Marktplatzangebote
10 Angebote ab € 10,00 €
Produktdetails
  • Verlag: MARIXVERLAG
  • Abmessung: 215mm
  • Gewicht: 1125g
  • ISBN-13: 9783932412103
  • ISBN-10: 3932412109
  • Artikelnr.: 11422054
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.04.2003

Wie ein einsames Turteltäubchen
Herrliche Verse in einer alten Scharteke: Die poetischen Werke des Angelus Silesius
Vorher wusste ich nicht genau, was eine „Scharteke” ist. Aber beim Lesen dieses neuen Produkts, einer Lizenzausgabe im Fourierverlag, kam ich der Sache schon näher. „Scharteke” ist ein altes Buch, sagte ich mir, aber nicht jedes alte Buch ist eine „Scharteke”. Niemand wird Platons Dialoge oder das Evangelium nach Lukas eine „Scharteke” nennen. Also ist mit dem Wort mehr gemeint. „Scharteke” kommt wohl von Charta, im Sinn von Urkunde, Pergament, wurde aber seit dem 16. Jahrhundert eher abfällig gebraucht. Eine echte „Scharteke” ist ein unnützes altes Buch, mit einem Hauch des Angestaubten und Verbrauchten. Genau darum handelt es sich bei diesem Nachdruck, dessen Vorwort auf den 1. November 1951 datiert ist. Im Klappentext heißt es, es handele sich um die „einzige vollständige” Ausgabe des schlesischen Barockdichters Angelus Silesius (1624 bis 1677), aber es fehlen darin die Prosaschriften; die Ausgabe von 1952 beschränkte sich auf lyrische Texte.
Als Einleitung dient eine Abhandlung von Hans Ludwig Held über Leben und Werk des Schlesiers, der im bürgerlichen Leben Johannes Scheffler hieß. Sie war 1950 nicht ohne Verdienste, sie nannte Daten und Buchtitel, beklagte wortreich den frühen Verfall des einst so selbstbewussten Jüngers Meister Eckharts, sie schwebte in stilistischen Höhen und schwang sich nicht selten genussvoll zu germanistischer Ekstase auf. Das klang dann so: „Die entsetzliche Angst teuflischen Zweifels glüht um die nervös erregte Stirne des leidenschaftlichen Gottesstreiters, der sich auf den Höhen seiner eigentlichen Berufung so unerträglich einsam fand, dass er sich wie ein Verfolgter willfährig und dankbar in die breite Flut jener Gemeinschaft zurückstürzte, die verspricht das Haus des Vaters zu sein...”
Das hätte Kolbenheyer nicht seelenvoller sagen können. Mit solchen hehren Worten umschrieb Hans Ludwig Held die Tatsache, dass Scheffler zum Katholizismus konvertierte. Das war 1950 auch schon lächerlich und angestaubt. Kurz: Diese Einleitung war damals schon eine Scharteke.
Bei dem neuen Produkt handelt es sich, ohne dass dies auf dem Titelblatt vermerkt wäre, um einen Nachdruck von 1952, einer dreibändigen Ausgabe, der 1922 eine zweibändige Erstausgabe vorangegangen war. Wer dies weiß, kann aus dem Buch immer noch Nutzen ziehen: Wenn er das aufgeblasene Deutsch der langen Einleitung (212 Seiten) hinter sich hat, trifft er auf eine nützliche Auswahl von Urkunden zu Leben und Werk des Angelus Silesius. Damit endete früher der erste Band. Es folgen im zweiten Teil, dem früheren zweiten Band, dessen Seitenzählung beibehalten wurde, Jugend- und Gelegenheitesgedichte, vor allem aber die „Heilige Seelenlust”. Barockforscher werden daran ihr Herz erfreuen, aber, da die Welt verdorben ist, könnten böse Spötter darauf lauern, in das geistliche Lustgärtlein einzudringen und sich zu erfreuen an Überschriften wie dieser: „Die Psyche seufzt nach ihrem Jesu / wie ein einsames Turteltäubchen nach seinem Gemahl.” Spezialisten werden bei diesem Liebesseufzer bedauern, dass die Orthografie modernisiert wurde, aber es handelt sich schließlich nicht um eine kritische Neuausgabe, und so eilt die seufzende Psyche zum dritten Band und findet dort den „Cherubinischen Wandersmann”. Von ihm gibt es zwar auch andere, neuere Ausgaben, aber er bleibt ein großes Werk der deutschen Literatur. Der heutige Mensch leide, sagt man, am Problem der Identität. Er frage sich besorgt, ob er Bayer ist oder Christ, Ehemann oder Patient, aber der Cherubinische Wandersmann gesteht: „Ich weiß nicht, was ich bin; ich bin nicht, was ich weiß; / ein Ding und nicht ein Ding, ein Stümpfchen und ein Kreis.”
Aus dem beigegebenen Wörterverzeichnis ist zu erfahren, dass „Stümpfchen” so viel bedeutet wie „Pünktchen”, und spätestens jetzt erfasst der Leser, dass Angelus Silesius ein philosophischer Kopf war, der hier ein Problem ausspricht, das wir von Max Frisch kennen. Scheffler spricht seine Nicht-Identität schroff und poetisch aus; er nimmt das Missverhältnis von Sein und Bewusstsein gelassen hin. Der Dichter nennt nicht den Namen des Meisters Eckhart, den er gewiss auch nicht gelesen hat, aber er nimmt versprengte Motive dieses Denkers aus Weigel, Böhme und Textsammlungen der katholisch- mystischen Tradition auf. Hier steht das oft zitierte „Mensch, werde wesentlich”.
Scheffler sagt selbst, er sei sowohl A wie Nicht-A; wir tun gut dran, ihm auf diesem Weg zu folgen: Er war Schlesier, hat aber in Holland studiert, er war Theologe und „Mystiker”, aber als Mediziner auch Leibarzt des Herzogs von Oels. Er war protestantischer Theologe, konvertierte zum Katholizismus und führte seine Bekehrung auf die Lektüre von Jakob Böhme zurück, was einen aparten Katholizismus ergab. Dieser fromme Mann konnte radikalen Gedanken folgen, die Gott und Mensch in eins setzten. Hans Ludwig Held schreibt ihm deswegen einen „pantheistischen Monoidealismus” zu und baut auf diese Einordnung seine Entwicklungshypothese, die ihn zur Abwertung der späteren Produktion Schefflers führt. Wenn ich wüsste, was „pantheistischer Monoidealismus” sein soll, würde ich gern mit ihm darüber diskutieren. So sage ich nur: Die ideengeschichtliche Zuordnung Schefflers muss heute neu unternommen und aus der konfessionellen Kontroverse herausgenommen werden, und dabei wäre zu beachten: Er hat nicht nur über Gott und die Seele nachgedacht, sondern auch einen anspruchsvollen Ich-Begriff ausgesprochen und eine Kosmologie der wechselseitigen Durchdringung aller Dinge skizziert. Die ideengeschichtlichen Zusammenhänge der knappen Verse Schefflers zu erforschen, bleibt eine offene Aufgabe; der vorliegende Band erfüllt sie in keiner Weise. Aber, immerhin, er gibt die poetischen Texte, auch die aus Schefflers späterer Zeit, die der katholischen Volksfrömmigkeit näher stehen und daher von protestantischen Germanisten oft schlechte Zensuren erhalten haben. Da gibt es eine „sinnliche Beschreibung” des menschlichen Schicksals nach dem Tod mit wunderbarer Ausmalung der jenseitigen Leiden und Freuden. Was erwartet den Sünder? Scheffler weiß, wie es in der Hölle zugeht, nämlich so:
Viel werden an den Spieß gesteckt
Und lebendig gebraten,
Viel auf der Folterbank gereckt,
Bekennend ihre Taten.
Viel werden bis aufs Mark zerfeilt,
Viel jämmerlich geschunden,
Viel klein zerhackt und ausgeteilt
Zur Kost der höllischen Hunden
In Bezug auf solche Höllenbilder waren die protestantischen wie die katholischen Christen des 17. Jahrhunderts einig; nur Schefflers Zeitgenosse, der „gottlose” Spinoza, dachte ein wenig anders. Der Nachdruck der poetischen Werke Schefflers bringt das alles wieder auf den Tisch, aber als unverdauten Stoff, ohne Querverbindungen, ohne Verstehenshilfen, ohne Wissenschaft und ohne Witz. Kommen Verleger, die alte Bücher nachdrucken, ohne dass sie diese auf der Titelseite für den Laien verständlich zu bemerken, dafür in die soeben beschriebene Hölle? Vielleicht, vielleicht auch nicht. Aber ein kleines publizistisches Fegefeuer unter den Sesseln des Verlagschefs ist wohl verdient. Denn sie bringen es fertig und liefern uns wunderbare Verse in einer Scharteke.
KURT FLASCH
ANGELUS SILESIUS: Sämtliche poetische Werke. Hrsg. und eingeleitet von Hans Ludwig Held. Nachdruck der dritten Auflage von 1952. Fourierverlag, Wiesbaden 2002. Drei Bände in einem Band, 370, 370, 329 Seiten, 19,95 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Kurt Flasch spürt zunächst dem Begriff "Scharteke" nach - ein unnützes, altes, verstaubtes Buch, wie er erklärt - um es dann etwas boshaft auf die vorliegende Gedichtsammlung des Barockdichters Angelus Silesius anzuwenden. Die Tatsache, dass es sich bei dem Buch um einen Nachdruck einer Ausgabe von 1952 handelt, ohne dass der Verleger dies auf dem Titelblatt für den "Laien" auch deutlich mache, ist Flasch ein "kleines publizistisches Fegefeuer unter den Sesseln des Verlagchefs" wert. Das Vorwort von Hans Ludwig Held, auf dessen quälende Länge der Rezensent hinweist, sei zwar nicht gänzlich "ohne Verdienste", doch stilistisch wie in seinen germanistischen Urteilen hoffnungslos "lächerlich und angestaubt", so Flasch streng. Immerhin treffe man im ersten Band auf "nützliche" Dokumente zu Leben und Werk des Barocklyrikers, und zumindest kann man an der dreibändigen Ausgabe loben, dass sie die "wunderbaren Verse" von Silesius zugänglich macht, so der Rezensent verhalten.

© Perlentaucher Medien GmbH