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Produktdetails
  • Einzelveröffentlichung des Brandenburgischen Landeshauptarchivs
  • Verlag: Westkreuz-Verlag
  • Seitenzahl: 121
  • Abmessung: 245mm
  • Gewicht: 586g
  • ISBN-13: 9783929592559
  • ISBN-10: 392959255X
  • Artikelnr.: 25265202
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.05.2001

Die frühe Neuzeit war spät dran
Was Fontane verschwieg: Jürgen Angelow rollt die lange Leitung des Ritterguts Kemnitz in der Mark Brandenburg auf

Mikrogeschichte, also die Erforschung geographisch kleinräumiger historischer Einheiten über einen längeren Zeitraum hinweg, ist seit einigen Jahren ein neues und sehr erfolgreiches Teilgebiet der historischen Wissenschaften, vornehmlich der Erforschung der frühen Neuzeit; erinnert sei nur an die bekannten Studien von David W. Sabean über Neckarshausen und Hans Medick über Laichingen. Die an Geschichte interessierte Öffentlichkeit hat (von den Bewohnern der untersuchten Orte einmal abgesehen) von dem neuen Forschungstrend indes noch kaum Kenntnis genommen, was wohl nicht zuletzt mit dem theoretischen, an den Sozialwissenschaften ebenso wie an der modernen Ethnologie geschulten Instrumentarium vieler dieser Studien zusammenhängt, die dem historischen Laien meist unzugänglich bleiben.

Einen anderen Weg geht der Autor einer neuen Studie über die Geschichte eines Rittergutes und des dazugehörigen Dorfes Kemnitz in der Mark Brandenburg. Er wendet sich bewußt an ein größeres Publikum, indem er auf jedes Theoretisieren verzichtet und sich auf die Rekonstruktion des Geschehenen beschränkt - und dies in einer unprätentiösen, leicht lesbaren Sprache. Die vorzüglichen Fotografien von Hilgenfeldt und die gelungenen Grafiken von Heinze - beide sprechen ihre jeweils eigene Sprache - vervollständigen die ansprechende Publikation.

Angelow versucht einen Längsschnitt, indem er auf etwa einhundert Textseiten nicht weniger als ein Jahrtausend Orts- und Regionalgeschichte Revue passieren läßt: von der Besiedelung, Seßhaftwerdung und weiteren Landnahme im hohen Mittelalter bis zur unmittelbaren Gegenwart. Am Beispiel dieses kleinen, unscheinbaren Ortes in der Mark Brandenburg (nordwestlich von Werder gelegen, am Nordufer des Großen Plessower Sees) läßt sich tatsächlich die "lange Dauer" (Fernand Braudel) als historisches Phänomen anschaulich machen.

Angelow hat seinen Gegenstand exakt recherchiert, vor allem anhand ungedruckter Quellen aus dem Brandenburgischen Landeshauptarchiv, dem Domstiftsarchiv Brandenburg und auch aus Privatbesitz. Sein Buch ist zuerst Adelsgeschichte, also die Geschichte der Familien, die das Rittergut Kemnitz in Besitz hatten: Viele Jahrhunderte (von 1157 bis 1584 und 1608 bis 1686) waren es die märkischem Uradel entstammenden Rochows; von 1734 bis 1945 die Familie von Brietzke, zwischendurch auch einmal die berühmten von der Marwitz. Es ist sodann Politik- und nicht zuletzt auch Kriegsgeschichte: von den Raubritterfehden des ausgehenden Mittelalters über den Dreißigjährigen Krieg, in dem das Dorf mehrfach zerstört und verwüstet wurde - durch "Kaiserliche" ebenso wie durch Schweden und Sachsen -, bis zur "Franzosenzeit" nach 1806 und schließlich zur Endphase des Zweiten Weltkrieges.

Es ist drittens Sozialgeschichte, die Wandlungen und Kontinuitäten einer heute kaum noch vorstellbaren streng gegliederten Gesellschaftsordnung beschreibt: Bis weit ins neunzehnte Jahrhundert hinein durfte etwa die Dorfgemeinschaft auf den Bankreihen der kleinen Kirche "nur streng in der Reihenfolge von Rang und Besitz Platz nehmen", Männer und Frauen getrennt und der Gutsherr natürlich in der vom einfachen Volk separierten "Patronatsloge". Auch mit der Bauernbefreiung im frühen neunzehnten Jahrhundert geriet die festgefügte Sozialstruktur noch kaum ins Wanken, erst die im Kaiserreich einsetzende Landflucht änderte manches.

Der traditionelle Patrimonialismus, das gegenseitige Verhältnis von Landbewohnern und "Patron", der seine "Leute" duzte, selbst aber mit "Sie" angeredet wurde, und der sich "auch für die privaten Belange der Dorfbewohner interessierte und an ihnen teilhatte", dauerte tatsächlich bis 1945 an; so wird man mit einiger Übertreibung sagen können, daß die frühe Neuzeit in Kemnitz erst mit dem Ausgang des Zweiten Weltkrieges endete. Die "neue Zeit" wurde hier mit der Brechstange eingeführt, zuerst mit der "Bodenreform", etwas später mit der Kollektivierung der Landwirtschaft und der Zwangsgründung einer LPG.

Es ist viertens Alltagsgeschichte, denn Angelow rekonstruiert nicht nur das tägliche Leben des adligen Junkers und seiner Familie, die ein eher beschaulich-bescheidenes Dasein führte und um 1900 lieber Künstler und Schriftsteller einlud als "Parvenüs, deren Adelstitel aus dem 19. Jahrhundert stammten", sondern auch das der Bauern und nicht zuletzt das der Tagelöhner, die mit teilweise mehr als zehnköpfigen Familien in primitiven Mietsbaracken hausen mußten und einen Anteil ihres sehr geringen Lohns noch in Naturalien ("täglich einen Liter Milch, jährlich 40 Zentner Kohlen sowie 12 Zentner Getreide") ausbezahlt bekamen.

Und es ist schließlich die Geschichte einzelner Lebensschicksale, die hervorgehoben werden: So etwa das des sozialdemokratisch gesinnten Dorflehrers Fritz Schröter, der 1934 entlassen, 1941 aber wegen Lehrermangels wieder eingestellt wurde und es nun sogar bis zum Blockwart der NSDAP brachte, nach dem Krieg bis 1949 in Buchenwald einsitzen mußte und später noch einmal von 1961 bis 1965 als Rentner die Kemnitzer Schule leitete. Oder auch das des letzten Gutsherrn Hans von Brietzke, eines "Patrons" im traditionellen Sinne, dem die humane Behandlung seiner polnischen Zwangsarbeiter zwar 1945 das Leben rettete, der aber von den Russen sofort aus seinem Haus geworfen wurde und schon im Februar 1946 verbittert und gebrochen starb.

Theodor Fontane, der Schloß und Dorf Kemnitz in seinen "Wanderungen durch die Mark Brandenburg" übergangen hat, bemerkte über die Menschen der Werderaner Gegend: "Hart, zäh, fleißig, sparsam, abgeschlossen, allem Fremden und Neuen abgeneigt, das Irdische über das Überirdische setzend - das gibt zwar kein Idealbild, aber doch das Bild eines tüchtigen Stammes." Das Buch von Angelow mit den bemerkenswerten künstlerischen Beigaben von Hilgenfeldt und Heinze mag helfen, diesen eigensinnigen, aber doch charakteristischen Menschenschlag durch eine Vergegenwärtigung seiner Geschichte - genauer: eines regional begrenzten Ausschnittes daraus - besser zu verstehen. Doch auch derjenige, der nur an einem Lesevergnügen interessiert ist, kommt in jedem Fall auf seine Kosten.

HANS-CHRISTOF KRAUS

Jürgen Angelow: "Geschichte und Landschaft". Das märkische Rittergut Kemnitz. Einzelveröffentlichung des Brandenburgischen Landeshauptarchivs, herausgegeben von Klaus Neitmann. Mit Fotografien von Hartmut Hilgenfeldt und Grafiken von Christian Heinze. Westkreuz Verlag, Berlin, Bonn 2000. 121 S., Abb., br., 28,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Für Hans-Christof Kraus ist dieses Buch ein Beispiel dafür, dass Mikrogeschichte nicht zwangsläufig etwas für Spezialisten sein muss. Angelow habe hier bewusst auf "jedes Theoretisieren verzichtet" und die Geschichte des Dorfes bzw. Gutes Kemnitz "in einer unprätentiösen, leicht lesbaren Sprache" aufgezeichnet. Kraus betont, dass der Autor für seine "exakte" Recherche allerhand bisher ungedruckte Quellen aus Archiven und Privatbesitz hinzugezogen hat, mit dem Ergebnis, dass es sich hier sowohl um Politik-, Kriegs-, Sozial- wie auch Alltagsgeschichte und die Geschichte einzelner Personen handelt. Und so könne der Leser beispielsweise nicht nur etwas über Raubritter im Mittelalter, Geschlechter- und Rangtrennung in der Kirche, das Leben von Junkern, Bauern und Taglöhnern erfahren, sondern auch einzelne Lebensgeschichten nachlesen, wie die von einem Dorflehrer im 20. Jahrhundert. Für Kraus ist dieses Buch nicht nur ein "Lesevergnügen", sondern auch eine Hilfe, den "Menschenschlag" dieser Gegend besser zu verstehen. Begeistert zeigt er sich darüber hinaus von den Fotografien Hartmut Hilgenfeldts und den Grafiken Christian Heinzes.

© Perlentaucher Medien GmbH