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Produktdetails
  • Verlag: Edition Solitude
  • Seitenzahl: 151
  • Deutsch
  • Abmessung: 220mm
  • Gewicht: 305g
  • ISBN-13: 9783929085839
  • ISBN-10: 3929085836
  • Artikelnr.: 12010443
Autorenporträt
Terézia Mora, 1971 in Sopron/Ungarn, geboren, lebt seit 1990 in Berlin und ist Übersetzerin aus dem Ungarischen. Für ihre Erzählungen erhielt sie 1997 den Open-Mike-Literaturpreis, 1999 den Ingeborg-Bachmann-Preis und 2000 den Adelbert-von-Chamisso-Förderpreis. Für ihr bisheriges literarisches Werk sowie für ihre vielfältigen Aktivitäten als Übersetzerin und Vermittlerin zwischen dem deutschsprachigen und dem ungarischen Kulturraum wurde Terézia Mora 2010 mit dem Chamisso-Preis geehrt.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.12.2004

Die Zeit ist auf unserer Seite
Belgrader Winter aus der Froschperspektive: Péter Zilahy schreibt am Wörterbuch der Revolution

Vor dem großen Einschnitt, als das Jahrtausend zu Ende geht, führt der ungarische Schriftsteller Péter Zilahy, neunundzwanzig Jahre jung, ein Tagebuch für das Magazin "Beszélo". Am 5. Dezember 1999 notiert er: "Wir werden 120 Jahre leben, sagt das Fernsehen, so die neuesten Forschungen. Dank der Medizin und der modernen Genetik. Sie zeigen auch das Bild eines Hundertzwanzigjährigen, das könnte jeder von uns sein." Der gewohnte Ablauf von Weltzeit und Lebenszeit ist aus den Fugen geraten, und das Fernsehen macht die Sache nicht besser: "In den Nachrichten erscheint die Zeit begründet, von überall her wird die frischeste Zeit geliefert. Gerade aus Havanna gekommen wie die reifen Orangen. Als würden die Sachen nur passieren, damit das Orakel sie vorlesen kann. Glaubst du an Nachrichten?"

Zilahy hat, wie viele Osteuropäer, deren Volljährigkeit ungefähr mit dem Umbruch von 1989 zusammenfiel, den Fernsehsessel verlassen, um weit zu reisen - seine Textsammlung "Drei", im vergangenen Jahr in der schönen Edition Solitude erschienen, umfaßt neben Tagebucheinträgen und Gedichten auch Notizen beispielsweise aus China oder New York. Sie berichten von langen Spaziergängen durch fremde Stadtviertel, geben wieder, was der Reisende unterwegs aufschnappt, halten Augenblickseindrücke fest und sprechen - manchmal beinahe kokett - von Verwirrung und Überforderung angesichts des Gesehenen. Die Umkehrung der Fernsehperspektive, die Reise an die Orte, von denen die Nachrichten stammen, die "das Orakel" vorliest, führt jedenfalls zu keinem geschlossenen Weltbild, im Gegenteil: Was auf dem Bildschirm klar und geordnet erscheint, erweist sich im Erleben als chaotisch und vielfältig gebrochen.

Das ist nicht sonderlich überraschend, wird aber von Zilahy in seinem ersten, vor "Drei" entstandenen, erst jetzt auf deutsch erschienenen Band "Die letzte Fenstergiraffe" mit nachdrücklicher Eleganz gleichzeitig vorgeführt wie reflektiert - und das angesichts jener Belgrader Proteste um die Jahreswende 1996/97, als Demonstranten wochenlang gegen Milosevic auf die Straße gingen.

"Die Nachrichten live zu erleben ist ein alter Traum von mir", heißt es zu Beginn, und Zilahy, der sich im revolutionären Chaos bald Auge in Auge mit martialischen Polizisten, phantasievollen Demonstranten und sympathisierenden Augenzeugen wiederfindet, sammelt beharrlich Eindrücke aus der Froschperspektive: Da sind revolutionäre Techniken (wegen der vielen Würfe kunstvoll zum Faulen gebrachter Eier spricht man in Belgrad bald von der "gelben Revolution"), Diskussionen, Partys und ein weitgefächertes Ideenfeld, für das sehr unterschiedliche Menschen auf die Straße gehen: "Sie demonstrieren, weil sie etwas anderes wollen. Alle wollen etwas anderes. Freie Wahlen, Pressefreiheit, Macht, Frauen, Groß-Serbien. Niemand will Milosevic."

Und alle finden sich bald mit etwas Glück gleichzeitig diesseits und jenseits der Kameras wieder: "In Belgrad hat jeder eine gleich große Chance, auf den Bildschirm zu kommen. Die Nachrichten laufen live, jede auf einem extra Kanal. Am Abschlußtag der Demonstrationen entrollen die Studenten der Kunsthochschule Leinenrollen von 20 Metern Länge vor den Fenstern des Dekanats, auf den Leinwänden steht in schwarzen Lettern: to be continued. Fortsetzung folgt."

Für diesen Strauß an Eindrücken findet Zilahy eine glückliche Form, indem er sich, wie er am Anfang berichtet, an einem 1971 in Budapest erschienenen Kinderlexikon namens "Ablak-Zsiráf" orientiert und seine Notizen grob alphabetisch strukturiert. Das öffnet allen Assoziationen und Abschweifungen Tür und Tor, solange sie durch den gleichen Anfangsbuchstaben zusammengehalten werden. Natürlich verlangt das der Übersetzerin eine Menge ab, und es ist bewundernswert, wie Terézia Mora diesen Zusammenhang noch im Deutschen sichtbar machen kann: Wo im Ungarischen etwa die Anfangsbuchstaben der Worte "Ablak" und "Zsiráf", "Fenster" und "Giraffe", das ganze Alphabet umfassen, schnurrt dieser Raum in der deutschen Übersetzung notgedrungen auf den kleinsten Abstand zwischen zwei Buchstaben zusammen.

Zilahys Hingabe an die lexikalische Form - auch in "Drei" findet sich ein Bericht über den Diebstahl eines Lexikons, den der Autor als Zwölfjähriger begangen haben will - und der kreative Umgang mit lautlicher Verwandtschaft erlaubt es, Geschichte und Gegenwart, Welt, Balkan und das unmittelbare Umfeld, Gehörtes und Erlebtes auf das schönste miteinander zu verweben. Hier hat das Buch seine stärksten Momente. Zilahy berichtet etwa von dem öffentlichen Zuspruch von Terry Gilliam - ehemals Mitglied von "Monty Python's Flying Circus", der die Studenten auffordert, durchzuhalten "bis zum Äußersten", da doch "die Augen der Welt auf Euch gerichtet" seien - und fügt hinzu: "Ich werde ganz sentimental, 56er-Feeling. Alle sind mit uns, nur das Entsatzheer verspätet sich. 1456 kamen 60 000 deutsche und polnische Kreuzritter einige Wochen nach der Schlacht in Weißenburg an."

Wo er kann, setzt Zilahy das Erlebte in Bezug zur jüngeren Geschichte östlich des Eisernen Vorhangs, ohne sich je auf eine knappe Kausalität festzulegen (solche Konstruktionen veralbert er lieber); Historie wird ihm zur Folie, vor der sich das unmittelbar Erlebte als Einzelfall abhebt. Und so ist sein Buch, allen Arabesken zum Trotz, im Kern ein großes Lied auf einen friedlichen Revolutionswinter:

"Der Offizier ruft uns unter Tränen auf, uns aufzulösen, er sagt es halb ins Megaphon, halb in sein Walkitalki, bitte, lösen Sie sich auf. Lösen Sie sich doch auf, sagt eine Oma um die sechzig, auf ihrem Papierhut die Aufschrift ,Ich bin ein ahnungsloser Passant.' Wir entfernen uns nicht mehr. Wir haben Rückenwind, den Polizisten scheint die Sonne in die Augen. Die Zeit ist auf unserer Seite."

Péter Zilahy: "Die letzte Fenstergiraffe". Ein Revolutions-Alphabet. Aus dem Ungarischen übersetzt von Terézia Mora. Verlag Eichborn Berlin, Frankfurt am Main 2004. 180 S., geb., 22,90 [Euro].

Péter Zilahy: "Drei". Erzählungen, Tagebücher, Gedichte. Aus dem Ungarischen übersetzt von Agnes Relle, Terézia Mora, Ilma Rakusa, Gerhard Falkner, Joachim Helfer und Christian Polzin. Edition Solitude, Stuttgart 2003. 156 S., geb., 15,- [Euro].

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