaltens". Wie es ist, wenn die zeitliche Struktur in der menschlichen Beziehungen wegfällt, erfährt die Rezensentin eindringlich und fragt sich schließlich: Handelt es sich um Auslöschung oder Erlösung? Die Autorin schweigt dazu in ihrem Buch von schmerzlicher Innigkeit und Schönheit, so Bodrozic.

© Perlentaucher Medien GmbH
Der Band liest sich in seiner Gesamtheit geschlossen und soghaft, er sollte bei dem Thema auch durchaus in einem Zug genossen werden. (Jonis Hartmann, Fixpoetry, 08.07.2017)