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Produktdetails
  • Verlag: Kehayoff
  • 2. Aufl.
  • Seitenzahl: 649
  • Deutsch
  • Abmessung: 320mm
  • Gewicht: 3788g
  • ISBN-13: 9783934296145
  • Artikelnr.: 25291238
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 17.11.2001

HubertFilser
Lasst uns ihre Geschichten erzählen
Die Namen der Nummern – Über den Umgang mit Bildern aus Auschwitz in „Das letzte Album” und „Vor der Auslöschung”
Die Stiefel der Soldaten auf dem Bild sind schmutzig. Es ist Krieg. Aber die Männer mit ihren polnischen Freundinnen blicken entspannt, sie singen. Viele der Soldaten tragen schwarze Schulterklappen, einer ein Eisernes Kreuz 1. Klasse. Es ist eine von insgesamt 2400 Fotografien aus einem historisch einzigartigen Konvolut privater Fotografien polnischer Juden, die in Auschwitz nach der Befreiung des Lagers gefunden wurden.
In Ann Weiss’ Bildband „The Last Album”, das den Ermordeten von Auschwitz-Birkenau gewidmet ist, ist das Foto im Kapitel „Zionisten während des Krieges” veröffentlicht. Unkommentiert. Das Bild zeigt vermutlich sogar SS- Soldaten. „Das ist ein Skandal”, sagt Arno Lustiger, Publizist, Historiker und Überlebender von Auschwitz, der heute in Frankfurt lebt. Ein Fach im Bücherregal, das die ganze Breite des Zimmers ausfüllt, enthält die eigenen Arbeiten zum Holocaust. „Das wird von mir übrig bleiben.” Auf dem Fernsehapparat liegt eine Videokassette: „La vita è bella” von Roberto Benigni. Viele Gemälde von Frauen an der Wand. „Ich mag Frauen”, sagt Lustiger. Auf seinen Unterarm ist die Nummer A 5922 eintätowiert, eine Auschwitznummer.
Ein Skandal – dieses erste Urteil ist schnell gefällt, und es kann auch gar nicht anders lauten. Denn das Foto mit den SS-Männern in diesem Zusammenhang signalisiert Verächtlichkeit. Und keiner hat es gemerkt, auch nicht der Piper-Verlag, der gerade die Übersetzung „Das letzte Album – Familienbilder aus Auschwitz” herausgebracht hat.
Lebendig unter Toten
Die amerikanische Bibliothekarin Ann Weiss hat „The Last Album – Eyes from the Ashes of Auschwitz-Birkenau” zunächst bei W.W. Norton in New York veröffentlicht. Die Autorin macht sich zur emotionalen Fürsprecherin der „Augen aus der Asche von Auschwitz”. Keine Kleinigkeit, und eine Angelegenheit, die Sorgfalt erfordert. Sie erzählt von ihrem Besuch in Auschwitz, 1986, als sie als erste westliche Journalistin die Bilder in einem abgeschlossenen Raum entdeckte. Ein Museumsmitarbeiter habe sie dorthin geführt, sie habe ihre Gruppe verloren, sei völlig benommen und wie in Panik durch das Gebäude und über das Gelände gelaufen: „Ich fühlte mich wie der einzige Lebende unter all den Toten.” Als Weiss mit dem Soldaten-Bild konfrontiert wird, gibt sie sich erschüttert. „Sie sind der erste auf der Welt, der mir das sagt.” Sie werde sofort auf ihrer Internet-Seite einen Hinweis bringen. Arno Lustiger aber kann sich „nicht vorstellen, dass sie das nicht gesehen hat”.
Diese Geschichte erzählt etwas über den Umgang mit Bildern, mit Geschichte. Man darf fragen, ob Emotionalisierung ein guter Ratgeber ist, wenn es darum geht, Tote zum Sprechen zu bringen, ob man dann nicht moralisch so aufgeladen ist, dass kritische Fragen hinter dem Auftrag zurückstehen. Die falschen Namensschreibweisen sind hier nur ein Indiz. Es stimmt etwas nicht, wenn nicht nur kleine, sondern auch derart eklatante Fehler wie das Soldatenfoto noch in der deutschen Buchausgabe unerkannt bleiben. Interessant macht diesen Fall zudem, dass es ein zweites Buch gibt, das dieselben Bilder aus Auschwitz verwendet und in diesem Jahr als „Mahnmal” und „Grabstein für die Toten” gefeiert wurde: „Vor der Auslöschung” .
Was sind das für Bilder? Zunächst einmal 2400 zufällig in Auschwitz- Birkenau gefundene Schnappschüsse, Hochzeitsfotos, Gruppenaufnahmen, aus der Kindheit, aus der Familie. Sie gehörten Juden überwiegend aus dem polnischen Bedzin und Sosnowiec, die nach Auschwitz deportiert wurden. Bedzin hatte damals knapp 50000 Einwohner, Sosnowiec fast 110000; die Städte im Schwerindustrie- und Kohlebergbaugebiet östlich von Kattowitz, rund 40 Kilometer nordwestlich von Auschwitz, waren so nahe zusammen wie Frankfurt und Offenbach, mit einer Straßenbahn verbunden. 1943 gab es einen Transport nach Auschwitz. „Wir vermuten, dass die Menschen nicht wussten, dass sie in Lager und damit in den Tod fuhren. Wir vermuten, dass sie Pässe aus Lateinamerika dabeihatten, die ihnen Sicherheit garantierten. Weil sie dachten, sie würden in die Freiheit reisen, hatten sie so viele persönliche Fotografien dabei”, sagt Hanno
Loewy vom Fritz-Bauer-Institut, Frankfurt, der sechs Jahre lang zusammen mit Mitarbeitern des Holocaust-Museums in Auschwitz versuchte, die Bilder zuzuordnen, den Menschen darauf einen Namen zurückzugeben. Vermutlich wurden die meisten in den Baracken des so genannten „Kanada”-Baus gefunden. Dort wurde den Deportierten ihre Habe abgenommen, die Sachen wurden sortiert in das, was verbrannt, und das, was gesammelt und ins Reich geschickt wurde. Häftlinge des Kanada-Kommandos haben die Fotos nicht in die dafür bestimmten Öfen geworfen.
Mit Emotionen beladen sind die Fotografien. Wie aber sind diese Gefühle freizulegen – und zu welchen Bedingungen? Man kann hier den Vergleich ziehen zu den Bildern der Wehrmachtsausstellung. Da gab es von Anfang an kontroverse Diskussionen darüber, was die Bilder wirklich zeigen. Ehemalige deutsche Soldaten reagierten heftig darauf, es gab Diskussionen wie selten bei einer deutschen Ausstellung. Auch hier war Sorgfalt angebracht, mussten Fehler korrigiert werden. Die gesamte Ausstellung wurde überarbeitet, etwas, das man nun dem Piper-Verlag nur empfehlen kann. Es gibt tatsächlich viele Fehler, manche hat Weiss mittlerweile selbst in einer Liste im Internet korrigiert, mit dem Hinweis, bei einer Neuauflage würden diese nicht mehr erscheinen. Piper kennt diese Liste offenbar nicht.
Das Buch beginnt mit einem Gedicht von Elie Wiesel: Lasst uns Geschichten erzählen – alles übrige muss warten. / Lasst uns Geschichten erzählen – das ist unsere oberste Pflicht. / Kommentare müssen zurückstehen, damit sie nicht verdrängen oder verschleiern, was sie enthüllen wollen ...
Nach dem Vorwort von Leon Wieseltier und der Einführung von James Young schildert Ann Weiss ihre Geschichte der Bilder. „Bücher werden normalerweise von den Lebendigen geschrieben. Dieses Buch ist anders. In ihm erheben vor allem die Toten ihre Stimme. Doch sie sind nicht tot... noch nicht”, schreibt Weiss. Loewy spricht davon, dass die Tochter polnischer Holocaust-Überlebender „an die Stelle der Toten” treten wolle: „Sie gibt vor, selbst nur der Bote zu sein, der den Fotos und den Menschen eine Öffentlichkeit verschafft, will aber immer das letzte Wort haben.”
Ann Weiss sieht sich als Stellvertreterin der Leidenden. So hat auch der Moment, als sie die Bilder entdeckt, die Aura einer Erscheinung: „Es war eine Epiphanie, als mich diese Gesichter aus den Alben anblickten.” Ihre Form der Geschichtsbetrachtung bekommt den Anschein eines quasi-religiösen Auftrags, als müsse man vor sich moralische Geschütze auffahren, um paradoxerweise die toten Opfer noch einmal zu schützen. Die Wahrheitssuche folgt der Emotion, Weiss trifft zufällig den Auschwitzbefreier, einen „russischen Juden”, der darauf bestanden habe „Jiddisch zu sprechen”. Dabei war der Befreier von Auschwitz gar kein Jude, sondern der sowjetische General Wassili Petrenko.
So schiebt sich zwischen die schwer zu rekonstruierende, noch schwerer zu begreifende Vergangenheit ein fiktives Element. Es gibt keinen Grund, der fremden Befindlichkeit zu folgen, wenn man nun, wie bei diesem einzigartigen Konvolut, endlich etwas vor sich hat, das für sich sprechen kann: still, nicht sentimental, nicht weinerlich. Ist es nicht schwer genug, jüdische Dokumente vom Ballast der Gefühle zu befreien und unverstellt auf das hier sich sammelnde Leben zu blicken? Ist es nicht toll, dass die Bilder einfach nur banal sind, eben nicht ergreifend? Befreit von der Bürde, die ihnen die Geschichte auferlegt hat?
Als sie noch nicht Opfer waren
Weiss zitiert die Geschichte eines Zeugen, eines Überlebenden von Auschwitz. Sein Name wird nicht genannt. Er erzählt, wie möglicherweise die Bilder gerettet wurden (was bis heute nicht geklärt ist); er berichtet, dass sie bei
„einem sehr tapferen Führer im Untergrund” landeten mit dem Namen David Schmulevsky. Arno Lustiger schüttelt bei dieser Episode nur ungläubig den Kopf: „Abgesehen davon, dass der Name falsch geschrieben ist – er war ein wichtiger Zeuge im Frankfurter Auschwitz-Prozess –, ist der Bericht eine erfundene Geschichte. Weshalb nennt Ann Weiss nicht den Namen des Überlebenden?”
Lustiger hat Menschen auf den Bildern identifiziert, zusammen mit anderen Auschwitz-Häftlingen wie Siegmund Pluznik. Er hängt an diesen Bildern, weil sie die jüdische Mittelschicht Polens zeigen, die sich von der Tradition ihrer Vorväter schon mehr oder weniger entfernt hatte. „Für mich zeigen sie die Normalität, eben nicht orthodoxe Juden mit exotischen Locken.” Die jüdische Welt im 20. Jahrhundert hat sich gewandelt. Ann Weiss zeigt das ebenfalls – trotz der vielen Fehler in der Schreibweise der Namen, trotz falscher Bildlegen. Und leichter zugänglich als der Band „Vor der Auslöschung”. Hanno Loewy betont ebenso wie die Münchner Verlegerin Gina Kehayoff, dass sie keine Auswahl aus den 2400 Bildern treffen wollten. Er spricht von einer zweiten „Selektion”, schreibt davon, dass den gefundenen Bildern „kein Narrativ” mehr zur Seite stünde. „Die Bilder, die uns die in Birkenau vergasten und verbrannten Menschen hinterlassen haben, sind
abgeschnitten von ihrer eigenen Zeit und dem Leben, das sie hervorbrachte. Der Wunsch nach Kontinuität und Sinnerfüllung, mit dem wir sie betrachten und hoffen, dass den Namenlosen Namen gegeben werden, dass wenigstens ein paar der Verstummten ihre Sprache wieder finden und erzählen, was ihnen geschah, ist so unstillbar wie ohnmächtig.”
Entstanden ist ein vier Kilogramm schweres Dokument, das die Toten ehrt. Das den Nummern von Auschwitz ihre Namen zurückgibt. Der Begleitband wird zur Grabinschrift. Dabei hat es der Betrachter schwer mit dem Gewicht, den spröden Farben, dem Format – man braucht einen Tisch, um die nach Bild und Text getrennten Bände durchzuarbeiten. Sie versperren sich dem schnellen Gefühl. So wandelt sich dieses Buch zu einem Bilddenkmal, das man lesen wollen muss. Und die Bilder darin erhalten ihr privates Innenleben zurück.
Zweierlei Andenken
Zwei Bücher, zwei Arten, zu gedenken, zwei Zugänge zur Geschichte. Weiss’ Buch zerfällt dabei in zwei Teile, in die Geschichte ihrer persönliche Betroffenheit und in die lebendige Schilderung der Familiensituation, die auch Lustiger für gelungen hält. Sie hat mehr als elf Jahre Menschen gesucht, die ihr von ihrem Schicksal und dem der anderen erzählten. Die Bedingung dabei war, dass immer sie selbst Projektionsfläche dieses Leidens sein würde, Stellvertreterin. Ihr das vorzuwerfen, führt nirgendwo hin, denn der persönliche Einsatz dieser Frau war sicher enorm.
Doch Weiss’ Selbstschau und der Mangel an Sorgfalt mindern die Kraft der Auschwitz-Bilder. Schon in der Verlagsankündigung nimmt man es nicht genau: „Ann Weiss hat im Auschwitz-Archiv
einen bewegenden Fund gemacht: Familienalben von Opfern des Holocaust .. . Sie hat Fotoalben gesammelt und aufbereitet, die jüdische Familien mit nach Auschwitz genommen haben.” Dass Weiss keine Familienalben gefunden hat, die Bilder in Alben eingeklebt waren von Mitarbeitern des Museums, dass sie keine Fotoalben gesammelt, sondern lediglich Bilder in jahrelanger Arbeit abfotografiert hat, stört niemanden. Niemand aus dem Verlag habe mit ihr jemals Kontakt aufgenommen, sagt Ann Weiss.
Schnell musste das Album auf den Markt, als drittes, wichtiges Buch zum Holocaust der jüngsten Zeit, nach dem umstrittenen Finkelstein-Buch „Die Holocaust-Industrie” und John Sacks „Auge um Auge – Opfer des Holocaust als Täter”. Hanno Loewy wertet das als „Versuch des Verlags, zu beweisen, dass man nicht gegen Aufarbeitung ist, sondern nur gegen die Holocaust-Industrie”. Dass kein deutscher Lektor offensichtliche Fehler im Band entdeckt hat, schadet dem Andenken der Toten. Dabei wäre sie zu korrigieren auch ohne Fachkenntnisse möglich gewesen. Wenn zum Beispiel dieselbe Frau in der Bildlegende einmal als Ada Neufeld, dann als Ada Noichel bezeichnet wird. „Jeder Mensch”, sagt Arno Lustiger, „hat einen Namen, den soll man in Ehren halten, da muss man sich Mühe geben.”
Deutsche Soldaten in Polen zeigt das obere Foto, das in dem Bildband „The Last Album” über die Opfer von Auschwitz-Birkenau ausgerechnet das Kapitel „Zionisten im Krieg” illustriert. Nicht die einzige Ungenauigkeit in dem jetzt auch deutsch erschienenen Buch mit Fotos, die nach der Befreiung des Lagers gefunden wurden. Es sind Bilder, die die Opfer nicht als Opfer zeigen, sondern davon erzählen, wie diese Menschen gelebt haben. Fotos aus dem Familienalbum, wie das links von Vater und Sohn, in dem als Bild im Bild auch noch die Generation der Großeltern präsent ist. Oder das offensichtlich beim Fotografen gestellte Familienfoto, das – in einem Absatz versteckt, im Saum der Jacke verborgen– zerknickt und zerrissen ist.
Fotos: W. W. Norton
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.04.2001

Ein Koffer voller Leben
Sensationeller Fund in Auschwitz: Fotografien aus der Vorzeit

Tausendmal ist es beschrieben worden: das Ablegen der Kleidung, das Ausleeren der Taschen. Immer die gleiche Prozedur geht der Beraubung der Persönlichkeit voraus. Bevor sie die bürgerlichen Rechte, die Menschenwürde oder das Leben verlieren, wird den Menschen die Welt genommen, die sie in der eigenen Tasche tragen. Es sind Bruchstücke nur, aber jedes Bruchstück enthält das Ganze. Ein Feuerzeug oder ein Kamm, ein Stift, eine Postkarte, ein Notizbuch und dann Fotos, die man bei sich trägt. Manchmal zufällig, oft als ausgesuchte Begleiter in die Fremde. Das vergangene Leben als Trost, Erinnerung und Hoffnung. Nachdem dies verloren ist, hat man eine Grenze überschritten, hinter der die Selbstbewahrung schwer wird.

Die Fotografien, die auf dieser Seite versammelt sind, sind gewissermaßen aus der Tasche der Geschichte gefallen, zufällig. Ihre Sammlung ist entstanden durch den Mord an den meisten ihrer Besitzer, in Auschwitz. Die Bilder wurden mit großer Wahrscheinlichkeit nach der Befreiung des Lagers in den Baracken des sogenannten "Kanada" gefunden, wo die Dinge sortiert wurden, die man den Deportierten abgenommen hatte. Die ganze Sammlung umfaßt rund 2400 Bilder. Die Häftlinge, die mit dem Sortieren beschäftigt waren, haben sie nicht in jenen speziellen Ofen geworfen, in dem sonst Kleidung und persönliche Erinnerungsstücke verbrannt wurden. Aus irgendeinem Grund haben sie sie in einem Koffer aufbewahrt.

Später wurden die Fotos von Mitarbeitern des Museums aus dem Koffer genommen und in Alben geklebt. Diese Alben stellte man aus den Seiten der Kassenbücher her, wie man sie in der Buchhaltung verwendete. Teile dieser Sammlungen wurden bereits in Ausstellungen gezeigt. Allerdings erwies sich das Lösen der Bilder aus den Alben als problematisch, da die meisten der Fotografien auf ihrer Rückseite Hinweise auf ihre Herkunft trugen, die durch das Herauslösen verlorenzugehen drohten. In Kooperation des Museums in Auschwitz, des Fritz-Bauer-Instituts in Frankfurt und des Holocaust Memorial Museum in Washington und mit der Unterstützung zahlreicher Personen, unter ihnen Johannes Mario Simmel, der deutschen Bundesländer sowie von Firmen und Institutionen von der Deutschen Bundesbank bis zur Alfred Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung wurden die Fotos einer aufwendigen Restauration unterzogen und kürzlich in zwei Bänden veröffentlicht.

Vor allem ist es - nicht zuletzt dank der Hilfe von Überlebenden des Lagers - in fünf Jahren gelungen, eine Reihe von Personen, die auf den Fotos abgebildet sind, namhaft zu machen. Der weit überwiegende Teil der Fotografien allerdings bleibt weiterhin anonym. Mehr als die Hälfte der Rückseiten ist in verschiedenen Sprachen beschriftet, auch Bild-Postkarten sind darunter. Hanno Loewy, einer der Herausgeber der Bände, bemerkt in seinem Vorwort: "Indem wir beginnen, die Bilder aufeinander zu beziehen, versuchen wir, sie zu verflüssigen, ihnen Bewegung, Leben einzuhauchen, den Tod zu überwinden. Doch jene Allmachtsphantasie des Demiurgen, die wir auf jedem Flohmarkt empfinden, wenn wir eine Kiste mit Fotografien durchwühlen, auf der Suche nach einer Geschichte, an der wir teilhaben können, ist hier ganz und gar bodenlos."

Der größte Teil der Bilder zeigt jüdische Familien aus Bedzin, einer Industriestadt von fünfzigtausend Einwohnern im Schwerindustrie- und Kohlebergbaugebiet östlich von Kattowitz, rund vierzig Kilometer nordwestlich von Auschwitz. Die Personen, die hier zu sehen sind, waren überwiegend Angehörige der wohlhabenden jüdischen Mittelschicht, und die Fotos bilden Szenen aus der Freizeit ab oder sind beim professionellen Fotografen im Studio entstanden.

Die Herausgeber haben versucht, in einzelnen Fällen Lebensgeschichten zu rekonstruieren und Menschen zusammenzubringen, die einmal zusammengehörten. Das war insbesondere dort möglich, wo man die Identität mehrerer Familien ermitteln konnte. So heben sich in der Sammlung die Fotografien mehrerer Familien deutlich hervor: der Familien Broder und Kohn, Koplowics, Malach und Huppert. Die Fotosammlung wird nun fester Bestandteil der Ausstellung des Museums in Auschwitz. Ihre Bedeutung ist persönlicher Art: Im Hinblick auf jene, die von Überlebenden erkannt wurden und vielleicht in Zukunft noch erkannt werden.

Daneben haben diese Bilder einen unschätzbaren Wert für die Gedächtniskultur. Denn die abgeschnittenen Haare, die Schuhe, die Goldkronen und alles, was man den Deportierten sonst noch abgenommen hat, weisen im Museum Auschwitz auf den Akt der Gewalt und der Vernichtung. Die Menschen, denen das angetan wurde, sind dabei schon nicht mehr sichtbar. Sie sind, wenn wir die Überreste sehen, ihrer Persönlichkeit beraubt. Sie gehen in die Millionenzahl der Vernichteten ein, werden abstrakt, sind anders als die, die im Museum stehen. Mit Hilfe der Fotografien aber bekommt ihr Leben wieder eine Innenseite, in der Momente einer glücklicheren Zeit, eines unversehrten Lebens ruhen - mit Hilfe der Fotografie können wir uns in die Augen sehen.

Daß einige tausend der Ermordeten durch die Bilder ihr Gesicht, ihre Freuden und ihr eigenes Bild zurückerlangen, ist etwas so ganz anderes als jene politische und historische "Erinnerungsarbeit" mit ihren gegenwartsbezogenen und nicht selten selbstsüchtigen Ansprüchen. Es ist ein bergendes Erinnern, das unmittelbarer als manches große Symbol eine gemeinsame Welt zeigt, die zerstört wurde. Eine Welt, die unserer gleicht, immer dort, wo Familien, Freunde und Liebespaare beieinander sind. Man pflegt heute, aus manch gutem Grund, einem universalistischen Gedenken zu mißtrauen, in dem alle Opfer, ob Juden, politisch Verfolgte oder etwa polnische Christen, in ihrem Schicksal gleich sind. Angesichts dieser Fotografien aber scheint es angebracht, den universalistischen Aspekt nicht ganz zu unterdrücken, weil er hier in seiner alltäglichsten und offensichtlichen Form anwesend ist.

Freilich kann man auf den Fotos schon sehen, wie die Juden durch die Armbinde mit dem Davidsstern zu dem gemacht werden, was nach dem Willen des nationalsozialistischen Deutschlands vernichtet werden sollte. Avihu Ronen, der selbst aus Bedzin stammt, schildert in einem ebenso genauen wie erschütternden Bericht, wie seine Welt, die Welt, in der es ein "Fürstenberggymnasium" gab, unterging - und mit ihr seine Familie. Die Fotografien zeigen uns eine Kipplage, in der von einem Moment zum anderen Menschen auf Grund ethnischer und religiöser Zugehörigkeit zu Objekten der Verfolgung und Vernichtung gemacht werden. Es ist dies vielleicht der letzte Moment, der nachvollziehbar ist, und es ist zugleich der erste Moment des Schreckens.

MICHAEL JEISMANN

"Vor der Auslöschung . . . Fotografien, gefunden in Auschwitz", herausgegeben von Kersten Brandt, Hanno Loewy und Krystina Olesky, Staatliches Museum Auschwitz-Birkenau 2001, Kehayoff Verlag, München, 198,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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