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Als "uncharmant" beschreibt sich eine von Claudia Klischats Figuren und "uncharmant" scheint gerade das geeignete Wort für den Klischat'schen Erzählton zu sein, neben direkt, kompromisslos und ehrlich. Claudia Klischat gelingt es in ihrem Erzählband "Tiefausläufer", menschliches Zusammenleben in seiner Fragilität und Skurrilität zu schildern, so, wie sich das Dasein nun einmal gibt: willkürlich, alogisch, absurd und immer einzigartig. Claudia Klischats Stärke ist es, das jeweils Eigene der Figuren und ihrer Lebenslage treffend darzustellen. Literarische Dynamik entzündet sich beispielsweise…mehr

Produktbeschreibung
Als "uncharmant" beschreibt sich eine von Claudia Klischats Figuren und "uncharmant" scheint gerade das geeignete Wort für den Klischat'schen Erzählton zu sein, neben direkt, kompromisslos und ehrlich. Claudia Klischat gelingt es in ihrem Erzählband "Tiefausläufer", menschliches Zusammenleben in seiner Fragilität und Skurrilität zu schildern, so, wie sich das Dasein nun einmal gibt: willkürlich, alogisch, absurd und immer einzigartig. Claudia Klischats Stärke ist es, das jeweils Eigene der Figuren und ihrer Lebenslage treffend darzustellen. Literarische Dynamik entzündet sich beispielsweise entlang des absurden Amoklaufs des Vaters, der, von seiner Frau verlassen, Frösche im Tümpel zu erschlagen beginnt, oder anhand der Anatomiestudentin, die sich in der Mensa entschließt, die große Liebe zu erleben.Jede der Kurzgeschichten wartet mit überraschenden psychologischen Wendungen auf, so dass sich der Leser vom Geschehen immer wieder neu ergreifen und erstaunen lassen kann. Experimentierfreudig variiert Claudia Klischat Erzählweisen und Perspektiven, belebt versiert eine Vielzahl von Erzählstimmen, entwirft spannungsgeladene Dialoge oder ironisch gebrochene innere Monologe. Dort, wo sich der zwischenmenschliche Konflikt auch erzähltechnisch austrägt, kann sich der kalte, herrlich böse, gallige Blick der Autorin wunderbar an einem Gegenüber reiben."Einige Wochen nach meinem Abitur stand ich ebenfalls an einem Fenster, allerdings vor einem Schaufenster. Ich sah auf meine Hände und ich weiß noch, dass ich sie gar nicht so schrecklich fand, und ich erinnere mich, dass ich unglücklich in meinen Biolehrer verliebt war, der viel kleinere Hände hatte als ich, und mein Vater stand hinter mir, umarmte mich, seine starken Arme lagen auf meinen Schultern und seine unrasierte Wange fühlte sich an meiner gut an, wir spiegelten uns in der Scheibe, und mein Vater zeigte auf ein Paar hübsche Schuhe und er sagte, die kaufen wir für dich, und dann gehen wir an die Universität und schreiben dich für Medizin ein."(Aus: "Einführung in die Anatomie")
Autorenporträt
Claudia Klischat, 1970 geboren, studierte an der Münchner Universität, an der Münchner Filmhochschule, war Tänzerin am E.T.A.-Hoffmann-Theater für Musicalproduktionen und studierte am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. Sie war Preisträgerin beim Open Mike, Stipendiatin auf Schloss Solitude und erhielt zuletzt den bayrischen staatlichen Förderpreis für Literatur für ihren Erzählband "Tiefausläufer" (2004). 2004 wurde ihr Stück "Gestern" am Schauspielhaus Leipzig uraufgeführt.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.03.2005

Entschuldigung, wo geht's hier zur Unterwelt?
Das Höllenfeuer lodert im sozialen Brennpunkt: Claudia Klischats Romandebüt / Von Richard Kämmerlings

Kafkas selbstgewisser Satz, daß Schriftsteller wie vorgehende Uhren seien, wäre eine sehr optimistische Beschreibung der jungen deutschen Literatur. In ihr, ob ost- oder westdeutscher Herkunft, hat man eher den Eindruck, als bemühe sie sich um exakteste Synchronisierung mit den medialen Abbildern der Gegenwart oder als seien ihre Zeiger längst stehengeblieben, irgendwann im Goldenen Zeitalter der siebziger oder achtziger Jahre, als die Rente sicher war und blinkende Quartzuhren in Mode kamen. Aus ihr lassen sich kaum Zeichen unserer Zeit lesen - nichts von sozialer Eiszeit, der Rückkehr der Unterschicht, den Erniedrigten und Beschädigten. In der Literatur blühen die Landschaften - der Kindheit, des Nachtlebens, der fernen Länder. In Abgründe blickt sie nicht.

Claudia Klischat, 1970 in München geboren, paßt nicht in dieses neue Biedermeier. Vor fünf Jahren machte sie erstmals auf sich aufmerksam, als ihre Kurzgeschichte "Vom Fisch bespuckt" beim Berliner Open Mike gewann. Da war plötzlich ein neuer Ton wahrzunehmen, ein schonungsloser Blick auf ein Mädchen aus der sogenannten "bildungsfernen" Schicht, ein grelles Schlaglicht auf ein chancenloses Leben, dessen Traum zuschanden wird. Im vergangenen Jahr erschien ihr schmaler Debütband, der einige solcher makellosen, fast klassischen short stories - etwa auch die Titelgeschichte "Tiefausläufer" - enthielt, und nun ihr erster, sehr ehrgeiziger Roman.

Drei Teile hat das Buch, die jeweils den inneren Monolog eines Menschen wiedergeben, der von einer fixen Idee vollkommen in Bann geschlagen ist: Tom, ein offenbar geistig verwirrter junger Mann, arbeitet als Pizza-Austräger in Leipzig und wacht eines morgens neben einer ihm fremden, älteren Frau auf. Mühsam versucht er zu rekonstruieren, was am Abend zuvor Dramatisches geschah: Sein Overall ist blutverschmiert; dafür hat er eine Sporttasche voller Geld bei sich, das dem Nachbarn der Frau gehört. Besessen von der Vorstellung, sein älterer Bruder Ben habe sich soeben im süddeutschen Heimatort das Leben genommen, setzt er die Einzelteile seiner Erinnerungen zusammen, ohne den Schlüssel für das Geschehen zu finden. Als der Nachbar auftaucht, flieht Tom, irrt in der Stadt umher, folgt einer anderen Frau nach Hause, klaut ein Auto und kehrt schließlich zu San, seiner Freundin, zurück.

Im zweiten Teil begegnen wir einem weiteren Jungen auf der Flucht. Veit, ein Kleinkrimineller, dem Jugendhaft droht, begleitet Bubi, einen älteren Mann, in dessen Wohnblock und wird dort in ein zunächst undurchsichtiges Familiengestrüpp verwickelt. Bubi lebt mit seiner Tochter - ebenjener San aus dem ersten Teil - zusammen, von deren Freund der Vater aber nichts erfahren darf. Des Nachts kippt ein Müllwagen vor dem gegenüberliegenden Haus seine stinkende Ladung aus, Schüsse fallen, es scheinen Rechnungen beglichen zu werden, deren Anlaß im dunkeln bleibt. Von einem pathologischen Beziehungswahn befallen, versucht Veit zwischen den unterschiedlichsten Details - geheimnisvoll angeordneten Ästen im Wald, einem zufällig beobachteten Diebstahl, den Mülltonnen vor dem Haus - Zusammenhänge herzustellen. Der letzte Teil schließlich beschreibt einen Tag im Leben einer Alkoholikerin, Mitte Vierzig, die vergeblich versucht, ihr Leben in den Griff zu kriegen und endlich einen Antrag auf dem Arbeitsamt abzugeben, überzeugt davon, daß sich dann schlagartig alles zum Besten wenden würde.

Mit großer Virtuosität, vergleichbar den raffinierten Drehbüchern des kanadischen Filmregisseurs Atom Egoyan, hat Claudia Klischat ihre Geschichte komponiert, deren drei Teile auf vertrackte Weise miteinander verknüpft sind. Genau wie Tom und Veit bemüht sich der Leser, die Details in einen schlüssigen Zusammenhang zu bringen. Langsam wird deutlich, daß der zweite und dritte Teil die Vorgeschichte des ersten erzählen: Veit begegnet dem Paar San und Tom und deren Familien etwa ein Jahr vor den Ereignissen zu Beginn; der Gang zum Arbeitsamt findet am Tag vor dem fatalen Abend statt, die Alkoholikerin ist jene Frau, neben der Tom aufwacht.

Das Buch gleicht einem Triptychon, einem dreiteiligen Altarbild. Im Zentrum steht die Darstellung einer heillos zerrütteten Familienkonstellation, geprägt durch patriarchale Gewalt und ein inzestuöses Verhältnis, das sich bei Tom als Schizophrenie niedergeschlagen hat: Er ist zugleich er selbst und sein - in Wahrheit jüngerer - Bruder Ben, dessen imaginierter Tod die Folge des Identitätsverlusts ist. Die "überschaubaren" Verhältnisse der heimischen Wohnsiedlung sind in Wahrheit eine Wahnwelt, die so ausgerechnet von dem Paranoiker entziffert werden kann. Die kreisförmige, in sich selbst zurücklaufende Struktur der Erzählung bildet die Ausweglosigkeit noch einmal ab: das Leben als unentwirrbares Knäuel von Schuld und Verhängnis, das sich buchstäblich stetig fortzeugt: "Hier hat man sich gegenseitig auf dem Gewissen", schreibt San in ihrem Abschiedsbrief an Veit, der schließlich als einziger eine Art Läuterung durchläuft. Wenn der soziale Brennpunkt die Hölle ist, kann der Knast zum Fegefeuer werden.

Ein solcher Versuch, an die Darstellungen zerfallenden Bewußtseins in der klassischen Moderne anzuknüpfen, an Musils Moosbrugger, an Joyce, an Döblin und Canetti, wagt sich fraglos auf sehr dünnes Eis - nämlich auf den zerbrechlichen Untergrund der Sprache. Und leider trägt er die höchst ambitionierte Konstruktion nicht immer. Die kurzatmige Dauerparataxe des schizoiden Selbstgesprächs Toms ermüdet nicht nur, sie wirkt auch in ihrer cartesianischen Grundlegung jedes kleinsten Wirklichkeitspartikels nicht sehr überzeugend: "Und das Bellen, es wird immer lauter, und jetzt sehe ich den Hund, und der Hund springt in den Schlafraum, und nun springt der Hund auf mich zu, und ich kenne den Hund" - so geht es über Seiten. Ähnliches gilt für den vorhersehbaren Selbstbetrug der Suchtkranken im Schlußteil. Nicht jede Sehnsucht mag sprachförmig sein. Andererseits wirken die Reflexionen oft zu gescheit für die soziale Herkunft ihrer Figuren: "Es fehlt mir die Zeit. Und ohne Zeit gibt es keine Erinnerung, und ohne Erinnerung gibt es kein Wort, und ohne Wort gibt es nichts, und die Worte fallen ins Leere", so Tom.

Doch manches Mal entwickelt der Sprachstrom eine Sogkraft, der man sich kaum entziehen kann. Etwa wenn Tom die traumatische Szene seiner Verstoßung durchlebt, deren Details - der Fluß, die Fische, die blutende Wunde des Bruders - den Roman leitmotivisch durchziehen. Großartig gelingen Claudia Klischat auch die Schilderungen der fast mystischen Augenblicke der Erlösung, in denen die Menschen, die in allem Elend stets ihre Würde bewahren, sich dem Klammergriff des Schicksals entwinden - im Sex, im Rausch, in der Musik. Pate stehen hier die innerweltlichen Epiphanien von James Joyce oder die "moments of being" bei Virginia Woolf. Dem Buch ist eine Stelle aus "Mrs. Dalloway" als Motto vorangestellt.

In solchen Passagen ist spürbar, welch eine schriftstellerische Begabung hier am Werk ist - auch wenn Claudia Klischat sich die Latte für ihren ersten Roman sehr hoch, unerreichbar hoch gelegt hat. Die Zielstrebigkeit und Kraft dieses Entwurfs läßt aber über die Schwächen insgesamt hinwegsehen. Hier wartet eine junge Autorin mit ihrem eigenen Ton und ihrem eigenen Thema auf, wie man es nur selten erlebt. Ihre kühne Fahrt in die tief düstere, nur von jähen Blitzlichtern der Hoffnung durchzuckte Hölle nimmt den Leser gefangen und gibt ihn nur verändert wieder frei.

Claudia Klischat: "Tiefausläufer". Erzählungen. Edition Solitude, Stuttgart 2004. 96 S., geb., 15,- [Euro].

Claudia Klischat: "Morgen. Später Abend". Roman. C. H. Beck Verlag, München 2005. 288 S., geb., 18,90 [Euro].

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