Nobelpreis für Literatur 2023!In einem Haus an einem Fjord liegt Signe, eine alte Frau, auf einer Bank und sieht sich selbst als junge Frau durch die Räume gehen. Sie sieht sich am Fenster stehen und auf das Wasser blicken. Sie sieht ihren Mann Asle, den es in seinem kleinen Boot immer wieder auf den Fjord hinauszog, bis er eines Tages nicht zurückkehrte.In dem alten Haus, das erfüllt ist von den Stimmen seiner ehemaligen Bewohner, traumwandelt Signe durch die Vergangenheit und begegnet den vorangegangenen Generationen der Familie - bis zurück zu Asles Ururgrossmutter Alise, die in der Nacht am Ufer ein Feuer hütet. Denn schon damals hatte es einen gegeben, der nie mehr vom Fjord zurückkam.«er ging nicht weg, er blieb hier bei ihr, die ganze Zeit, bis er so plötzlich verschwand, denkt sie, er war bei ihr, vom ersten Mal, dass sie ihn ankommen sah und er da stand und sie sich einfach nur anschauten, einander zulächelten, als ob sie alte Bekannte wären, als ob sie sich schon immer kennen würden irgendwie, aber sich so unendlich lang nicht mehr gesehen hätten und sich darum so riesig freuen würden, dieses Wiedersehen machte beide dermaßen froh, dass die Freude die Führung übernahm, sie führte sie aufeinander zu, als hätte ihnen das ganze Leben lang etwas Wichtiges gefehlt, und jetzt wäre es da, endlich, jetzt war es da».
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 29.10.2003Herr, steh mir bei
Fjord, Sog und Monolog: Jon Fosses Novelle „Das ist Alise”
Am Fjord zu leben ist vermutlich die einzig mögliche Art, Hinterwäldler und weltzugewandter Meeresanrainer zugleich zu sein. Jon Fosse lebt am Fjord und hat dort die Novelle „Das ist Alise” geschrieben, eine vielstimmige Erzählung vom parallelgeführten, doch zeitlich verschobenen Verschwinden eines Mannes und eines Jungen im Fjord.
Am Fjord passiert immer das gleiche, seit Jahrhunderten: Menschen fahren mit dem Boot hinaus und kommen reich oder arm zurück. Oder sie kommen gar nicht zurück. Der Erzählmonolog beginnt archaisch: Ich sehe und endet mit dem frommen Wunsch: Herr Jesus steh mir bei, du. Anders ist es wohl nicht auszuhalten, wenn Signe auf der Bank im Haus am Fjord liegt und weiß, dass nichts mehr ist, wie es war, seit Asle mit seinem Boot auf dem Fjord verschwunden ist. Der Erzähler stützt und ordnet seine Stimme, die von Signe und Asle singt, mit den Verben denken, sehen, sagen: Er sieht Signe, welche denkt, dass sie sieht und das sagt: „Und sie sieht ihn da stehen . . . Ich, sagt Asle Ich fahr mal bisschen auf den Fjord raus, sagt er Heut auch wieder, sagt Signe Glaub schon, sagt Asle . . . Heute schon wieder, sagt Signe und er antwortet nicht und heute fährt er schon wieder auf den Fjord raus, denkt sie, aber es ist doch Wind . . .”
Der Monolognovellist Fosse lässt das so in einem Atem ohne jeden Punkt Signe weitersehen und – singen fast 90 Seiten lang; dann erst werden Punkte gesetzt und Asles Ururgrossmutter Alise, welche des Nachts am Fjord ein Feuer hütet, tröstet Brita und Kristoffer, deren siebenjähriger Sohn – auch er heißt Asle – mit seinem frisch zum Geburtstag geschenkten, weißlackierten Boot im Fjord verschwunden ist und erst ertrunken geborgen wurde: Steht da nicht so herum, sagte die alte Alise: „Die Wege des Herren sind unerforschlich, sagt sie Es geht ihm gut jetzt, dem Asle, er ist bei Gott im Himmel, also seid nicht traurig, sagt sie . . . und dann beugt die alte Alise den Kopf und die Schultern zittern und dann steht sie nur noch da . . .”. Alise, die beiden Asle, Kristoffer und Brita sind gleichzeitig in Signes Kopf; die Figuren gleiten durch das zeitlose Wasser des Fjords im Rhythmus des Monologs.
Jon Fosse schreibt das „Nynorsk”, jenes aus den Dialekten vorzugsweise der westlichen Gebiete Norwegens als ein Resultat der Nationalromantik entstandene Gegenstück zur Bokmal, der norwegischen Schriftsprache, deren Nachteil in den Augen der Nynorskerfinder die Nähe zum Dänischen war. Nynorsk klingt monotoner und etwas härter als Bokmal; die Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel kommt damit sehr gut zurecht, dem Sog des Novellenmonologs kann man sich auch im Deutschen schwer entziehen. Den Klang einer Sprache in eine Übersetzung zu überführen, ist wohl die am meisten artistische Übung für den Dolmetscher – bei Det er Ales / Das ist Alise kommt es darauf sogar sehr an.
Fosses Novelle ist zugleich moderner Lesestoff und ein archaisches Stück für einen Sänger oder eine Sängerin. Man sollte nach der Lektüre dieser gut 100 Seiten die Gelegenheit haben, das Nynorsk vom Fjord auf der Bühne zu hören und dann, vielleicht einen Tag später, die vorliegende Übersetzung vorgelesen bekommen – Fjordlandschaften sind aus mündungsnahen Strecken glazial übertiefter Trogtäler ehemaliger Vereisungsgebiete entstanden. Dort ist dann das Meer eingedrungen. Das hat Fosse seiner Sprache in dieser Novelle umfassend gegönnt.
STEPHAN OPITZ
JON FOSSE: Das ist Alise. Novelle. Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel. marebuchverlag, Hamburg 2003. 115 Seiten, 18 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Fjord, Sog und Monolog: Jon Fosses Novelle „Das ist Alise”
Am Fjord zu leben ist vermutlich die einzig mögliche Art, Hinterwäldler und weltzugewandter Meeresanrainer zugleich zu sein. Jon Fosse lebt am Fjord und hat dort die Novelle „Das ist Alise” geschrieben, eine vielstimmige Erzählung vom parallelgeführten, doch zeitlich verschobenen Verschwinden eines Mannes und eines Jungen im Fjord.
Am Fjord passiert immer das gleiche, seit Jahrhunderten: Menschen fahren mit dem Boot hinaus und kommen reich oder arm zurück. Oder sie kommen gar nicht zurück. Der Erzählmonolog beginnt archaisch: Ich sehe und endet mit dem frommen Wunsch: Herr Jesus steh mir bei, du. Anders ist es wohl nicht auszuhalten, wenn Signe auf der Bank im Haus am Fjord liegt und weiß, dass nichts mehr ist, wie es war, seit Asle mit seinem Boot auf dem Fjord verschwunden ist. Der Erzähler stützt und ordnet seine Stimme, die von Signe und Asle singt, mit den Verben denken, sehen, sagen: Er sieht Signe, welche denkt, dass sie sieht und das sagt: „Und sie sieht ihn da stehen . . . Ich, sagt Asle Ich fahr mal bisschen auf den Fjord raus, sagt er Heut auch wieder, sagt Signe Glaub schon, sagt Asle . . . Heute schon wieder, sagt Signe und er antwortet nicht und heute fährt er schon wieder auf den Fjord raus, denkt sie, aber es ist doch Wind . . .”
Der Monolognovellist Fosse lässt das so in einem Atem ohne jeden Punkt Signe weitersehen und – singen fast 90 Seiten lang; dann erst werden Punkte gesetzt und Asles Ururgrossmutter Alise, welche des Nachts am Fjord ein Feuer hütet, tröstet Brita und Kristoffer, deren siebenjähriger Sohn – auch er heißt Asle – mit seinem frisch zum Geburtstag geschenkten, weißlackierten Boot im Fjord verschwunden ist und erst ertrunken geborgen wurde: Steht da nicht so herum, sagte die alte Alise: „Die Wege des Herren sind unerforschlich, sagt sie Es geht ihm gut jetzt, dem Asle, er ist bei Gott im Himmel, also seid nicht traurig, sagt sie . . . und dann beugt die alte Alise den Kopf und die Schultern zittern und dann steht sie nur noch da . . .”. Alise, die beiden Asle, Kristoffer und Brita sind gleichzeitig in Signes Kopf; die Figuren gleiten durch das zeitlose Wasser des Fjords im Rhythmus des Monologs.
Jon Fosse schreibt das „Nynorsk”, jenes aus den Dialekten vorzugsweise der westlichen Gebiete Norwegens als ein Resultat der Nationalromantik entstandene Gegenstück zur Bokmal, der norwegischen Schriftsprache, deren Nachteil in den Augen der Nynorskerfinder die Nähe zum Dänischen war. Nynorsk klingt monotoner und etwas härter als Bokmal; die Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel kommt damit sehr gut zurecht, dem Sog des Novellenmonologs kann man sich auch im Deutschen schwer entziehen. Den Klang einer Sprache in eine Übersetzung zu überführen, ist wohl die am meisten artistische Übung für den Dolmetscher – bei Det er Ales / Das ist Alise kommt es darauf sogar sehr an.
Fosses Novelle ist zugleich moderner Lesestoff und ein archaisches Stück für einen Sänger oder eine Sängerin. Man sollte nach der Lektüre dieser gut 100 Seiten die Gelegenheit haben, das Nynorsk vom Fjord auf der Bühne zu hören und dann, vielleicht einen Tag später, die vorliegende Übersetzung vorgelesen bekommen – Fjordlandschaften sind aus mündungsnahen Strecken glazial übertiefter Trogtäler ehemaliger Vereisungsgebiete entstanden. Dort ist dann das Meer eingedrungen. Das hat Fosse seiner Sprache in dieser Novelle umfassend gegönnt.
STEPHAN OPITZ
JON FOSSE: Das ist Alise. Novelle. Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel. marebuchverlag, Hamburg 2003. 115 Seiten, 18 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Jon Fosses Texte ähneln sich, haben gar einen "Markenrationalismus" entwickelt, der einer kreativen Weiterentwicklung des Autors hinderlich sein könnte, formuliert Aldo Keel eine vorsichtige Kritik anlässlich der nun erschienenen Novelle "Das ist Alise", die wiederum eine Variante des Stücks "Eines Sommers Tag" ist, informiert uns der Rezensent. Fosses Prosa sei sprachlich ebenso minimalistisch wie seine Theaterstücke, die den Norweger innerhalb kürzester Zeit zum Shooting Star des europäischen Theaters machten. Monotone Sprachschleifen beschreiben die Erfahrung des Verlassenwerdens, so auch hier in dieser Novelle, in der eine ältere Frau darüber nachsinnt, warum ihr Mann eines Tages auf den Fjord herausgerudert und nie wieder zurückgekehrt ist, so Keel. Fosses Texte mit ihren dunklen Fjord-Bildern und ihrer Zivilisationsferne bedienen in bestimmter Weise das deutsche Bild eines archaischen Norwegen-Idylls, nimmt Keel an, womit sich vielleicht auch die begeisterte Rezeption von Fosses Stücken erklären lasse. Die beschwörende quälende Sprache deckt das Sprachunvermögen der Charaktere zu, meint Keel und vermutet, dass ohnehin das Ungesagte bei Fosse wichtiger ist als das Gesprochene. Fosse ist von der Musik zur Literatur gekommen, weiß der Rezensent und empfiehlt dem Autor Ferien am Fjord, um eine kreative Pause einzulegen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Dem Sog dieses Buchs kann man sich nur schwer entziehen. Süddeutsche Zeitung