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  • Broschiertes Buch

Produktdetails
  • Verlag: Offizin, Hannover
  • Seitenzahl: 448
  • Erscheinungstermin: März 2007
  • Deutsch
  • Abmessung: 210mm
  • Gewicht: 524g
  • ISBN-13: 9783930345502
  • ISBN-10: 3930345501
  • Artikelnr.: 20863903
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.09.2007

Alte und neue Balance
Welche Lehren soll die deutsche Außenpolitik aus der Vergangenheit ziehen?

"Man kann zu normalen Verhältnissen nicht zurück-, sondern nur hingelangen." Mit diesem Leitmotiv wird deutsche Geschichte von Bismarck bis Hitler vom Autor zur Geschichte einer gescheiterten Normalisierung verkürzt. Weil liberaldemokratische Ansätze nur vorübergehend in der Weimarer Republik verwirklicht, aber im "Dritten Reich" völlig liquidiert wurden, kann man über diese deterministische Sicht streiten, aber Marcus Hawel hat recht, wenn er vor diesem Hintergrund die Westbindung der Bundesrepublik ab 1949 als emanzipatorische Normalisierung versteht, weil Demokratie und europäische Integration zur Wirkung kamen. "Normalität nein, aber Normalisierung ja" als Forderung des Autors kommt allerdings einer Dämonisierung der Idee des Nationalstaates und einer Idealisierung europäischer Integration gleich, wenn Hawel kategorisch nein zur Rückkehr zur Normalität des deutschen Nationalstaates sagt und ohne Einschränkung für einen deutschen Sonderweg, für Deutschlands Rolle als Schrittmacher eines postnationalen Europa, als zivilisatorisches Vorbild für die Welt plädiert.

Die westdeutsche Rückkehr zu Recht, Freiheit und Demokratie als Beitrag zur europäischen Normalisierung wird in diesem Buch zu wenig gewürdigt, die Folgen des kommunistischen Zwangsregimes östlich der Elbe für ausbleibende Normalisierung werden völlig negiert. Inwieweit wirkte die Teilung Deutschlands und Europas und die kommunistische Unterdrückung in Mittel- und Osteuropa anormalisierend? Die DDR-Vergangenheit wird tabuisiert statt kritisch untersucht. In diesem Zusammenhang erscheint auch die Maxime "Nie wieder Krieg, nie wieder Auschwitz" als fragwürdiges Lernergebnis aus der deutschen Geschichte: Der Krieg gegen Hitler war ebenso gerechtfertigt wie der Golfkrieg von 1990 und der Krieg gegen Slobodan Milosevic in den neunziger Jahren, um nur die wirkungsvollsten Verteidigungskriege zu nennen. Hawel übersieht außerdem weitere gegenläufige Normalisierungstendenzen in Deutschland: Nicht nur der Wunsch nach Erweiterung und Vertiefung der europäischen Integration wirkte normalisierend, sondern auch die Renaissance des Nationalstaatsgedankens in Europa, der in Anlehnung an Thomas Nipperdey in Normalpatriotismus, Normalnationalismus und Radikalnationalismus unterteilt werden kann. Lässt sich anhand dieser Kategorien auch deutsche Normalisierung verorten?

Weil Deutschland die Normalität des Nationalen verloren hatte, erfüllte sich 1990 diese Sehnsucht, ohne dass allerdings seitdem radikal-nationale Kräfte aufgetaucht wären, die der Autor vergeblich zu bemühen sucht. Wo gibt es heute in Deutschland etwas Vergleichbares wie den Alldeutschen Verband, imperiale Vereine oder revanchistische Vertriebenenverbände? Kein vernünftiger Mensch fordert heute nationalistische, revanchistische oder revisionistische Ziele. Das wäre völlig anormal. Die überwältigende Mehrheit der Deutschen hat erkannt, dass der Sonderweg deutscher Gemütstiefe und Kultur, der gegen die Oberflächlichkeit westlicher Zivilisation ausgespielt wurde, keine Trumpfkarte deutscher Geschichte war. Aber müssen die Deutschen als Erben des Nationalsozialismus, der jegliche Norm gesprengt hatte, auch dem Wunsch nach verspäteter Normalität, also Wiederherstellung der Nation und dem damit verbundenen Wunsch nach einem normalen Patriotismus, entsagen? Soll für Deutsche verboten bleiben, so national zu denken und zu handeln, wie andere Europäer dies tun? Muss nicht jeder demokratische Staat auf eigene Weise zur Normalität finden, und hat nicht gerade Deutschland im Spannungsfeld von Nation und Integration geradezu vorbildliche Normalität in den vergangenen Jahrzehnten praktiziert?

Der Verfasser revoltiert nicht gegen diese Normalität, sondern plädiert im Sinne von Jürgen Habermas für emanzipatorische Normalisierung: "Erst wenn der Anspruch einer vernünftigen Aufarbeitung der Vergangenheit und die daraus resultierenden praktischen Konsequenzen eingelöst wurden, wäre es gerechtfertigt, Normalität in Anspruch zu nehmen." Die bewusste Auslassung zeitgeschichtlicher und historischer Hindernisse auf dem Weg zur Normalisierung einerseits und die Geringschätzung der positiven Normalisierungsleistungen der Bundesrepublik andererseits machen die Lektüre zu oft zum Ärgernis. So wertet Hawel Auslandseinsätze der Bundeswehr nicht als Sicherheitsvorsorge, sondern als Ausdruck neuen Machtstrebens. Europäische Integration wird zum Instrument deutscher Machtgelüste degradiert: "Deutsche Interessen werden als europäische demaskiert, während der deutsche Staat daran arbeitet, europäische Interessen auf Deutsch zu definieren."

Die Katze wird dann aus dem Sack gelassen, wenn sich "emanzipatorische Normalisierung" als plumpe Kapitalismuskritik entpuppt: "Das kapitalistische Wertgesetz setzte sich maskiert unter dem Schleier der Menschenrechte durch und steht als letzter Grund auch heute noch hinter jeder bürgerlichen Apologie der Menschenrechte. Was in Europa als ethische Wertgemeinschaft bezeichnet wird, verdient daher eher, als Mehrwertgemeinschaft bezeichnet zu werden. Das Kapital benötigt Gewaltfreiheit auf der Oberfläche, die durch ein staatliches Gewaltmonopol gewährleistet wird, abstrakte Rechtsgleichheit, Vertragssicherheit, ökonomische Freiheit. Das sind die basalen Knochen des Skeletts der Menschenrechte. Was aber im Kapitalismus Frieden heißt, ist nicht einmal die Abwesenheit von Krieg, sondern der mehr oder minder versteckte, ökonomische Bürgerkrieg der Konkurrenz aller gegen alle." Da verwundert es nicht, wenn der Verfasser als Normalisierung vorschlägt: "Nicht nur ein anderes Deutschland, sondern auch eine andere Welt: Eine Welt ohne Nationalstaaten, das heißt auch ohne Deutschland müsse entstehen."

Da wären wir also wieder: Am deutschen Wesen soll die Welt genesen - diesmal im Gewande eines sogenannten zivilisatorischen Wilhelminismus. Die Wirklichkeit sieht anders aus. Alle Bundesregierungen von Konrad Adenauer bis Helmut Kohl haben außenpolitische Normalisierung als kluge Balance zwischen Nation und Integration verstanden. Seit 1990 und 2001 sind die internationalen Bedingungsfaktoren hierfür schwieriger geworden, doch bleiben die grundlegenden Prämissen gültig. Deutschland wird sich außenpolitisch nur behaupten können, wenn es seine nationalen Interessen nicht nur europäisch, sondern auch transatlantisch orchestriert. Erst diese neue Balance zwischen atlantischer Zivilisation, europäischer Integration und Nation bietet die Chance zur Normalisierung. Heute ist Deutschland nicht nur wieder eine Nation geworden, weil andere dies auch sind, sondern weil Deutschland die nationale Idee in den vergangenen fünf Jahrzehnten mit einem übernationalen Ideal verbinden konnte. Die Rolle der Zivilmacht, des Welthandelsstaates, der Entspannungsvormacht wurde in den Rahmen einer europäischen Gemeinschaftsidee gestellt. Diese Werte und Interessen im atlantischen Rahmen zu erhalten und auszubauen bleibt unverzichtbarer Maßstab für die außenpolitische Normalisierung Deutschlands und der Deutschen.

CHRISTIAN HACKE

Marcus Hawel: Die normalisierte Nation. Vergangenheitsbewältigung und Außenpolitik in Deutschland. Offizin Verlag, Hannover 2007. 448 S., 24,80 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Politisch nicht immer einverstanden zeigt sich Rezensent Christian Hacke mit Marcus Hawels Arbeit über "Vergangenheitsbewältigung und Außenpolitik in Deutschland". So scheint ihm etwa die Darstellung der deutschen Geschichte von Bismarck bis Hitler als Geschichte einer "gescheiterten Normalisierung" durchaus "verkürzt". Zustimmend äußert er sich demgegenüber über die Deutung der Westbindung der Bundesrepublik ab 1949 als "emanzipatorische Normalisierung". Skeptisch wiederum betrachtet er die Forderung des Autors: "Normalität nein, aber Normalisierung ja". Sie erscheint ihm als "Dämonisierung der Idee des Nationalstaates" und als "Idealisierung europäischer Integration", vor allem im Blick auf Hawels entschiedenes "Nein" zur Rückkehr zur Normalität des deutschen Nationalstaates und sein Plädoyer für einen deutschen Sonderweg, für Deutschlands Rolle als Schrittmacher eines postnationalen Europa. Er unterstreicht vielmehr das Recht Deutschlands auf einen normalen Patriotismus, wie ihn andere europäische Staaten auch pflegen, wobei er dem Autor nicht unterstellt, dass dieser gegen eine solche Normalität sei.

© Perlentaucher Medien GmbH