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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.10.2000

Verlorene Jahre
Der Schriftsteller Josef Burg erzählt ein ostjüdisches Leben

Es hatte nur ein normales Interview werden sollen, mit einem der letzten jiddisch schreibenden Autoren Osteuropas. Doch Michael Martens bleibt eine ganze Woche lang in Czernowitz und läßt den 1912 geborenen Josef Burg von seinem Leben erzählen. Ein Leben, das zugleich eine Chronik der Ostjuden im zwanzigsten Jahrhundert ist. Das Ergebnis dieser Gespräche ist der schmale Band "Irrfahrten", doch bezeichnenderweise wird gerade diese Zeit der Irrfahrten weitgehend ausgespart. Zwanzig Jahre lang konnte und wollte Joseph Burg nach dem durch die Nazis erzwungenen Exil nicht in seine Heimat zurückkehren und irrte in den abgelegensten Gegenden des sowjetischen Reiches umher: "Schöne Jahre und fürchterlich schlechte Jahre. Ich will mich an diese Zeit nicht erinnern." So erfährt der Leser darüber nur Weniges und Unzusammenhängendes. Daß auch diese Zeit keineswegs uninteressant gewesen sein kann, zeigen Geschichten wie die von dem evakuierten Dorf mit dem poetischen Namen Rosendamm, in dem Josef Burg für kurze Zeit zum Dorfgott avanciert, oder die des Deutschlehrers von Achum Babajew. Dieser lehrt seine Schüler nicht Deutsch, sondern Jiddisch, ohne daß die usbekischen Lehrer dies bemerkten.

Die Wanderjahre gehören nicht zur Erinnerungsarbeit, die sich Josef Burg vorgenommen hat. Was dazugehört, sind die heimische Gegend der Bukowina mit Czernowitz als ihrer Hauptstadt - und die jiddische Sprache. Sie ist für die Definition eines jüdischen Schriftstellers unerläßlich: "Es gibt keine jüdische Literatur in einer anderen Sprache", meint Josef Burg. Diese Beharrlichkeit macht ihn zu einer literarischen Ausnahme, denn er ist der letzte Autor, in dessen Texten das Jiddische noch überlebt hat; was nach ihm kommt, weiß er nicht, kein Nachfolger ist in Sicht, aber Josef Burg hofft noch immer auf ein Wunder. Bis dahin aber arbeitet der mittlerweile fast Neunzigjährige unermüdlich daran, die Zeit in der Sowjetdiktatur, die ihm für das Schreiben verlorengegangen ist, nachzuholen. Die literarische Anerkennung, die ihm mittlerweile zuteil wird, betrachtet er mit großer Freude und einigem Stolz.

Das Buch "Irrfahrten" bringt uns diesen Zeitzeugen nahe, indem es ihn einfach erzählen läßt, von wenigen behutsamen Fragen geleitet. Daß sich einige Passagen aus dem Interview in den einrahmenden Berichten wiederholen, kann man als Zeichen mangelnder Sorgfalt vernachlässigen. Bedauerlicher ist, daß Josef Burg vor allem als Zeitzeuge interessiert. Seine Schriftstellerei taucht nur am Rand auf, von seinen Werken erfährt man nur wenig, obwohl zumindest eines davon, "Ein verspätetes Echo", in einer zweisprachigen Ausgabe auf deutsch und jiddisch vorliegt. Vielleicht trägt "Irrfahrten" ja dazu bei, daß daraus noch mehr werden. (Josef Burg/Michael Martens: "Irrfahrten. Ein ostjüdisches Leben". Hans Boldt Verlag, Winsen/Luhe, Weimar 2000. 60 S., geb., 22,50 DM.)

sdm

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

"Dieses Buch hat den Rezensenten mit dem Kürzel "sdm." berührt. Was ein Inteview werden sollte, schreibt er in seiner Kurzkritik des Bandes, wuchs sich zu einem langen Gespräch aus und biete Einblick in das bewegte Leben eines der letzten Schriftsteller, die noch in Jiddisch schreiben. Und zugleich wird daraus "eine Chronik der Ostjuden im zwanzigsten Jahrhundert". Der Rezensent lobt die "behutsamen Fragen" von Michael Martens, bemängelt aber als einzigen Kritikpunkt, dass Burg von ihm nur als Zeitzeuge, nicht als Schriftsteller befragt wurde, und dies obwohl ein Buch von ihm (nämlich "Ein verspätetes Echo" bei Kirchheim) in deutsch vorliegt.

© Perlentaucher Medien GmbH"