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Produktdetails
  • Verlag: Kontext
  • Seitenzahl: 416
  • Deutsch
  • Abmessung: 205mm
  • Gewicht: 455g
  • ISBN-13: 9783931337414
  • ISBN-10: 3931337413
  • Artikelnr.: 12827136
Autorenporträt
Fritz Mierau, geb. 1934 in Breslau, Literaturwissenschaftler, Übersetzer und Essayist, lebt in Berlin. Übersetzung und Herausgabe russischer Literatur und geistesgeschichtlicher Werke wie Russen in Berlin und Die Erweckung des Wortes.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Mit nur leiser Ironie bezeichnet der Rezensent Mark Siemons die hier versammelten Briefe als Schriften aus dem "Untergrund" der DDR. Allerdings handelt es sich um einen ganz unerwarteten Untergrund, der mit den Namen "Burckhardt, Humboldt, Hebel, Hesse und vor allem - Goethe" zu benennen ist. Der Orientierungspunkt für den Lehrer Arthur Pfeifer ist die deutsche Klassik, um ein "geistiges Leben" auch in der DDR geht es in den Briefen. Diese hat ein Schüler Pfeifers, der Slawist Fritz Mierau, entdeckt und jetzt herausgegeben. Gewiss, das räumt Siemons ein, hat die Liebe zur Literatur ihre blinden Flecken - "Kafka" etwa -, imponierend findet der Rezensent den Willen zum "Anachronismus" und stillen Widerstand aber schon.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.11.2004

Geistig leben in der DDR
Die störrischen Briefe des Lehrers Pfeifer / Von Mark Siemons

Am 5. Juli 1963, irgendwo im Osten der DDR. "Weißt Du vielleicht, was Politökonomie ist? Ich nicht", ereifert sich ein zorniger alter Mann, der seiner Brieffreundin schreibt, einer 33 Jahre jüngeren Frau in Leipzig. Er will nicht ins "Räsonnieren" geraten, die Zeilen enden freundlich: "Stell Dir in meinem Namen eine Blume in eine Vase, denke an Stifter oder Storm und sei unzeitgemäß!"

Man stellt sich das Leben in der DDR gerne wie eine Inszenierung der marxistischen Geschichtsphilosophie vor, die allen Akteuren den Spielraum ihrer Existenz bis ins letzte kuriose Ausstattungsdetail vorgab. Nun tauchen Schriften aus einem Untergrund auf, dessen führende Figuren einer ganz anderen Sphäre angehören: Burckhardt, Humboldt, Hebel, Hesse und vor allen - Goethe. "Lassen Sie uns in unsern Wesen beharren, das Ganze kümmert sich nicht um uns, warum sollten wir uns mehr als billig um das Ganze kümmern." Goethe schrieb das 1796 an Heinrich Meyer, und nun, 1963, gibt es ein pensionierter sächsischer Volksschullehrer einer noch aktiven Kollegin weiter, um sie gegen die Anmaßungen ihrer Gegenwart zu wappnen. Mit dem etwas apokryphen Titel "Arthur Pfeifer - Briefe aus Waldheim 1960 - 1976" wirkt diese erstaunliche Anthologie wie ein Samisdat-Band, dessen eingeschmuggelte Bedeutungen sich heute nicht weniger fremd ausnehmen als zur Zeit ihrer Aufzeichnung. Die Fremdheit bewirkt, daß sowohl die DDR als auch das klassisch humanistische Arsenal, das aufgeboten wird, um in ihr zu bestehen, neu erscheinen.

Daß diese Auswahl aus rund dreitausend Briefen eines weithin unbekannten Verfassers an die Öffentlichkeit gelangt, verdankt sich einem Zufall. Ein Schüler Pfeifers war Fritz Mierau, der als Slawist später die russische Avantgardeliteratur erschließen sollte, lauter störrische Existenzen zumeist, die inmitten der kollektiven Bewegung von der Universalität des einzelnen beseelt waren. In diesen Zusammenhang fügt sich auch der goetheanische Schulmeister aus Sachsen, dessen Briefe Sieglinde und Fritz Mierau nun herausgegeben haben. Arthur Pfeifer vertraut seiner Seelenverwandten Gertrud Schade, die 1960 mit ihrer Familie von Waldheim nach Leipzig zog, nicht nur seine Beobachtungen an. Er will ihr zeigen, wie man in der DDR ein geistiges Leben führt. "Eines bleibt: das ist das Schöne", schärft er ihr ein, nachdem er sich über die Wahl zur Kreisgewerkschaftsleitung, den Kampftag der Nation oder was sonst im realsozialistischen Alltag anliegt, aufgeregt hat. Die Frage ist, wie man des Schönen habhaft wird.

Alle akademische Prätention ist dem alten Mann ein Greuel. "Man solle allen Philosophen einen Spaten und eine Mistgabel mit Gebrauchsanweisung geben", knurrt er einmal eine Frau an, die sich ihm als "Philosophin" vorstellt. Ein anderes Mal rät er einem Schüler, der Geschichte studieren will, dringend ab: "Denn dieser Betrieb ist sehr einseitig, wie er das zu 95 Prozent immer war. Man soll sich nicht dazu drängen, durch Brillen zu gucken, die jeweils Mode sind, es gibt noch genug Dinge auf der Welt, an deren Anblick mit eigenen Augen man sich freuen mag." Was er damit meint, führt er selber vor, etwa wenn er vom Besuch auf einem Friedhof schreibt: "Auf einer Grabstelle blüht dort ein sechzig Zentimeter hohes Schneeglöckchen orientalischer Herkunft, das an dem Blütenschaft eine pyramidale Blütenrispe entwickelt hat mit zwanzig Blüten, die jede einem großen Märzbecher gleichen. Das ist doch wesentlich interessanter als der Gehirndunst in den Köpfen sogenannter ,Philosophen'." Ähnlich präzise wie das Schneeglöckchen beschreibt er die Struktur von Kristallen oder die Passanten in einer Dresdner Einkaufsstraße: Nur im Konkreten erschließt sich ihm das Ganze.

Es verwundert nicht, daß Hager, Gysi (Senior) und andere Kulturideologen der DDR bei ihm wenig Gnade finden. Allerdings vermag ihn auch die Bundesrepublik nicht recht zu begeistern. "Du magst es glauben oder nicht", schreibt er 1960 aus Nürnberg, wo er seine Tochter besucht: "Mir imponiert nichts von der westlichen Welt. Schon die Zeitung - ich lerne jetzt unsere schätzen." Fünf Jahre später notiert er: "Die Auspolsterung des äußeren Daseins kann kaum noch überboten werden." Mehr als früher zeigt er sich von den gut gepflegten Häusern und den auch nachts fahrenden Traktoren im Westen beeindruckt, aber auch irritiert: "Das sind Vorgänge, die sich teilweise durchschauen lassen; an langen Hebelarmen werden die menschlichen Schicksale gelenkt. Ich glaube, uns fällt es leichter, das Getriebe zu durchschauen."

Bisweilen geht mit Pfeifer der pädagogische Furor durch, und ein Altersstarrsinn macht die Urteile harsch. Auch sind seine ästhetischen Vorlieben nicht unanfechtbar; schon mit Kafka kann er nichts anfangen. Doch es beeindruckt, mit welcher Konsequenz ein einzelner da auf seinem Recht auf Anachronismus besteht. Bislang wollte man für die DDR die Figur des Bildungsbürgers allenfalls in ihrer kommunistischen Variante, vertreten etwa durch Stephan Hermlin oder Jürgen Kuczynski, gelten lassen. Nun kommen mit diesem Briefeschreiber ganz andere Möglichkeiten ins Spiel.

Zum Zeitpunkt des frühesten der hier abgedruckten Texte war ihr Verfasser 76 Jahre alt. In diesem Alter nimmt man die Sprachregelungen und Selbsterklärungen seiner Umgebung offenbar nicht mehr ohne weiteres zum Nennwert. Zu weit zurück reicht der Erfahrungsraum dieses Lebens: In einer Notiz erinnert sich Pfeifer an eine Feier, die er beim Tod Bismarcks miterlebte; wenige Seiten später wird er Zeitgenosse des Attentats auf Israel bei den Olympischen Spielen in München - "Mitten in der Civilisation herrscht die Barbarei" - und ist plötzlich in der Gegenwart angekommen. Äußerlich verlief dieses Leben ruhig. 1884 in Dresden geboren, wurde er mit 24 Jahren Lehrer in Waldheim, wo er bis auf einen erzwungen Umzug während des Nationalsozialismus geblieben ist. Die letzte hier veröffentlichte Eintragung am 21. September 1976 lautet: "Ich kann niemand mehr etwas beibringen." Einen guten Monat später stirbt er, 92 Jahre alt.

Arthur Pfeifer: "Briefe aus Waldheim". 1960-1976. Herausgegeben von Sieglinde und Fritz Mierau. Kontext Verlag, Berlin 2004. 416 S., Abb., br., 22,- [Euro].

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