Marktplatzangebote
8 Angebote ab € 3,30 €
Produktdetails
  • Verlag: Gollenstein
  • Seitenzahl: 192
  • Abmessung: 195mm
  • Gewicht: 288g
  • ISBN-13: 9783933389411
  • ISBN-10: 3933389410
  • Artikelnr.: 24078896
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.08.2001

Mit Rapunzel in der Telefonzelle
Vogelfrei: Wolfgang Eschkers Kurzroman "Die Gegenwindlerche"

Eichendorffs Taugenichts verläßt, als der Frühling vor der Tür steht, die väterliche Mühle und zieht mit Gesang hinaus in die Welt. Der Taugenichts in Wolfgang Eschkers neuem Roman, Thomas Uhlmann, kommt vom neunten Stock des Hochhauses am Rand einer Großstadt herunter. "Frühling hatte alle Fenster geöffnet. Raus! Nichts wie raus! Raus aus der Stadt, die alle Jahreszeiten tötet!" Er ist ein Hans-guck-in-die-Luft, wie ihn der Zyklus des Malers Heinrich Vogeler zeigt, ein Hanns-horch-in-die-Luft. Und was sieht und hört er? Eine Lerche, die sich hinaufschraubt und oben mit ihrem Koloratursopran gegen den Wind behauptet. "Gegenwindlerche" ist der Titel des Romans, der in unsere Literatur wie ein Wundervogel flattert. Immer wieder unterbricht der Zwischenruf der Lerche den Erzähler. Sie wird zum Wappenvogel der Poesie.

Der Taugenichts Eschkers möchte durchaus etwas taugen, aber man läßt es ihn nicht beweisen. Er ist arbeitslos, ein Sprachlehrer, dessen Tagesbeschäftigung im Schreiben von Bewerbungen und im Lesen von Absagebriefen besteht - beim zyklischen Wechsel von Lehrermangel und Lehrerschwemme herrscht gerade Hochflut. Aber die freundliche alte Wanda Aust, die im Restgärtchen vor dem Hochhauseingang an einem langen Schal strickt, wie die Nornen oder Parzen am Schicksalsfaden, und Rapunzel, das zauberhafte Mädchen auf dem Nachbarbalkon, lassen ahnen, daß aus dem Taugenichts doch noch ein Hans im Glück wird.

Eschker, der sich schon in Miniaturen aus dem Leben Lichtenbergs, Winckelmanns und Storms ("Tod in Triest", 1999) als Virtuose mehrschichtigen Erzählens einführte, ist kein Retuscheur, er verkleinert nicht den Moloch, der sich als Technik, Verkehr und Tourismus in die Landschaft frißt, verharmlost nicht die Auswüchse des Konsumverhaltens, betreibt nicht die Falschmünzerei der Beschwichtigungspoesie. Aber er spannt Wortnetze, die wie Gardinen sind, nämlich durchsichtig und luftig; sie geben den Blick frei auf eine in Mythen, Märchen und Dichtungen Gestalt gewordene Welt, in der Erfahrung und Phantasie sich mischen.

Frische Bilder und Metaphern wischen unsere Sprache wieder blank: Der Himmel hat das Visier heruntergelassen, der Wind naht in Stoßtrupps, Büsche legen im Wind die Ohren an, Spatzen halten ein Tschilp-in, der Ausflugsbus löscht seine Sonntagsladung, die Lehrerkonferenz erschöpft sich im Einbahnstraßenwortschwall - denn inzwischen hat unser Taugenichts in einem Deutsch-als-Fremdsprache-Institut Arbeit gefunden und lernt die Entfremdung von der deutschen Sprache und das Computerdeutsch als Fremdsprache kennen. Und wie sich Thomas, der Taugenichts, am Anfang Hals über Kopf in die Natur stürzt, so bricht die Sprache des Erzählers aus ins Freie, mit Assoziationssprüngen, mit Wortspielen, mit Stabreimkaskaden und einem Zitaten-Vexierspiel. Der Erzähler ist geradezu zitatversessen, und nicht von ungefähr machen die ausländischen Studenten des Sprachinstituts ihren Ausflug in die Lüneburger Heide, ins "Arno-Schmidt-Land". Frech verdreht werden Sprichwörter und Uhlandsche Frühlingsschalmeientöne, persifliert wird naturlyrische Kleinmalerei in der Figur der Kräuter-Krolow.

Auf Hochtouren kommt das Sprachspiel, wenn es sich der Arbeit im Institut zuwendet und das Linguistenchinesisch vorführt. Zum artistischen Glanzstück wird die Einführung eines Systems der "Adjektivkomparation" nach dem Muster "schwarz-rabenschwarz-kohlrabenschwarz" durch Thomas. Sein Lohn: Fortan ist er nicht mehr auf Zeit angestellt, sondern festangestellt, felsenfestangestellt.

Und da ist ja auch noch das Mädchen, das es gerne hört. Eine der schönsten Liebesszenen, die ich in neueren Romanen gelesen habe, eine schwebeleichte Szene, hat ihren Schauplatz in der Telefonzelle, in der Thomas und Rapunzel Zuflucht vor einer Gewittersturzflut gefunden haben. Sie kommen sich zum erstenmal näher. Rowdys haben den Telefonhörer abgeschnitten, trotzdem wählt Thomas eine Nummer und wünscht "Fräulein Rabünsch" zu sprechen. Sie spielt mit. "Am Apparat", kommt es zurück. "Und Schnüre und Drähte, Drähte und Schnüre wurden kurzentschlossen kurzgeschlossen: So nah hat noch niemand telefoniert . . . Sprachverbindung, Lippenbindung und Zungenkontakt, babylonische Sprach- und Zungenverwirrung."

Am Ende, als der Taugenichts für tauglich befunden worden ist, scheint die Schwerkraft gänzlich aufgehoben. Thomas kommt mit der frohen Botschaft herbeigeeilt, Rapunzel läßt ihr zwanzig Ellen langes Haar vom Balkon herunter, er wirft den langen Schal der Wanda Aust hinauf, beide verknoten sich, und er klettert nach oben. Kein Gegenwind hält noch das Finale auf. Schon lange nicht mehr hat ein Romanautor so frei drauflos erzählt, so vogelfrei, so lerchenvogelfrei.

WALTER HINCK

Wolfgang Eschker: "Die Gegenwindlerche". Ein Kurzroman von der Peripherie. Gollenstein Verlag, Blieskastel 2000. 192 S., geb., 32,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Jörg Drews nennt diesen Kurzroman von Wolfgang Eschker einen "Glücksfall", weil er "leichtfüßig" ist und "hüpfend über die Seiten kommt" - und trotzdem nicht oberflächlich bleibt. Ähnlich hüpfend und leichtfüßig plappernd - wie er den Autor findet - beschreibt der Rezensent den examinierten Germanisten, den "gut gelaunten Zwangstaugenichts", der der Protagonist dieser Geschichte ist. Drews kommt aus dem Lob gar nicht mehr heraus, und nennt das Buch einen deutschen Roman, der sich auf angenehme Art von angelsächsischen short stories unterscheidet.

© Perlentaucher Medien GmbH