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Die Frage der Zeit in Frage zu stellen, ja mehr noch: die Frage zu stellen, ob es nicht ein Recht gibt, auf den Zeitbegriff zu verzichten, ist das Anliegen dieses Buches von François Jullien. Einmal mehr schlägt er den scheinbaren »Umweg über China« ein, um diese überraschende Fragestellung plausibel zu machen. Denn kein abstrakter Zeitbegriff, keine strenge Zweiheit von Anfang und Ende prägen das chinesische Denken, sondern Jahreszeit, Prozess, Moment, Gelegenheit und Übergang.

Produktbeschreibung
Die Frage der Zeit in Frage zu stellen, ja mehr noch: die Frage zu stellen, ob es nicht ein Recht gibt, auf den Zeitbegriff zu verzichten, ist das Anliegen dieses Buches von François Jullien. Einmal mehr schlägt er den scheinbaren »Umweg über China« ein, um diese überraschende Fragestellung plausibel zu machen. Denn kein abstrakter Zeitbegriff, keine strenge Zweiheit von Anfang und Ende prägen das chinesische Denken, sondern Jahreszeit, Prozess, Moment, Gelegenheit und Übergang.
Autorenporträt
François Jullien ist Philosoph und Sinologe. Er ist Professor an der Universität Paris VII und Direktor des Institut Marcel Granet und einer der bedeutendsten Kenner Chinas, wo er lange Jahre lebte. Anfang der achtziger Jahre gründete er die Zeitschrift »Extrême Orient - Extrême Occident«. Daneben ist er als Wirtschaftsberater französischer Unternehmen, die Projekte in China durchführen, tätig. Seine Bücher wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt. Auf dem »Umweg« über das chinesische Denken widmet seine Philosophie sich einer Dekonstruktion Europas »von außen«.»Ohne François Julliens Bücher gelesen zu haben, kann man heute über China nicht mehr ernsthaft sprechen.« Frankfurter Rundschau
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.10.2004

Ohne Meister
Geist im Pelz der Natur: Die neuen Sachbücher

Der Geist treibt uns an, wir rennen ihm hinterher. In der Natur steckt er drin, wir wissen nicht wo und wie er darin untergebracht ist. Natur und Geist gehören zusammen, sie bilden, wie der Anthropologe Gregory Bateson sagte, eine notwendige Einheit. Schon der alte Schelling, der vor einhundertundfünfzig Jahren starb und deswegen in diesem Herbst mit der lesenswerten Biographie "Schelling" von Xavier Tilliette (erschienen bei Klett-Cotta) beschenkt wurde, wußte das und hielt an der Naturphilosophie fest. Ihm zur Seite steht Alexander von Humboldt mit seiner großen poetischen Erkundung der Natur im "Kosmos" (Die Andere Bibliothek bei Eichborn). Schiller traute der Einheit nicht. Mit seiner Leidenschaft für den Intellekt, der den Körper nicht schont, kommen wir, nachdem wir uns im ganzheitlichen Denken geschult haben, nicht weiter.

In seinem anregenden Buch über "Das erschöpfte Selbst" (Campus) und die grassierende Depression schreibt der Soziologe Alain Ehrenberg, daß in den demokratischen Gesellschaften der Geist, weit mehr als der Körper, ein Gegenstand heftiger Diskussionen sei. Ein Ende der Kontroversen sei nicht abzusehen. In diesen Debatten stehen unsere Überzeugungen über das Innere auf dem Spiel - nachdem schon im Mittelalter, wie der Historiker Valentin Groebner in seiner glänzenden Analyse "Der Schein der Person" (C. H. Beck) ausführt, der Mensch seinen äußeren Stempel durch Steckbrief, Ausweis und Krontrolle erhalten hat.

Ins Innere richten sich in diesem Herbst die Blicke. Der in Zürch an der Eidgenössischen Hochschule lehrende Wissenschaftshistoriker Michael Hagner unterstützt die Suche nach dem Geist mit einer spannenden Geschichte der neurowissenschaftlichen Bemühungen um die "Genialen Gehirne" (Wallstein). Mit seiner Kritik der Tradition möchte er einer vorschnellen biologistischen These vorbeugen. Diese Steilvorlage hat der Historiker Johannes Fried noch nicht genutzt. In seinem Buch "Der Schleier der Erinnerung" (C. H. Beck) versucht er, die Geschichtswissenschaft auf neurologische Füße zu stellen.

Die Natur selber liest im Buch der Natur nicht. Sie hat es deswegen einfacher als der Historiker. Ihr Gedächtnis sitzt fest im Muskel und im Reflex. Was uns das Hirn ist, das ist dem Albatros der Flügel. Die größten unter diesen Vögeln sind die Königs- und Wanderalbatrosse. Spannen sie ihre Flügeln, liegen über drei Meter zwischen der einen Flügelspitze und der anderen. Sie wiegen bis zu zwölf Kilogramm. Das Entscheidende ist: Sie müssen selbst nicht fliegen - sie gleiten. Tag und Nacht. An zwei Flügelgelenken rastet ein Versteifungsmechanismus ein, so daß nicht einmal der Vogel selbst seine Schwingen gestreckt halten muß. Diesem Wunder der Natur hat Carl Safina seinen "Flug des Albatros" (marebuchverlag) gewidmet. Der Geist der Natur ist uns, die wir die Natur des Geistes suchen, um Längen voraus.

"Der Natur des Guten" (Suhrkamp) hat die Philosophin Philippa Foot eine aufklärende Untersuchung gewidmet. Sie verbindet die Natur mit dem Geist, indem sie das Gute mit der Lebensform vereint. Gut sei, was lebensnotwendig für eine Spezies ist, mag es sich bei dieser Spezies um Pflanzen, Tiere oder Menschen handeln. Das Gute richte sich nach einem Muster natürlicher Normativität. Anders gesagt: Die Moral, der Sinn für das Gute, gehört nach Philippa Foot zum Menschen wie der Versteifungsmechanismus der Flügel zum Höhenflug des Albatros. Auf den Schwingen seiner ungestörten Natur, die sich in der Vernunft spiegelt, könnte der Mensch über die Gewässer des weniger Guten in aller Seelenruhe segeln. Tag und Nacht.

Dem Bodenpersonal ist manchmal anzulasten, daß es zu Bruchlandungen kommt. Der oben erwähnte Depressionsforscher Alain Ehrenberg erklärt, wieso heute die Menschen von einer allumfassenden Müdigkeit gepackt werden. Die Psychiater stehen ohne begriffliche Durchdringung vor dem Phänomen, dem sie mit Medikamenten beizukommen versuchen. Die Depression ist die Krankheit einer Gesellschaft, deren soziale Normativität, um den Bogen zu Philippa Foot zu schlagen, nicht mehr auf Schuld und Disziplin gründen, sondern auf Verantwortung und Initiative. Nicht einmal Gutes zu tun gelingt dem müden Menschen. Die Depression ist die Tragödie der menschlichen Unzulänglichkeit vor den neuen Freiheiten. Zunehmend mehr Mitbürger stürzen in einer Zeit ohne moralisches Gesetz und ohne Traditionen in die Ausweglosigkeit, weil sie vor der Aufgabe versagen, sich selbst zu entwerfen.

Auf all diese neuen Müden könnte Schillers frischer Enthusiamus wie eine Kurztherapie heilend wirken. Doch fehlen die Werte, die er in Ehren hielt. Ein Wert könnte in der von allen geteilten Vorstellung liegen, daß der soziale Frieden durch das Recht verbürgt ist. Der Rechtswissenschaftler Michael Pawlik begründet in seiner konzentrierten Studie über "Person, Subjekt, Bürger" (Duncker & Humblot) die Strafe als eine Vergeltung für das Unrecht. Eine Strafe in diesem Sinne, meint der Autor, hielte dem Täter seine Verantwortung für das Allgemeine vor Augen und nehme ihn dadurch ernst. Wie der Historiker vor seinen trüben Erinnerungsquellen, so kann der Täter auf die Lücke in seinem Gedächtnis hinweisen, die ihm die Verantwortung für das soziale Ganze vergessen ließ. Der Gedanke ans Soziale würde die Individuen aus ihrer Müdigkeit scheuchen.

Früher litten die Nachbarn an den repressiven Normen rundum. Heute schweben sie im luftleeren Raum der Selbstverwirklichungen. Ohne fruchtbare Konflikte mit der Gesellschaft verkümmern sogar die Voraussetzungen für eine Demokratie. Die Erinnerungen "Begegnungen" von Joachim Fest (Rowohlt Verlag) und "Wir waren noch einmal davongekommen" von Wolf Jobst Siedler (Siedler Verlag) zeigen, welche intellektuelle Statur sich in der produktiven Reibung an der Gesellschaft bilden kann. Wie ein Donnerwetter mutet auch das Wirken Arthur Koestlers vor dem Hintergrund der Erschöpfung an. Dem Schriftsteller, der sich gerne seinem Selbst zuwandte, hat Christian Buckard die Biografie "Arthur Koestler" (C. H. Beck) gewidmet, aus der zu lernen ist, daß der Einsatz auf der Bühne der Taten dem Warten auf der Ersatzbank der Träume vorzuziehen ist.

Von allen Gedanken Schillers kann vielleicht die Idee einer ästhetischen Erziehung des Menschen noch einschlagen. Mit Umberto Ecos opulentem Bildband über die "Geschichte der Schönheit" (Carl Hanser) ist ein erster Wurf in diese Richtung wieder gemacht. Die Bilder mögen dem Müden als ein Stimmungsaufheller dienen, ob sie ihn aus seiner Malaise herausholen, ist ungewiß. Der Gesellschaft fehlt es nicht nur an Werten, sondern wahrscheinlich auch an Lehrern. Der Gelehrte George Steiner ist dem Verhältnis vom "Meister und seinen Schülern" (Carl Hanser) nachgegangen. Eine sehr lohnenswerte Aufgabe hat er damit übernommen, an deren Ergebnissen man ein zeitdiagnostisches Raster hätte ablesen können. Leider meistert Steiner die Meister nicht. Wir vermuten, daß ihm selbst als Schüler der Meister und das Vorbild der Meisterschaft fehlte.

In den Zirkeln, von denen Joachim Fest zu erzählen weiß, traten Meister auf, darunter die Philosophin Hannah Arendt, der Politikwissenschaftler Dolf Sternberger. Manchem Müden hätte eine solche Begegnung auf die Sprünge geholfen. Oft fehlt ja nur der persönliche, der seelische Funken, der den Versteifungsmechanismus zum Guten auslöst. Dabei ist die Zeit, die einem für ein gelungenes Leben bleibt, ein knappes Gut, wie uns der französische Philosoph Jullien in seinem Buch "Über die Zeit" (Diaphanes) nachdrücklich vorführt.

Einen Trost im Brunnen des Selbst bieten Giorgio Agambens tiermenschfreundliche Essays "Kindheit und Geschichte" (Suhrkamp) sowie Roberto Zapperis Geschichte des "Wilden Mannes von Teneriffa" (Carl Hanser). Der wilde Mann hieß Pedro Gonzales, wurde im sechzehnten Jahrhundert geboren, war überall mit Haaren bedeckt und sah aus - nicht wie ein Albatros, sondern wie ein Pelztierchen. Er kam als Kind an den französischen Hof, und statt zu kapitulieren ob seines Aussehens studierte er und heiratete eine schöne Französin, die ihm tierisch behaarte Kinder schenkte. Die Welt bestaunte sie als Zwitter aus Mensch und Tier. Geist und Natur gingen hier eine pelzige, aber notwendige Einheit ein, aus der es kein Entkommen gab und in die es in diesem Herbst eine schöne haarige Einsicht gibt.

EBERHARD RATHGEB

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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Francois Jullien ist ein französischer Sinologe, klärt uns Arne Klawitter auf, der sich seit längerem mit den unterschiedlichen philosophischen und ästhetischen Konzepten Asiens und Europas befasst. Dafür hätte er sogar eine eigene kulturkomparatistische Methode entwickelt, die als "Ortswechsel des Denkens" bezeichnet werde. Diesmal widmet sich Jullien, so Klawitter, den unterschiedlichen Zeitkonzepten im abendländischen und im chinesischen Denken: die chinesische Kultur habe anders als wir Europäer keinen transzendentalen Zeitbegriff entwickelt, weshalb es uns beispielsweise schwer falle, Zeitprozesse selbst - wie das Altern - in ihrem eigentlichen Verlauf zu erfassen. Der Rezensent weist darauf hin, dass Jullien seine kulturvergleichenden Ausführungen nicht als Heilsbringer oder Alternative zum europäischen Denken verstanden haben will. Ein "Tauschhandel" mit dem chinesischen Denken sei für Jullien nicht erstrebenswert, erklärt Klawitter, vielmehr gehe es dem französischen Wissenschaftler darum, Rückschlüsse auf die eigenen Bedingungen des Denkens zu ziehen.

© Perlentaucher Medien GmbH
»In seinen zahlreichen Facetten ist dieser Band ein schönes Beispiel, wie terminologisch exakt arbeitende Philosophie und Sinologie einander lebensphilosophisch ergänzen können.« Joseph Hanimann, FAZ