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Leningradskaja Madonna Liebe Genossen! Alles, was ich im Gefängnis gesehen, gehört und erlebt habe, alles, aber auch wirklich alles, hat meine Einstellung gegenüber unseren Ideen, dem Vaterland und der Partei nicht geändert. Diese für uns heute unbegreiflichen Worte der Berggolz, die Gefängnis, Ausschluss aus der Partei, Folter, Verlust eines Kindes nach intensiven Verhören, eine Fehlgeburt, die Vollstreckung der Todesstrafe an ihrem Mann und von Freunden erlebte, zeugen von einer kommunistischen Eschatologie, die einer religiösen Verzückung gleichkommt. Allerdings war es bei ihr wohl eher die…mehr

Produktbeschreibung
Leningradskaja Madonna Liebe Genossen! Alles, was ich im Gefängnis gesehen, gehört und erlebt habe, alles, aber auch wirklich alles, hat meine Einstellung gegenüber unseren Ideen, dem Vaterland und der Partei nicht geändert. Diese für uns heute unbegreiflichen Worte der Berggolz, die Gefängnis, Ausschluss aus der Partei, Folter, Verlust eines Kindes nach intensiven Verhören, eine Fehlgeburt, die Vollstreckung der Todesstrafe an ihrem Mann und von Freunden erlebte, zeugen von einer kommunistischen Eschatologie, die einer religiösen Verzückung gleichkommt. Allerdings war es bei ihr wohl eher die ethische Überzeugung, dass eine menschlich sinnvolle Handlung auf ein Ziel hin ausgerichtet sein muss, ungeachtet der Kalamitäten und Schrecknisse des Weges. Albert Camus formulierte es sinngemäß in seinem Werk „Der Mensch in der Revolte“: Es besteht formell kein Unterschied, ob man vor dem Dogmenaltar eines religiösen Machtapparates oder einem Parteienaltar niederkniet. Jedoch diese Einstellung bekommt Risse. Die Ideen der Partei sind es nicht mehr, die die ethische Grundhaltung der selbsternannten Berufsrevolutionärin vordergründig bestimmen. Es ist das Vaterland, es sind die Menschen, die Stadt Leningrad und das unsagbare Elend, die fürderhin zu ihrem Leitmotiv werden. Olga Berggolz war die Radiostimme der Leningrader Blockade. Sie wird zum Mythos, weil sie mit Poesie direkt zu den Menschen sprach und Trost spendete.?Der große Virtuose Sjwatoslaw Richter berichtete von einem Konzert in Leningrad am 5. Januar 1944 zu dem er eigens eingeflogen wurde. Infolge der dauernden Bombardierungen waren am Auftrittstag in der Philharmonie alle Fenster zertrümmert. Das Publikum saß im überfüllten bitterkalten Saal in Mäntel gehüllt. Wie kann man da mit kalten Fingern ein Klavierkonzert geben? „Sobald ich spielte, spürte ich keine Kälte mehr.“ Dies zeugt von der Kraft der Kunst, die auch die Berggolz vermittelte: Ein wenig Wärme in einer bitterkalten Zeit. Aber vielleicht war es nicht wenig, sondern viel mehr, wie es die fast vergessene St. Petersburger Vorläuferin der Futuristen Elena Guro in ihrem Gebet an einem grauen Tag schrieb: Und weißt du nicht, daß ein einziger deiner Träume Stürme gebiert??Und weißt du nicht, daß ein einziger deiner reinen Träume Stürme gebiert?!. Fast jede Familie die die Leningrader Blockade überlebte, hatte große materielle und menschliche Verluste zu verzeichnen. So auch die des Künstlers Michael Dobbelt, der 1960 in die Chrustchow Ära hineingeboren wurde und in Leningrad aufwuchs. Er studierte von 1985 - 1990 Bühnenbild an der staatlichen Hochschule für Theater, Musik und Kino und absolvierte diese als Diplom - Bühnenbildner. Seit 1990 arbeitet er freischaffend. Allerdings waren ihm und vielen Künstlern seiner Generation der unbedingte Glaube an den Kommunismus und die Doktrin, die aus einer dogmatisch gehandhabten Weltanschauung (das LTI - Wort trifft im wahrsten Sinne des Wortes zu) erwuchsen, suspekt. Leningrad und später St. Petersburg war und ist für ihn ein wahrer Schatz an Kunst und Kultur. So fühlte er sich wie selbstverständlich hingezogen zu den verfemten Dichtern Gumiljow, der Achmatowa, später Brodskij und natürlich der Zwetajewa. Deren schwer verfügbare, nur marginal verlegte Werke, waren Teil eines kollektiven Gedächtnisses, die in den Grauzonen des öffentlichen Lebens der Sowjetunion verankert und enthusiastisch bewahrt wurden. Nicht alle Werke der Olga Berggolz, vor allem die aus der Blockade Zeit, unterlagen dem selben Verdikt der Wächter der reinen Lehre der wissenschaftlichen Weltanschauung der Arbeiterklasse, dafür waren sie wohl zu tief in den Herzen der Leningrader Menschen verankert. Diese nannten sie Leningradskaja Madonna und so kannte sie auch Michael Dobbelt. Und nun entwirft er für diese erste deutsche Auswahl ihrer Gedichte Handzeichnungen, die einer Bühne gleichen, er entwirft Orte für sie, er entwirft die Kälte der Unbehaustheit der poetischen Seele und zärtlich fast, hingehaucht mit feiner Linie, im Gegensatz zur schroffen Umwelt, liegt sie da am Boden die Leningradskaja Madonna. Und dann zeichnet er auch dieses eisige Detail Sewastopol, ein Segler und ein Vogel die in der Luft stehenbleiben. Bis zu ihrer Übersiedlung nach Dresden im Jahr 2001, wohnten Michael und seine Frau Shanna direkt neben dem Piskarjow Gedenkfriedhof für die Opfer der Leningrader Blockade. Das Mahnmal wird von einer gewaltigen Granitmauer abgeschlossen, die ein Gedicht der Berggolz trägt. Niemand ist vergessen und nichts wird vergessen. So war auch für die Dobbelts die Berggolz ständig präsent. Der Berggolz aber wurde das Begräbnis auf diesem Friedhof verweigert. Ein letzter Akt der öffentlichen Schizophrenie. Nun liegt sie auf dem Wolkowo Friedhof begraben, in Nachbarschaft mit ehernen Namen der Weltliteratur und der Wissenschaft. Mit Turgenjew, Garschin, Andrejew, Gontscharow, Leskow, Saltykow-Schtschedrin, Kuprin, Kusmin, Blok, Mendelejew, Bechterew und Pawlow. Eine Strophe eines Gedichtes, des zu Lebzeiten offiziell verfemten Leningrader Lyrikers Leonid Aronson möge unsere und des geneigten Lesers Grabbeigabe sein. Den Menschen fremd, sind wir hier ganz allein, dem Nebel ausgesetzt, tut‘s einem wohl zu trinken!?Des fallenden Laubs lass eingedenk uns sein, und dass auch wir, ihm folgend, niedersinken. (1970) Holger Wendland
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Tief beeindruckt erzählt Rezensent Ulrich M. Schmid vom düsteren Leben der Dichterin, die einst eine Hoffnung der jungen Sowjetliteratur war, die sich unter Stalin auch schuldig machte und die in Russland bis heute für ihre Rolle als Radiostar, der Hungernden in Petersburg Mut zusprach, und für einige Gedichte verehrt wird. Als Losung über dem Petersburger Friedhof für die Hungertoten steht ihr Satz "Niemand ist vergessen / Nichts ist vergessen". Und doch durfte sie nach ihrem Tod 1975 dort nicht begraben werden - zu scharf hatte sie unterdessen die Mächtigen kritisiert. Schnörkellos seien die Übersetzungen Christoph Ferbers, die die Dichterin jetzt auch dem deutschsprachigen Publikum näherbringen, schließt der Rezensent.

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