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Produktdetails
  • Verlag: Grupello
  • Seitenzahl: 383
  • Abmessung: 245mm
  • Gewicht: 838g
  • ISBN-13: 9783933749284
  • ISBN-10: 393374928X
  • Artikelnr.: 26246054
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.03.2001

Klein wie ein Ozean
Nyota Thuns Majakowski-Biographie · Von Reinhard Lauer

"Majakowski war und bleibt der beste, begabteste Dichter unserer Sowjetepoche. Gleichgültigkeit gegen seine Erinnerung und seine Werke ist ein Verbrechen." Dieses Stalin-Wort aus dem Jahre 1935 galt einem Dichter, gegen den die Agitatoren der Sowjetliteratur am Ende der zwanziger Jahre zur Treibjagd geblasen hatten und der sich in einer ausweglosen Lage 1930 selbst den Tod gab.

Der Kult um den "Barden der russischen Revolution" wurde in der Folgezeit zur Staatsangelegenheit, während die futuristischen Anfänge Majakowskis verschwiegen wurden. So entstand ein Majakowski-Bild, das aus einem der sensibelsten Lyriker und erfindungsreichsten Wortartisten einen grobschlächtigen politischen Propagandisten und am Ende sogar einen Vertreter des sozialistischen Realismus machte - eine der übelsten Verfälschungen, die das sowjetische Regime an seinen Dichtern begangen hat. Nyota Thun räumt in ihrer Monographie zu Leben und Werk Wladimir Majakowskis den ganzen Schutt der Verfälschungen beiseite, um dem Dichter in all seinen Widersprüchen gerecht zu werden.

Die Verfasserin, Slawistin der ersten Stunde in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands, in der Folgezeit als Journalistin, Verlagslektorin und Hochschullehrerin in der DDR tätig, zählt zu jenen Literaturwissenschaftlern, deren Interesse mehr den "anrüchigen" Autoren und Entwicklungen der Sowjetliteratur galt - den bunten zwanziger Jahren, den Schriftstellern Bulgakow, Tynjanow, Platonow oder der Zwetajewa - als der verfestigten Literatur des sozialistischen Realismus. In einem früheren Majakowski-Buch hat sie 1993 bereits auf die malerische und dichterische Doppelbegabung ihres Helden hingewiesen. Dieser für das Verständnis Wladimir Majakowskis wichtige Blickpunkt wird auch in der vorliegenden Monographie gewahrt.

Das tiefsinnige Titelzitat, einem Gedicht aus dem Jahre 1916 entnommen, spielt auf die enorme Körpergröße und die wiederkehrenden psychischen Ausnahmezustände des ichbesessenen Dichters an. In gewaltigen Hyperbeln und paradoxalen Vergleichen spielt er seine unmögliche Befindlichkeit durch: klein wie der Große Ozean und arm wie ein Millionär, stammelnd wie Dante oder Petrarca, still wie der Donner und dunkel wie die Sonne - was für Goliathe haben ihn gezeugt, "so groß und so überflüssig"?

Längst war es an der Zeit, den tragischen Weg Majakowskis, eines der größten lyrischen Talente Rußlands, ohne parteiliche Verbrämung und beflissene Fehldeutung zu veranschaulichen; zu zeigen, wie er an der Überempfindlichkeit seines Ichs, an der Unersättlichkeit seiner Liebe und an der Unverbrüchlichkeit seiner Utopiegläubigkeit schließlich zugrunde ging.

Nyota Thun verfügt über sehr genaue Kenntnisse der Quellen und Werke Majakowskis, auch das persönliche, literarische, historische Umfeld und nicht zuletzt die Topographie seines Dichterlebens sind ihr bestens vertraut. Sie schildert die glückliche Kindheit in Georgien (Majakowski wurde 1893 als Sohn eines Forstmeisters in Bagdadi geboren), die harten Jahre in Moskau nach dem Tode seines Vater, als der Schüler bereits in politische Verschwörungen verwickelt und zu einer Gefängnishaft verurteilt wurde. Zunächst wollte er Maler werden, Gedichte schrieb er nur nebenbei. Nyota Thun betont, daß sich Majakowski erst 1923, nachdem er viele Jahre lang versucht hatte, seine Doppelbegabung als Maler und Dichter künstlerisch auszuspielen, endgültig für die Poesie als einzige Domäne seines Schaffens entschied.

Mit seiner legendären gelben Bluse und dem breiten Künstlerhut war Majakowski in der Vorkriegszeit die charismatische Gestalt der russischen Kubofuturisten. Virtuos wendete er die Verfahren des futuristischen "Wortneurertums" in zahlreichen seiner Gedichte an, ohne daß sich, wie so oft bei seinen Mitstreitern, das Inhaltliche im Wort- oder Lautgeflecht verlor. Bis zuletzt hat er an den Errungenschaften der futuristischen Poetik mit kämpferischer Konsequenz festgehalten.

Da für die Futuristen vom Schlage Majakowskis die Revolutionierung der Kunstmittel das künstlerische Pendant zur Oktoberrevolution bedeutete, war die Annahme des "sozialen Auftrages" für sie die logische Folge ihrer Kunst. In diesem Sinne stellten Majakowskis Propaganda- und Reklameverse für die Rosta-Agentur angewandte Poesie dar, handwerklich erstklassig gearbeitet. Die aus heutiger Sicht oft peinlich und banal anmutenden Agitationsverse und gereimten politischen Leitartikel, die Majakowski in verstärktem Maße seit 1923 schrieb, lieferten vor allem die Grundlage für die spätere sozialistisch-realistische Umdeutung des Dichters.

Nyota Thun aber stellt mit Recht die wahren poetischen Themen Majakowskis in den Vordergrund: die Aufschwünge und Abstürze seines Ichs, sein Lieben, seine Utopie. Sie sind mit leidvoller Deutlichkeit in den Poemen "Ich", "Darüber" und "Mit ganzer Stimme" gestaltet.

In diesen einzigartigen Dichtungen ist Majakowskis Liebe zu Lilja Brik, der Gattin seines Freundes Ossip Brik, eingefangen, die ihm sowohl Muse als auch Femme fatale war. Nyota Thun zeichnet die äußerst komplizierte Beziehung des "Wauwauchens" zu Lilja Brik in allen Einzelheiten nach - eine Beziehung, die eher wohl ein Hörigkeitsverhältnis als die neue Form der freien Liebe war, die sie zu sein vorgab. Man wohnte zu dritt in einer winzigen Wohnung in der Gendrikow-Gasse in Moskau. Das Zusammenleben lief nach einer von Lilja überwachten einfachen Regel ab: "Jeder konnte tun und lassen, was er wollte. Wer von ihnen zeitweilig eine andere Verbindung einging, tat dies außerhalb der Wohnung. Eifersucht galt, nach Lili, als bürgerliches Relikt."

Man kann leicht verstehen, daß Majakowskis Biographin nur geringe Sympathien für die Posen und Exaltiertheiten der Lilja Brik aufbringt. Ausführlich werden zudem die schillernden Verbindungen beider Briks zur Geheimpolizei beleuchtet. Wenn sich auch der in den letzten Jahren geäußerte Verdacht, Majakowski sei von der GPU, genauer: durch den GPU-Agenten Agranow, liquidiert worden, kaum erhärten läßt, so steht doch außer jedem Zweifel, daß der Dichter, und zwar nicht ohne Zutun der Briks, von den Netzen der GPU umgarnt war und darauf zielsicher in den Tod getrieben wurde. Die GPU beherrschte offenbar schon damals die Technik, Mißerfolge und Enttäuschungen im privaten und im öffentlichen Leben ihrer Opfer zu erzeugen. In den letzten Monaten vor dem Selbstmord war der nach Liebe und Anerkennung lechzende Dichter in ausweglose Einsamkeit geraten. Um so schmerzlicher trafen ihn die Mißerfolge seiner Theaterstücke, das demonstrative Desinteresse an seiner Schaffensretrospektive "20 Jahre Arbeit" und die Auspfiffe bei seinen letzten öffentlichen Lesungen - entnervende Vorgänge, hinter denen eine inszenierende Hand zu spüren ist.

In Nyota Thuns Monographie sind diese Zusammenhänge, die man in der ausführlichen Lebenschronik Majakowskis von Wasili Katanjan nur angedeutet fand, erstmals offen erörtert und in die Lebensgeschichte des Dichters eingefügt. Kein Zweifel, daß es gegenwärtig keine umfassendere und lebendiger geschriebene Majakowski-Biographie gibt als die hier besprochene. Sie leidet allerdings unter dem Mangel, der nicht verschwiegen werden kann, weil er das entscheidende künstlerische und damit auch existentielle Fundament des Dichters Majakowski betrifft: seine Wortkunst.

Nicht selten verweist Nyota Thun auf die eminente Bedeutung, die die "Wortkunst" für Majakowski besaß. Was aber damit gemeint ist, bleibt eher schemenhaft. Und die ins Deutsche übersetzten Zitate (zumeist aus der Feder von Hugo Huppert) vermitteln erst recht keine Vorstellung von der besonderen "Wortkunst" Majakowskis. (Es sind ziemlich ungelenke Inhaltsreproduktionen der Gedichte ohne Bewahrung der für Majakowski entscheidenden Kunstmittel.) Das futuristische "Wortneurertum" aber geschieht aus dem Sprachmaterial heraus. Neuartige Reime und Rhythmen, auffällige Lautkomplexe steuern die Aussage nicht weniger als die thematische Intention.

Daraus entstand jene ungeheure Sprachdynamik, die von den Zeitgenossen als Revolutionierung der Poesie aufgenommen wurde - im Gleichklang mit den politischen und gesellschaftlichen Umwälzungen, die das Land erschütterten. Majakowski hat die Genese des Gedichts "An Sergej Jessenin" (1926) in seinem Traktat "Wie macht man Verse?" in allen Einzelheiten expliziert. Doch Nyoto Thun interessiert in diesem Fall allein die in dem Gedicht ausgedrückte Vorahnung von der eigenen Bedrohtheit, dem eigenen Ende. Es wäre nicht überflüssig gewesen, die Werkstattgeheimnisse der literarischen Produktionskunst Majakowskis ein wenig zu lüften. Ohne die Kenntnis von Lautwiederholungen, Wurzelflexion, Tiefenreim, Akzentvers bis zur metalogischen Sprache kommt man bei Majakowski nicht aus. Dies waren die Werkzeuge seiner "Wortkunst", sie preiszugeben war der Dichter zu keiner Zeit bereit.

Anders als bei den Lebens- und Schaffensverhältnissen bleibt der Eindruck von der besonderen Poesie Majakowskis schwach. Oft klingt, was bei Majakowski eine bezwingende Laut- und Sinneinheit bildet, im Deutschen wie unfreiwillige Parodie. Poesie besteht eben nicht nur aus Gedichtsinhalten. So leidet auch dieses Buch, wie unstrittig seine Meriten sonst seien, letztlich an der Schwierigkeit, dem deutschen Leser einen angemessenen Begriff von russischer Poesie zu vermitteln.

Nyota Thun: "Ich - so groß und so überflüssig". Wladimir Majakowski. Leben und Werk. Grupello Verlag, Düsseldorf 2000. 383 S., geb., 48,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

"Gegenwärtig gibt es keine umfassendere und lebendiger geschriebene Lebensgeschichte Majakowskis, findet Rezensent Reinhard Lauer. Die Autorin, "Slawistin der ersten Stunde in der Sowjetischen Besatzungszone" und in der Folgezeit "Journalistin, Lektorin und Hochschullehrerin in der DDR", räume den "ganzen Schutt der Verfälschungen" beiseite, um dem Dichter in all seinen Widersprüchen gerecht zu werden. Der Rezensent bescheinigt ihr "sehr genaue Kenntnisse der Quellen und Werke" Majakowskis und vermittelt noch mal ein informatives und auch atmosphärisch dichtes Bild von Majakowski und seiner Zeit. Mit Recht stelle Nyota Thun dessen wahre poetische Themen in den Vordergrund, nicht seine aus heutiger Sicht "oft peinlich und banal anmutenden Agitationsverse". Als großen Mangel empfindet der Rezensent allerdings die (meist von Hugo Huppert stammenden) Übersetzungen der Majakowski-Zitate, die er als "ziemlich ungelenke Inhaltsreproduktionen" bezeichnet. Thun verweise oft auf die "eminente Bedeutung" von Majakowskis Wortkunst. Was aber damit gemeint sei, bleibe durch die schlechte Übersetzung eher "schemenhaft". Und schlimmer: was Majakowski geschrieben habe, klinge im Deutschen häufig wie "unfreiwillige Parodie".

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