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Gesellschaften brauchen griffige Formeln zur Selbstbeschreibung. Dazu gehören seit einiger Zeit »Mediengesellschaft« und »Medienkultur«. In die Kontroversen um die Begründung und Verwendung solcher Formeln mischt sich Siegfried J. Schmidts konstruktivistischer Entwurf einer Medienkulturwissenschaft ein und führt vor, welche Beobachtungs- und Beschreibungsmöglichkeiten man mit einem konstruktivistischen Ansatz gewinnt.

Produktbeschreibung
Gesellschaften brauchen griffige Formeln zur Selbstbeschreibung. Dazu gehören seit einiger Zeit »Mediengesellschaft« und »Medienkultur«. In die Kontroversen um die Begründung und Verwendung solcher Formeln mischt sich Siegfried J. Schmidts konstruktivistischer Entwurf einer Medienkulturwissenschaft ein und führt vor, welche Beobachtungs- und Beschreibungsmöglichkeiten man mit einem konstruktivistischen Ansatz gewinnt.
Autorenporträt
Siegfried J. Schmidt, Prof. em., geb. 1940, studierte Philosophie, Germanistik, Linguistik, Geschichte und Kunstgeschichte in Freiburg, Göttingen und Münster. Promotion 1966 über den Zusammenhang zwischen Sprache und Denken von Locke bis Wittgenstein. 1965 Assistent am Philosophischen Seminar der TH Karlsruhe, 1968 Habilitation für Philosophie, 1971 Professor für Texttheorie an der Universität Bielefeld, 1973 dort Professor für Theorie der Literatur. Seit 1979 Professor für Germanistik/ Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität-GH Siegen, ab 1984 Direktor des Instituts für Empirische Literatur- und Medienforschung (LUMIS) der Universität Siegen. 1997 Professor für Kommunikationstheorie und Medienkultur an der Universität Münster. 1997-1999 Direktor des Instituts für Kommunikationswissenschaft.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.11.2000

Er hat den Hut auf
Aktanten auf dem Laufsteg: Siegfried J. Schmidts Weltenbaukasten

Der Konstruktivismus ist ein alter Hut aus der Garderobe Kants, unter dem er zu der Ansicht kam, daß wir die Dinge nur insofern erkennen können, als wir dafür organisiert sind. Zusammenhang aber ist gar nicht in den Objekten gegeben, sondern wird als Akt der Selbsttätigkeit von Subjekten hergestellt. Für das Erkennen der Welt kommt also ein Realismus als Erklärungsgrund nicht in Frage, sondern lediglich eine Idealität des Zwecks.

Wenn ein Leser diesen alten Hut heute aufsetzt, wird er zum "Beobachter zweiter Ordnung" und zu einem "autonomen System". Die Welt als Text kann er dann nicht verstehen, weil der auch ein autonomes System ist. Das übt aber irgendwie einen Reiz aus, und der führt bei dem Beobachter seltsamerweise zu einer "interpretierenden Aktivität". Die wiederum erzeugt "selbstreferentiell ein autonomes Resultat, dessen Intersubjektivierbarkeit allein durch biologische und soziale Parallelitäten zwischen Aktanten gewährleistet ist". Das Resultat sagt nichts über den Text und die Welt aus, sondern nur etwas über den Beobachter in bezug auf ein Medium. Die theorien- und methodengeleitete "Erfindung" solcher Unterscheidungen möchte der Hutträger dann der Gesellschaft als "empirische Medienkulturwissenschaft" verkaufen. Die soll der Kulturindustrie "Beiträge zur Lösung von Problemen im weiteren Sinne" liefern.

Diese Beiträge liegen gewöhnlich in Form von Texten vor. Die kann der Mann mit dem Hut auch nicht verstehen. Das ist nur scheinbar ein Problem, das von der Medienkulturwissenschaft nicht gelöst werden kann. Kann es aber doch: durch prozessuale Problemverschiebung in transzendentaler Tradition. So richtet sich die konstruktivistische Medientheorie auf die "Beobachtung von Beobachtung . . . von Beobachtung . . ." und immer so fort. Das nennt der Mann mit dem Hut "Endgültigkeit der Vorläufigkeit". Das klingt nicht nur faszinierend, sondern ist auch praktisch folgenreich, weil es "die Tätigkeit der Aktanten in allen Medienberufen kognitiv, kommunikativ und ethisch in einem neuen und problematischen Licht erscheinen läßt" und somit pausenlos neue Unterscheidungen und Problemstellungen erzeugt. Das geht in der "Medienkulturgesellschaft" alles so schnell, daß gewöhnliche Menschen nicht mitkommen. Deshalb brauchen wir "Differenzmanagement".

"s. j. schmidt" ist ein lange bewährtes Markenzeichen für kulturwissenschaftliche Theoriewaren und konkrete Poesie. Die Nachfrage ist zwar mäßig, um so kreativer zeigt sich die Marketing-Abteilung. Sie weiß, daß unsere Medienkulturgesellschaft unbedingt "griffige Formeln zur Selbstbeschreibung" braucht, vorzugsweise optimistische. Alle Jahre wieder wird deshalb der alte Hut als brandaktuelle Kreation annonciert. Das Modell dieses Herbstes trägt den vermutlich Calvin Klein weggeschnappten Namen "Kalte Faszination" und soll "einen neuen Anlauf zur Entwicklung konstruktivistischer Ansätze (in) der Medienforschung" behüten. In dem neuen Katalog ist s. j. schmidt ausweislich der Anzahl der Zitate global die Top-Agentur, viel wichtiger als die Firmen N. Luhmann oder gar N. Bolz & Co.

s. steht für Siegfried, wofür j. steht, ist einer größeren Medienöffentlichkeit nicht bekannt, die Ähnlichkeit mit dem abgekürzten Namen einer älteren global denkenden Agentur ist sicherlich so zufällig wie die mit Joseph Beuys. Allerdings weist das Markenzeichen "in eine bestimmte Richtung und weckt vor allem Affekte: Hosianna und steinigt ihn!" Da ist eine intertextuelle Differenz zu einem älteren Buch zu beobachten, die nebenbei die interessante Frage aufwirft, ob auf ein autonomes System beziehungsweise auf einen Beobachter zweiter Ordnung auftreffende Steine auch Konstruktionen sind oder Gegenstände im älteren Sinne.

Das soll ich sein

Da Texte etwas über den Beobachter aussagen, hat sich jedenfalls der konkrete Poet in s. j. schmidt entschlossen, dem Buch eine "öffentliche Autobiographie" voranzustellen, damit Zweifel über dessen Bedeutung gar nicht erst aufkommen. Sie besteht aus allen Jahreszahlen seit Siegfried J. Schmidts Geburt (1940) und markiert so den Beginn einer neuen Zeitrechnung. Auch enthält der Katalog ein Glaubensbekenntnis des Autors als Produzent: "alles wird immer gemacht / weil alles immer gemacht wird" und so weiter. Siegfried J. Schmidt lüftet vermutlich seine Kopfbedeckung nie, auch nicht "im täglichen Leben (also als Beobachter erster Ordnung)", wenn er unermüdlich der konstruktivistischen "Verpflichtung zur Selbstbeobachtung" nachgeht. Dabei hat er unter anderem erkannt, daß ihn schon seit den 70er Jahren ein "Text-Aktant-Kontext-Syndrom" umtreibt. Deshalb gibt der Mann mit dem Hut "ernsthaft zu berücksichtigen, daß andere Menschen in meiner Erfahrungswirklichkeit nur als meine systemspezifischen Konstrukte vorkommen".

Das qualifiziert ihn vorzüglich zum ersten Differenzmanager einer reformulierten Kultur, die er "das sozial verbindliche und sozialisatorisch reproduzierte Programm zum Abgleich (sozusagen zum Tuning) individuell erzeugter Wirklichkeitskonstrukte" nennt, "wobei in diesem Tuning die Kriterien der Wirklichkeitsgeltung entwickelt, erprobt und legitimiert werden". Wirklichkeit aber ist heute nur das, "was wir über Mediengebrauch als Wirklichkeiten konstruieren, woran wir dann glauben und gegenüber dem wir entsprechend handeln und kommunizieren". So leuchtet ein, daß die Medienkulturwissenschaft die Rolle einnehmen muß, die vordem die Theologie und dann die Philosophie inne hatten. Diese prominente Position setzt "intensiven Umgang mit Medien, also Medienerfahrung nicht etwa Medienschonung voraus". Jene hat der Mann mit dem Hut, nichts Mediales ist ihm fremd. "Viele Eltern stehen heute verständnis- oder gar fassungslos vor der emotionalen Überwältigung, mit der Musikvideos und deren Heroen als Religionssurrogat genutzt werden, man betrachte sich nur das Video von Michael Jacksons Auftritt in Budapest." Da ist die Agentur s. j. schmidt gern behilflich und erklärt den besorgten Eltern, wie "Identitätsbricolage" mit "selbst- und fremdbeobachteten Differenzsetzungen" operiert, und daß das alles gar nicht schlimm ist.

Das Ganze ist eine Sache, die man "ernst nehmen" muß, wie der Autor unaufhörlich betont. Da wird jede Erfahrung "diszipliniert" schon von vornherein in den Dienst des Konstruktivismus gestellt und muß den wissenschaftlichen Kriterien genügen, die Siegfried J. Schmidt seit langem selbstreferentiell, das heißt mit Selbstzitaten predigt. Nämlich, "daß die Ergebnisse des systematisch geregelten expliziten Erfahrungmachens kommunikativ stabilisierbar sind beziehungsweise stabilisiert werden, insofern im Diskurs einer relevanten disziplinären epistemischen Gemeinschaft Konsens über die Konzepte, Kritiken und Ergebnisse dieses Erfahrungmachens hergestellt werden kann". Das wird so oft wiederholt wie Slogans in der Werbung, die der Mann mit dem Hut sehr bewundert.

Mit dem Konsens stand es jedoch bisher nicht zum besten, im Gegenteil. Zwei konstruktivistische Strategien halfen da. Wenn die eine Gemeinschaft nicht zustimmen mag, sich also irrelevant zeigt, so konstruiert man sich ein andere. Deshalb ist der Mann mit dem Hut nun nicht mehr Germanist in Siegen, sondern Kommunikationstheoretiker in Münster. Damit der Leser ihm den Kontakt mit der neuen globalen Gemeinschaft auch glaubt, wird im Buch ab und zu eine zustimmende E-Mail abgedruckt. Und überdies: was noch nicht ist, kann ja noch werden. Endgültigkeit des Vorläufigen heißt auch: Permanenz der Futurität. So kommt die Produktion niemals ins Stocken, und "die Freiheit der Gegenstandslosigkeit" ist endgültig vorläufig gesichert.

Ignoranz stellt sich selber bloß

Ob heiße oder kalte Medien, ob "Hosianna!" oder "Steinigt ihn!", ob besorgte Eltern oder desorientierte Kinder, der Onkel mit dem Hut behält kühlen Kopf. Nur über eine arthritische Aktantin und ihre "chronische wissenschaftstheoretische und methodologische Schwäche" regt er sich ziemlich auf, nämlich über seine verlassene "spekulativ-hermeneutische Großtante", die Germanistik. Ihr hat er nicht verziehen, daß sie ihm einst "Anpassungswillen, der vor nichts zurückschreckt", vorgeworfen hat. Da wird der Onkel "bitter oder scharf" und blickt im Zorn zurück auf die Familie: "Nach dreißig Jahren Reformdiskussion etwa in der Germanistik muß man wohl desillusioniert feststellen, daß die überwiegende Mehrzahl der Germanistinnen und Germanisten reformunwillig ist und daß sich das soziale System Germanistik als erstaunlich konservativ erweist." Germanisten klammern sich ängstlich an Texte, kommunizieren undiszipliniert und produzieren unwissenschaftliches Wissen, das niemand braucht, das kommunikativ nicht "anschlußfähig" ist.

Und solche Leute spötteln auch noch über s. j. schmidt und meinen, er habe sich nunmehr vollends im Cyberspace verlaufen. Aber, so tröstet sich der Mann mit dem Hut, "Ignoranz stellt sich halt gerne selber bloß". Die Tante Germanistik hat nämlich längst ihre "Selbst-Fossilisierung" betrieben, und wenn sie ihren "intellektuellen Ausverkauf" so weiterbetreibt, ist sie, "in Zeiten knappen Geldes", bald pleite. "Die Abonnements-Abnehmerschaft für kulturwissenschaftliche Produkte schmilzt dahin." Auch das "Heer der Lehrer schwindet, die zwei Jahrhunderte lang jeden, aber auch jeden literaturwissenschaftlichen Ausstoß bis hin zu völkischem Rassismus verkraftet und brav an ihre Schüler weitergegeben haben". So geschieht der Tante nur recht, und Deutschlehrer werden in der Medienkulturgesellschaft über kurz oder lang durch Differenzmanager ersetzt, denn Schüler sind schon "heute multimediaerprobte Mediennutzer, deren Wahrnehmungs- und Sinngebungsprozeduren durch Medienerfahrungen diverser Art geprägt sind".

Aber der Onkel mit dem Hut will am Ende nicht so sein und macht für den Fall der Reue einen Vorschlag zur Güte. Er stellt kostenlos ein "Argumentationsdesign" zur Verfügung, das auf eine mehr oder weniger freundliche Übernahme des maroden Betriebs hinausläuft. Die Literaturwissenschaft soll sich zu einer Tochterfirma seiner Agentur, "zu einer speziellen Medienkulturwissenschaft wandeln". Nur dann wird sie "größere Erfolge bei der Produktion und Verwertung anwendungsrelevanten Wissens" erzielen und von der "Kulturindustrie" den verdienten "Lohn" erhalten. Wird die alte Tante auf dieses großherzige und lukrative Angebot eingehen oder starrsinnig und spekulativ-hermeneutisch weiterwursteln bis zum sicheren Untergang? Fortsetzung folgt im nächsten Buch von s. j. schmidt. Titelschutz ist vermutlich schon beantragt: Kaltes Grausen.

FRIEDMAR APEL

Siegfried J. Schmidt: "Kalte Faszination". Medien. Kultur. Wissenschaft in der Mediengesellschaft. Verlag Velbrück Wissenschaft, Weilerswist 2000. 407 S., geb., 79,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Friedmar Apel hat offensichtlich das ganze neue Buch von Siegfried J. Schmidt gelesen und artikuliert nun in einer ausführlichen Kritik erhebliche Verdauungsschwierigkeiten mit Schmidts Medientheorien. Klar wird immerhin, dass Schmidt offensichtlich die Medien als zentrale Produzenten von "Wirklichkeit" ansieht und dass Schmidt diesen Begriff der Wirklichkeit, wie alle Medienwissenschaftler, nur mehr als ein bloßes Konstrukt ansieht. Wirklichkeit sei heute nur das, so zitiert ihn Apel, "was wir über Mediengebrauch als Wirklichkeiten konstruieren". Apel berichtet dann derart angewidert von Schmidts Begriffsproduktion, dass man vor lauter spöttisch herbeizitierten "Text-Aktant-Kontext-Syndromen", "Differenzmanagern" und "Intersubjektivierbarkeiten" leider auch in der Kritik so gut wie gar nichts mehr versteht. Am Ende wird dann aber deutlich, dass zumindest Schmidt selbst seine Medientheorie für derart revolutionär hält, dass er ihr die Germanistik fürderhin unterordnen will. "Kaltes Grausen" sind Apels letzte Worte.

© Perlentaucher Medien GmbH